Ein Erfolg und zugleich skandalös: So versteht Helena Steinhaus vom Verein „Sanktionsfrei“ das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von vergangener Woche. Die Karlsruher Richter sind etwa der Auffassung, dass Hartz-IV-Empfängern die Leistung nach wie vor um 30 Prozent gekürzt werden darf (die NachDenkSeiten berichteten in diesem Artikel und in diesem Artikel). Steinhaus fordert im NDS-Interview ein neues Sozialstaatsmodell, das sich darauf konzentriert, Menschen tatsächlich zu unterstützen. Von Marcus Klöckner.
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Frau Steinhaus, Sie setzen sich mit Ihrem Verein für die Abschaffung der Sanktionen, die bei Hartz-IV-Bezug möglich sind, ein. Nun hat das Bundesverfassungsgericht entschieden: Eine Kürzung des Existenzminimums um 30 Prozent sei rechtens. Das kann kein Grund zum Jubel sein, oder?
Nein, dass immer noch zu 30 Prozent gekürzt werden darf, ist leider immer noch 30 Prozent zu viel! Allerdings muss ich ganz klar sagen, dass das Urteil dennoch ein Erfolg ist! Es ist eine erhebliche Verbesserung im Vergleich zu vorher. Mir ist ein Stein vom Herzen gefallen, als ich die Verkündung gehört habe!
Was ändert sich jetzt?
Bisher konnten 60 Prozent und Totalsanktionen verhängt und die Miete gestrichen werden. Dadurch sind Menschen sogar in die Obdachlosigkeit geraten. Immerhin diese extreme Härte ist jetzt als verfassungswidrig erklärt worden. Damit sind wir schon einen Riesenschritt weitergekommen. Auch müssen Sanktionen bis zu 30 Prozent genauer begründet werden. Wenn ich es recht verstehe, ist also der Ermessensspielraum der Sachbearbeiter erheblich eingeschränkt
Was bedeutet das für die Harz-IV-Bezieher?
Das Urteil gilt ab sofort. Alle Sanktionen, bei denen noch ein Widerspruch oder eine Klage läuft oder noch eingelegt werden kann, werden auf 30 Prozent abgesenkt. Der Rest wird aufgehoben, man weiß nur nicht, wann. Anzunehmen ist aber, dass das zeitnah geschieht. Alle Sanktionen über 30 Prozent, bei denen die Widerspruchsfrist schon abgelaufen ist und die über den 6. November hinaus gehen, sollten per Überprüfungsantrag überprüft werden. Es lohnt sich auf jeden Fall, jetzt sofort aktiv zu werden und einen Anwalt aufzusuchen.
Also ein Teilerfolg. Aber weiterhin dürfen Menschen 30 Prozent von ihrem Existenzminimum abgezogen werden. Wie denken Sie darüber?
Ja, ein Teilerfolg. Die Möglichkeit der 30-Prozent-Sanktion ist weiterhin ein Skandal und die Gefahr besteht, dass sich jetzt darauf ausgeruht wird. Deswegen können wir uns jetzt nicht ausruhen, sondern machen mindestens so leidenschaftlich weiter wie bisher!
Durch dieses Urteil wird doch bereits bestehende Armut noch weiter verschärft – höchstrichterlich abgesegnet, oder?
Leider ja. Jede Kürzung des Arbeitslosengeldes ist eine existentielle Bedrohung und hat einen repressiven und entmündigenden Charakter. Leider hat das höchste Gericht mit dem Urteil auch verdeutlicht, dass unsere Gesellschaft auf derartige Repressalien zurückgreifen darf und soll, um Mitwirkung notfalls zu erzwingen. Das Urteil wurde bereits von Seiten der Jobcenter und auch der CDU als Erfolg verbucht, da es ja die Sanktionen an sich rechtfertigt. Problematisch ist auch, dass das Urteil nur eine Übergangslösung ist und der Gesetzgeber jetzt aufgefordert ist, nachzubessern. Es besteht die Gefahr, dass diese Nachbesserung schlechter ausfallen wird als die jetzige Übergangsregelung. Denn im Urteil ist auch explizit genannt, dass Sanktionen zum Beispiel über längere Zeiträume ausgesprochen werden dürfen oder Leistungen in Sachform ausgezahlt werden könnten. Diese Befürchtung verdeutlicht mir noch mehr, dass die jetzige Übergangsregelung im Vergleich zu vorher und vielen anderen Möglichkeiten ganz gut ist.
