Nach 580 Tagen in Haft darf seit dem vergangenen 8. November der zweifache ehemalige und populärste Präsident Brasiliens aller Zeiten, Luis Inácio Lula da Silva, wieder sein Leben in Freiheit genießen. Seine Freilassung löste eine Massen-Euphorie aus, die vor dem Gefängnis in Curitiba begann (siehe Video) und am Sitz der Metallarbeitergewerkschaft des sogenannten ABC-Industriegürtels von São Paulo ihren Höhepunkt erreichte; die gleiche Gewerkschaft, in der der gelernte Metallarbeiter in den späten 1970er Jahren seine politische Karriere begann und an deren Sitz er sich im April 2018 freiwillig der Polizei auslieferte und verhaftet wurde. Von Frederico Füllgraf.
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Nach einer mehr als umstrittenen Entscheidung des damaligen Richters in erster Instanz und jetzigen Justizministers des Bolsonaro-Regimes, Sergio Moro, vom Juli 2017 war Lula zu einer neuneinhalbjährigen und im Januar 2018 in zweiter Instanz gar zu einer zwölfjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Das Strafmaß war zuletzt jedoch vom Obersten Gerichtshof (STF) auf acht Jahre und zehn Monate herabgesetzt worden.
Weltweite Sensation
Mit leicht lyrischer Erhöhung ist es nicht übertrieben zu behaupten, dass mindestens 48 Stunden lang die Augen der Welt auf den brasilianischen Ex-Präsidenten gerichtet waren. Das bestätigten die Titelseiten der internationalen Mainstream-Presse und die Glückwünsche von Politikern aus Lateinamerika, Europa und den USA, darunter die Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgho, die dem befreiten Politiker mit dem Ehrenbürger-Titel der französischen Hauptstadt auszeichnete, den Lula jedoch in Kürze persönlich entgegennehmen muss.
Der britische Guardian hob in seinem Bericht hervor, dass Lula „der Favorit für den Sieg der Präsidentschaftswahl 2018 gewesen war”, jedoch an seiner Kandidatur gehindert wurde. Le Figaro spekulierte, die Freilassung des ehemaligen Präsidenten könne „die politische Szene in Brasilien verändern, wo die Opposition doch seit dem Amtsantritt von Präsident Bolsonaro seit Januar kaum wahrnehmbar ist”. „Die Arbeiterpartei hat ihren historischen Führer nicht vergessen und braucht immer noch Lula, der Millionen von Anhängern, hauptsächlich im benachteiligten Nordosten, besitzt und den politischen Kampf eindeutig nicht aufgegeben hat”, meldete die Nachrichtenagentur AFP.
In Le Monde war zu lesen, die Entscheidung des STF „hätte nicht besser (für Lula) ausfallen können. Der frühere Präsident … hat gerade einen entscheidenden Rechtssieg errungen“, feierte die liberale französische Tageszeitung. Zum Vergleich, das deutsche Wochenmagazin Der Spiegel leistete sich am Vorabend der Freilassung eine kaum 20-zeilige Meldung mit dem zynisch anmutenden Titel „Ex-Präsident Lula vor vorübergehender Freilassung“. Die Leser sollten dem offenbar entnehmen, „der Typ wandert bald wieder in den Knast!“.
Lula als Zentrum eines Richtungskrieges innerhalb der brasilianischen Justiz
Seine harterkämpfte Freiheit verdankt Lula einer Entscheidung des STF, der am Abend des 7. November mit knappen 6:5 Stimmen eine Bestimmung außer Kraft setzte, die Verhaftungen nach zweitinstanzlichem Urteil erlaubte. „Das Plenum des Obersten Gerichtshofs ist der Ansicht, dass eine Haftstrafe, die auf einem einzigen (auch zweitinstanzlich bestätigten) strafrechtlichen Urteil beruht, erst dann vollzogen werden darf, nachdem alle Rechtsmittel ausgeschöpft wurden”, verkündete das Gericht.
