Evo Morales war einer der bislang erfolgreichsten linken Staatschefs Lateinamerikas. Bolivien fasziniert mit seiner geographischen, politischen, wirtschaftlichen und ethnischen Struktur. Vor Morales war das Land lange Zeit von einer Allianz aus Drogenbaronen, Militärs, Ölhändlern und Casino-Betreibern ausgebeutet worden. Ein Artikel des früheren Sprechers des Auswärtigen Amtes und Botschafters a.D. Horst Rudolf.
Immerhin, selten hat sich in dem Andenland, das sich über mehr Höhenmeter erstreckt als ganz Europa, eine – sogar demokratische – Regierung so lange gehalten, wie die unter Evo Morales. Sogar bewundernswert, denn das Land hält seit mehr als anderthalb Jahrhunderten den „Weltrekord“ an Staatsstreichen bzw. Regierungswechseln.
Doch nach dem überraschend schnellen Abgang des langjährigen „Indio-Präsidenten“ fühlt man sich fast wie in früheren Zeiten: Da regierte ein Pinochet-ähnlicher deutschstämmiger General Hugo Banzer; er und seine Nachfolger gewährten dem „Schlächter von Lyon“, Altmann/Barbie, Asyl und Beraterstatus und erst in den 80er Jahren folgten auf drogennahe Generäle erste „zivilisierte“ bzw. demokratischere Präsidenten.
Evo Morales: Erfolgreicher als Castro oder Maduro
Evo Morales war der erste „ethnische“ Präsident, der derart lange regierte – und sogar wirtschaftlich erfolgreicher als ähnliche anti-kapitalistische Regenten wie Fidel Castro, Chavez oder Maduro. Doch ist Bolivien eben nicht nur ein „Andenland“ mit einer dominierenden Indio-Mehrheit, die auf Quechua oder Aymara zurückgehen (deren abgehobene diktatorische Eliten als „Inka“ bekannt wurden), sondern besteht aus weiten Regionen, die von diversen ethnischen und sozialen Gruppen bewohnt sind.
Die Menschen dieser Regionen – allen voran des nach Brasilien und Paraguay offenen Tieflands – „ticken“ völlig anders als die Hochland-Einwohner, die sich aus einigen stolzen Inka-Nachfolgern und vielen ausgebeuteten Indio-Bergarbeitern entwickelt haben. Beide Gruppen sind wiederum durchsetzt durch viel „hispanisches Blut“ aus Kolonialzeiten.
Bolivien: Fast ein Vielvölkerstaat
Damit ist Bolivien fast ein Vielvölkerstaat; zwischen den Anden und dem Tiefland zieht sich noch die Region der „Yungas“ an den Kordilleren entlang, wo der beste Coca-Tee der Welt wächst und das daraus hergestellte Kokain ebenso Militärs wie Diktatoren, Polizei und Politiker über ein Jahrhundert alimentierte. Ein sarkastischer „Höhepunkt“ war 1982 erreicht, als der Erziehungsminister Ariel Coca hieß – und nur „Ariel Cocaina“ genannt wurde.
Die drei Landesteile waren immer nur von der Regierungshauptstadt (offiziell war der Bischofssitz Sucre die Hauptstadt) über ein bis zwei Straßen zu erreichen – nach einem Bergrutsch ging dann wochen- oder monatelang gar nichts mehr. Zu den lebenslustigen, geschäftstüchtigen und sogar von Ölquellen gesegneten „Cruzenios“ im Tiefland gesellten sich dann auch Drogenbarone, denen La Paz zu „heiß“ war – je nachdem, wer dort regierte.
Der Fluch des Silbers
Kein Wunder, dass in diesen Landesteilen schon seit Jahrzehnten „Bolsario-ähnliches“ Denken herrschte, zumal in Santa Cruz Drogenhändler residierten, deren private Luftwaffe (F-100 Super-Sabre in den 80ern) der Regierungs-Airforce weit überlegen war. Und noch weniger wundert es, dass diese riesige Region des Tieflandes, die drei Viertel Boliviens ausmacht (und auch mit ihren reichen Viehzüchtern wie in Argentinien weite Landstriche beherrscht) immer wieder von La Paz und den Indios unabhängig werden wollte.
Eine gewisse Logik spricht tatsächlich dafür. Denn für die Dominanz der Andenbewohner über das – heute viel reichere – Tiefland gibt es eine Begründung, die eher an einen Fluch erinnert und mit einem Verrat beginnt: 1545 (so die aktuelle Berechnung) fand ein Inka/Indio einen Berg und entdeckte blitzendes Silber, neben dem später die „Kaiserstadt“ Potosí errichtet und bekannt wurde.
