Nach jahrelangem Versteckspiel hat das Bundesverfassungsgericht am 5. November sein Urteil zur Verfassungsmäßigkeit von Sanktionen im SGB II von sogenannten Hartz-IV-Empfängern verkündet. Über 4 Jahre hinweg hatte sich das BVerfG mit strategischen Tricks und Kniffen der Entscheidung entzogen, doch nun gab es keine Möglichkeit des Ausweichens mehr. Ein Kommentar von Lutz Hausstein.
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Die Entscheidung, nach der Sanktionen in Höhe von 60 Prozent des Regelbetrages – und erst recht Vollsanktionen von 100 Prozent – nicht mit der Verfassung vereinbar sind, ist ein wohlverdiente Backpfeife für all die Politiker, Wirtschaftsvertreter und Journalisten, die seit 15 Jahren permanent alle sachlichen Gegenargumente ignoriert haben und eine angebliche Recht- und Verfassungsmäßigkeit dieser menschenrechtswidrigen Sanktionen zu betonen nicht müde wurden. Dass dieselben Politiker sogleich wieder neue sprachliche Verrenkungen zelebrierten, nach denen man das Urteil begrüße und ja schon immer ein bisschen dagegen war, ist daher bezeichnend. Dies sei hier aber nur als Randnotiz angemerkt.
Für die Lage der Betroffenen ist das Urteil zweifellos eine Verbesserung – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Denn immer noch laviert des BVerfG mit seiner Entscheidung zwischen der recht eindeutigen Vorgabe des Grundgesetzes und den Interessen der politischen Parteien. Ja, mehr noch: Es führt in seinen Begründungen innerhalb des Urteils zu seiner konkreten Anwendung die im selben Urteil vorangestellte Präambel ad absurdum. Den Fokus möchte ich hierbei auf die folgenden beiden Sätze richten:
„Gesichert werden muss einheitlich die physische und soziokulturelle Existenz. Die den Anspruch fundierende Menschenwürde steht allen zu und geht selbst durch vermeintlich „unwürdiges“ Verhalten nicht verloren.“
Inhaltlich Gleiches hatte auch schon das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 9. Februar 2010 (!) festgestellt, als es unter seinem damaligen Vorsitzenden Hans-Jürgen Papier das „menschenwürdige Existenzminimum“ als „unverfügbar“ bezeichnete. Zum selben Ergebnis kam ich auch in meinen Befassungen zum Thema Sanktionen im November 2012 sowie im Januar 2019, mit jeweils unterschiedlichen Argumentationen.
Wie nun allerdings das BVerfG einerseits in den vorangesetzten Leitsätzen feststellen kann, dass die Menschenwürde selbst durch vermeintlich „unwürdiges“ Verhalten nicht verlorengehen kann, ja „selbst denen nicht abgesprochen werden [kann], denen schwerste Verfehlungen vorzuwerfen sind“ (Rn. 120), um anschließend dennoch eine Kürzung des die Menschenwürde definierenden Existenzminimums um 30 Prozent als zulässig zu erklären, lässt auch mich ratlos zurück. Man schließt etwas per Definition aus, um es anschließend dennoch explizit zuzulassen. Ist das diese viel beschriebene Quadratur des Kreises, deren Formel das Bundesverfassungsgericht nun mit seinem Urteil entdeckt hat?
Dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteilstext diesen unauflösbaren Widerspruch mithilfe eines „Nachranggrundsatzes“, welcher auf die Mitwirkungspflichten der Leistungsberechtigten verweist, nicht zu heilen vermag, sollte bei einer Bewertung nicht unberücksichtigt gelassen werden. Wie das BVerfG im Urteil ausführt, verletzen die Leistungsberechtigten …
„ihre Pflichten, wenn sie sich trotz Rechtsfolgenbelehrung nicht an die Eingliederungsvereinbarung halten, wenn sie sich weigern, eine zumutbare Arbeit, Ausbildung, Arbeitsgelegenheit oder ein gefördertes Arbeitsverhältnis aufzunehmen, fortzuführen oder deren Anbahnung durch ihr Verhalten verhindern oder wenn sie eine zumutbare Maßnahme zur Eingliederung in Arbeit nicht antreten, abbrechen oder Anlass für den Abbruch gegeben haben.“
Wenn all diese aufgeführten Mitwirkungspflichten also trotz der vorangestellten Leitsätze Sanktionen rechtfertigen, mithin in dieser Logik also nicht unter „vermeintlich „unwürdiges“ Verhalten“ fallen, sondern offensichtlich etwas noch Verwerflicheres als „unwürdiges Verhalten“ darstellen, wäre eine kleine Liste, ausgefertigt vom Bundesverfassungsgericht, schon einmal interessant, was dieses denn als unwürdiges Verhalten in diesem Kontext definieren würde. Sämtliche Versuche, die ich unternommen habe, um dementsprechend geartete Fälle von unwürdigem Verhalten zu konstruieren, musste ich kurz darauf wegen akuten Lachanfällen wieder abbrechen, so absurd waren diese Fiktionen. Ich möchte die Leser von diesen meinen Ideen verschonen, waren diese doch allzu kafkaesk.