Mit der Minerva-Stimme des Gerichtspräsidenten José Dias Toffoli setzte sich die “legalistische” Fraktion der Hohen Richter gegen eine zahlenmäßig ebenbürtige, stockkonservative Richtergruppe durch. Diese deckt seit mehreren Jahren die rechtswidrigen Amtshandlungen des seit 2009 vom US State Department ausgebildeten und vom Department of Justice instruierten Richters Sergio Moro und der von ihm de facto koordinierten Einsatzgruppe “Lavajato” (Autowaschanlage) zur Korruptionsbekämpfung im südbrasilianischen Curitiba.
Wie die Nachdenkseiten mehrfach berichteten, sind die hanebüchenen, gesetzwidrigen Praktiken des Richters und der Staatsanwälte von Whistleblowern aus den eigenen Reihen der Nachrichtenplattform The Intercept Brasil zugespielt worden. Obwohl “illegal erworben”, dienten die Enthüllungen über die Manipulation von Anklagegrund und Prozessführung dem Hohen Gericht als Beweise für die Aushöhlung der brasilianischen Justiz.
Sichtbar empört bezeichnete der ehemalige, notorische Gegner Lulas – der an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster promovierte Hohe Richter Gilmar Mendes – die Einsatzgruppe und Moro als „kriminelle Vereinigung” – eine mutige Zuordnung, die mehrfach in Brasilien als ein Spießumdrehen gegen die Einsatzgruppe verstanden wurde, deren Koordinator, Staatsanwalt Deltan Dallagnol, 2017 bar jeder Beweise unterstellt hatte, Lula sei der „Chef einer Gangster-Organisation”. Auf die Frage von Verteidigung und Medien nach Beweisen antwortete Dallagnol damals, „beweisen können wir‘s nicht, doch wir sind davon überzeugt”; ein Satz, der in Brasilien als Narrenspruch ins Wörterbuch des urban dictionary aufgenommen wurde.
Der 74-jährige Altpräsident hat jedoch noch weitere 6 Anklagen auszufechten, zuzüglich eines Kandidatur-Verbots bis 2035. Setzt sich die “legalistische” Fraktion um Richter Gilmar Mendes im STF durch, könnten jedoch sämtliche Anklagen gegen Lula für null und nichtig erklärt werden. Das Hohe Gericht muss in den kommenden Wochen über einen Antrag der Verteidiger des freigelassenen Politikers entscheiden, der mit penibler Dokumentation die Voreingenommenheit und Verdächtigung des ehemaligen Richters Moro nachweist. Damit erhielte die Juristenkarriere des amtierenden Justizministers Bolsonaros ihren Gnadenschuss.
Ein Grund, weshalb Moro dem STF und Lula den Kampf angesagt hat: Das von rechtsextremen Abgeordneten dominierte Parlament soll die Entscheidung des Hohen Gerichts zunichtemachen und Lula erneut verhaften lassen. Die Reaktion Moros ist mit den Umtrieben um sich beißender, vereinsamter, tollwütiger Hunde vergleichbar und bestätigt nur, was die demokratische Rechtsgemeinschaft seit Jahren behauptet. Dass Moro in der Causa Lula nicht als Richter, sondern als rechtsradikaler Aktivist agierte.
Erster feuriger Auftritt
Nachdem Lula die geplante Heirat mit seiner neuen Freundin – der in Curitiba lebenden Soziologin Rosangela “Janja” da Silva – bekanntgab und tausendfache Sprechchöre das Paar mit der Forderung anfeuerten, „Küssen, küssen!”, kam der alte Luis Inácio Lula da Silva vor mehr als 30.000 Anhängern in Fahrt.