Dann – verraten an die spanischen Eroberer – wurde die neue Stadt am Fuße des Silberberges „Cierro Rico“, Potosí – und mit ihr ganz Bolivien – sehr schnell zum Zentrum der „Neuen Welt“. Poetisch, aber treffend charakterisiert es der „Spiegel“ 1993:
„Potosí. in ihr wird ein Lehrstück gespielt – von Kolonialismus, Imperialismus und Kapitalismus, vom Elend eines Kontinents, zu sehr vereinfacht, als daß man es glaubhaft auf eine Bühne bringen könnte. Die Handlung beschreibt den Aufstieg von Potosí zur reichsten Stadt der Erde und den Fall zu einer der erbärmlichsten Siedlungen der Welt.“ Schlimmer noch: „Was ein Student in La Paz sagte, war nur eine gelinde Übertreibung: “Wir haben euch die Kartoffel, die Syphilis und den Kapitalismus geschenkt.”
Aus historischer Sicht betrachtet: stimmt!
Die Allianz der Drogenbarone, Militärs, Ölhändler und Casino-Betreiber
nach etwa 300 Jahren „ausgesaugt“ war und die Minenherren (beginnend mit dem kolonialen Kaiser Karl dem V.) das Leben von ca. 8 Millionen Indios/Bergarbeitern verschlissen hatten, begann der Abstieg des Landes – bis heute.
Dazwischen – lange vor Morales’ Regierungszeit – funktionierte in vielen Varianten die unheilige Allianz Hochland-Tiefland der Viehzüchter, Drogenbarone, Militärs, Ölhändler und Casino-Betreiber, denn das Geld floss in beide Richtungen und keine Krähe hackte der anderen ein Auge aus.
Doch Evo Morales war der erste, der Ernst machte, die Macht im Land – und die Kontrolle über die vielfältigen Ressourcen – wieder auf La Paz zu konzentrieren, im Prinzip mit ähnlichen – sogar erfolgreicheren – Programmen als Chavez in Venezuela.
Doch die große Zahl der damit in die zweite Reihe verdrängter ehemaliger Herrschaftsgruppen scheint es nun – mit fast greifbarer Hilfe aus den USA – geschafft zu haben, „brasilianische Verhältnisse“ herzustellen. Verwerflichkeit, Doppelmoral und persönliche Interessen kannte das Land immer zu Genüge – ob Inka, Pizarro, die Generäle oder Drogenbarone.
Bolivianische Präsidenten leben gefährlich
Evo Morales tat gut daran, das Land schnell zu verlassen, denn in Boliviens Geschichte wurden Präsidenten nicht selten schneller aufgeknüpft, als sie den Flughafen erreichen konnten. Sogar Che Guevara hatte kaum eine kleine Revolutionsarmee in Bolivien aufgebaut, da wurde er auch schon verraten und ermordet. Und – kein Wunder? – federführend war nach heutigen Erkenntnissen ein Exil-Kubaner der CIA.
Ist Bolivien also „kein gutes Land, um Gutes zu tun“? Auch wenn Pablo Stefanoni in einem Artikel für die Friedrich-Ebert-Stiftung 2007, nach dem Amtsantritt Evo Morales’, schrieb:
„Heute erleben wir eine überraschende Renaissance des »Indio«-Begriffs als Bindeglied einer breiten nationalbewussten Unterschichtsidentität, die aus verschiedenen historischen Lernprozessen heraus entstanden ist – dem Widerstand gegen die Kolonialherrschaft, der national-revolutionären Erfahrung und der noch frischen Erinnerung an den Neoliberalismus.“
Dieser kleine Anriss bolivianischer Gegebenheiten und Hintergründe unterstreicht, dass Bolivien in seiner geographischen, politischen, wirtschaftlichen und ethnischen Struktur – und seinen Problemen, aber auch seiner Faszination – selbst mit „geheimnisumwobenen“ oder „verschlossenen“ Ländern wie Myanmar/Birma oder intern zerrissenen Staaten wie Mexico oder dem Libanon vergleichbar ist.
Der Umgang mit dem Lithium
Noch ein abschließendes Wort und eine Frage an die Kritiker des Lithium-Salzsee-Projektes „Uyuni“: Wenn die Drogenbarone, Ölproduzenten, Viehzüchter – also das Großkapital des Landes – in den anderen Regionen sitzen, wie hätte Evo Morales denn den verarmten Teil des Landes und die dort lebenden Menschen finanziell voranbringen oder zumindest stabilisieren können?
Ohne die Nutzung der verbleibenden natürlichen Ressourcen in den Höhen der Anden, allen voran Uyuni, hätte er keine Chance gehabt. Fast kann man wetten, dass die neuen „Herrscher“ das Lithium viel intensiver und unsozialer „verscherbeln“ werden, als Evo Morales es plante.
Informationen zum Autor:
Horst Rudolf, Jahrgang 1948, ist Diplom-Volkswirt (Frankfurt/Genf). 1979 trat er in den diplomatischen Dienst der Bundesrepublik Deutschland ein, wo er unterschiedliche Funktionen in der Bonner Zentrale und bei Auslandseinsätzen in Südamerika (Bolivien), Afrika und Südosteuropa wahrnahm. Von 1998 bis 2001 fungierte er als Ständiger Vertreter des Botschafters an der diplomatischen Vertretung in Yangon, Myanmar. Aktuell arbeitet Rudolf als regionaler Analyst und Wirtschaftsberater, überwiegend von Bangkok aus.
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