Was ist denn nun mit all denjenigen, denen in den vergangenen Jahren mehr als 30 Prozent gekürzt wurde?
Leider können diejenigen, die in den letzten 15 Jahren von derartigen Sanktionen betroffen waren, keine Rechte im Nachhinein geltend machen. Da gibt es eine Sonderregelung im Arbeitslosenrecht. Dass es diese Sonderregelung gibt, ist ein Skandal, finde ich. Ebenso ist die Tatsache ein Skandal, dass 15 Jahre lang unsere Verfassung mit Füßen getreten wurde! Ich finde auch, dass eine Entschuldigung mehr als fällig ist.
Haben Sie bezüglich der zurückbehaltenen Leistungen eine Forderung?
Alle Leistungen, die derzeit über 30 Prozent gekürzt sind, sollten ohne aktive Bemühungen der Betroffenen sofort ausgezahlt werden.
Warum halten Sie Sanktionen für unangebracht?
Sanktionen werden als Motivator und Strafe genutzt. Durch Strafe erreicht man aber keine Motivation oder Einsicht. Man erreicht lediglich Verängstigung, Verunsicherung, Trotz, Widerstand, Handlungsnot. Kurzum: nur negative Gefühle, die zu negativen Beziehungen und Handlungen führen. Noch dazu nimmt man den Menschen die Existenzgrundlage. Ich frage mich wirklich, mit welchem Recht sich der Gesetzgeber das rausnimmt. Sozialrecht ist ungleich Strafrecht. Aber hier erkennt man teilweise kaum einen Unterschied.
Wie würde ein aus Ihrer Sicht vernünftiges Sozialstaatsmodell aussehen?
Ein gutes Modell setzt Vertrauen voraus und stellt nicht alle unter Generalverdacht. Es schaut sich die Menschen individuell an und nimmt sich auch entsprechend Zeit für sie. Dafür braucht es gut geschultes Personal. Dieses System nimmt auch in Kauf, dass es immer Menschen geben wird, die es sich im Sozialsystem bequem machen; wir können deswegen aber nicht das ganze System nach ihnen ausrichten. Stattdessen können wir ein System schaffen, dass sich darauf konzentriert, Menschen zu unterstützen, die sich gerade in einer schwierigen Situation befinden. Das ist nur der grobe Anfang. Ich sage nicht, dass das eine einfache Sache ist. Aber klar ist, dass das jetzige System, mit seinem heftigen Stigma, dem autoritären Charakter und der Ausgrenzung, ausgedient hat.
Wie können Sie Ihre Vorschläge gegenüber denjenigen erklären, die anderer Meinung sind?
Wir sparen mit diesem System kein Geld und erzielen bei den Menschen keinen Erfolg. Auch in der Pädagogik und in der Wirtschaft geht man mit den Menschen heutzutage bestärkend um. Die Prügelstrafe wurde aus guten Gründen abgeschafft und neue Unternehmensstrukturen mit transparenten Hierarchien setzen sich immer mehr durch. Hier steht der Mensch im Mittelpunkt und wird gefragt, was er braucht, um seine Fähigkeiten optimal zur Verfügung zu stellen. Es ist evident, dass Menschen, denen Vertrauen und Handlungsspielraum zugestanden wird, erfolgreicher sind als diejenigen, die bevormundet und bestraft werden. Warum sollte das bei Arbeitslosen anders sein? Sie sind doch keine andere Spezies!
Anmerkung: Der Verein „Sanktionsfrei“ finanziert sich über Spenden. Als „Hartzbreaker“ kann man den Verein unterstützen.
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