In verschiedenen, in der Haft aufgenommenen Interviews für einheimische, aber vor allem internationale Medien, wie El País, hatte Lula mehrfach erklärt, trotz aller Niedertracht seiner Verfolger empfinde er keinen Groll und schon gar nicht “Rachelust”. Doch auf der Tribüne der Metallarbeitergewerkschaft zog er gegen das amtierende Bolsonaro-Regime mit einer aggressiv anmutenden Rede vom Leder. Er kritisierte mit scharfen Worten die parteiliche Justiz, veranschaulichte die Auswirkungen der katastrophalen Sozialpolitik des Bolsonaro-Regimes – mit 12 Millionen Arbeitslosen und mindestens 40 Millionen Menschen, die unter der Armutsgrenze vegetieren – und kündigte eine politische Reise quer durch Brasilien an, bei der er sich auf “Körperkontakt” mit dem Volk freue, was der Charismatiker immer gut, weil mit dem Herzen machte.
Man könnte bei dieser Rede meinen, Lulas radikaler Ton war sozusagen an das “hausinterne Publikum” – also an die gesamte brasilianische Linke – adressiert, deren Parteiführungen sich neben dem Redner versammelt hatten und ihm applaudierten. Doch in einer zweiten Etappe dürfte dieser Ton moderater ausfallen, wenn Lula seine politischen Gespräche mit Unternehmern und Politikern mit dem Ziel der Umarmung des politischen Zentrums wieder aufnehmen wird – jene teils orientierungslose, teils opportunistische Mitte, die die Linke dem Bolsonaro-Regime abgewinnen muss, um bei den Kommunalwahlen von 2020 und den Präsidentschaftswahlen von 2022 als Sieger hervorzugehen. Wenn man sie nur ließe.
Rechtsradikale Ängste
Offenbar von der Rede beeindruckt, rief Präsident Bolsonaro die Militärs zur Beratung. Sie sollen ihm helfen, „Lula zu bekämpfen”. Nachdem er Lula eine “Kanaille” genannt hatte – wieder der Spiegel-Titel: der “nur vorübergehend auf freiem Fuß ist” – drohte Bolsonaro am Montag, dem 11. November, mit der Anwendung des aus der Militärdiktatur stammenden Gesetzes der Nationalen Sicherheit. Bolsonaro-Anhänger setzten gar auf WhatsApp ein Kopfgeld von mehreren tausend Euro für die Ermordung des Altpräsidenten aus.
Die Drohung Bolsonaros ist mit dem Bunker der rechtsradikalen Militärs und der Justiz abgekartet. Sie ist eine Reflexhandlung der extremen Rechten auf die Wende nach links in lateinamerikanischen Schlüsselländern wie Argentinien und Mexiko und die Turbulenzen in Chile. Wie der brasilianische Kolumnist Janio de Freitas richtig erkannte, „stößt Lulas Freiheit auf aktive Feinde”. Das Konzept „Lula Livre“, so Freitas, wird „zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt im schwierigen Kampf um die Demokratie in Lateinamerika“ angewendet und unterstreicht (indirekt) den Volksaufstand in Chile und Ecuador gegen die wirtschaftliche Unterdrückung und die Belastung Jahrhunderte alter, unterlassener Sozialverpflichtungen.
Die gleiche Volksbewegung, die in der Wahl von Alberto Fernández in Argentinien gipfelte, macht sich seit Ecuador auf dem gesamten Kontinent mit der Idee der lateinamerikanischen Solidarität gegen die durch die elitäre Wirtschaftspolitik auferlegte Erstickung lautstark bemerkbar. Mexiko gelingt es mit López Obrador eine Verbindung von effektiver Souveränität mit einem Gefühl von Demokratie herzustellen. Auf dieser politischen Landkarte schien an einem strategischen Ort (Brasilien) ein Haus für Lula prädestiniert zu sein.
Die Überlegung der Rechtsextremen, in Absprache mit den USA diesem neuen kontinentalen Trend Sand ins Getriebe zu werfen und einen vorübergehenden Riegel vorzuschieben, könnte die überstürzte Entscheidung für den Putsch in Bolivien erklären.
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