Doch auch abseits dieser Unlogik gibt es noch einen Aspekt, der bei dieser Betrachtung Berücksichtigung verdient. In den Studien „Was der Mensch braucht“ habe ich mich wiederholt der Höhe des Existenzminimums gewidmet, zuletzt 2015. Neben der grundsätzlichen Kritik an der Art des Berechnungsverfahrens habe ich dort den Nachweis geführt, dass das durch den Regelbedarf definierte Existenzminimum erheblich zu niedrig „berechnet“ ist und dass der damalige Regelbedarf von 399 Euro nicht einmal vollständig das physische Existenzminimum (dort bezeichnet als „unabweisbare existenzielle Kosten“) deckt. Darf also der derzeitige Regelbedarf aufgrund des BVerG-Urteils auch weiterhin um bis zu 30 Prozent unterschritten werden, ergibt sich daraus eine massive Unterschreitung schon allein des physischen Existenzminimums, wenn man die realistischere Berechnungsmethode des Warenkorbmodells zugrunde legt.
Das (gewünschte?) Hauptergebnis dieses BVerG-Urteils dürfte vor allem aber das folgende sein: Mit dem Urteil ist auf Jahre hinaus die vollständige Abschaffung von Sanktionen über den Rechtsweg über das BVerfG verbaut worden. Ohne mich dabei allzu weit aus dem Fenster lehnen zu wollen, bin ich davon überzeugt, dass das der Hauptgrund dafür ist, dass das Urteil so gefallen ist, wie es gefallen ist.
Politiker wie Medien werden bei zukünftigen Forderungen zu einer vollständigen Abschaffung von Sanktionen auf das soeben ergangene BVerfG-Urteil verweisen und die angebliche Verfassungsmäßigkeit von 30-Prozent-Sanktionen betonen. Und mögliche neue Klagen von Betroffenen – denn nur diese haben als unmittelbar Betroffene überhaupt das Recht zur Klage, und zwar auch genau nur dann, wenn sie selbst von Sanktionen betroffen sind – werden den langwierigen Prozess durch alle sozialrechtlichen Instanzen durchlaufen müssen, mit allen rechtlichen Untiefen hierbei, um dann nach einer mehr oder minder großen Anzahl von Jahren endlich vor dem Bundesverfassungsgericht landen zu können. Mit der weiteren Verzögerung von möglicherweise mehreren Jahren, so wie im aktuellen Fall, bis das BVerfG dann endgültig ein (erneutes) Urteil fällen würde. Unter Berücksichtigung aller Vorinstanzen benötigte das aktuelle Urteil von der Verhängung der beklagten Sanktionen bis zum jetzigen Entscheid durch das BVerfG rund fünfeinhalb Jahre. Wie schwer es überhaupt ist, ein solche Grundsatzentscheidung bis vor das Bundesverfassungsgericht zu bringen, davon kann Ralph Boes ein Lied singen, der über Jahre hinweg, zuletzt mit der von ihm als „Sanktionshungern“ bezeichneten Aktion, erfolglos versucht hat, diesen Rechtsweg zu erzwingen.
Die derzeitige Rechtslage wurde mit diesem jetzigen Urteil also auf viele Jahre hinaus betoniert. Änderungen über den Weg der Sozialrechtssprechung sind demzufolge absehbar verbaut, alternativ wären sie nur über den politischen Entscheidungsprozess, also über das Parlament und den Gesetzgeber, erreichbar. Wobei mir jedoch sofort wieder das alte Sprichwort vom Sumpf und den Fröschen einfällt …
Titelbild: Frank Wagner/shutterstock.com