Fast alle Medien weigern sich, den Putsch in Bolivien auch so zu nennen. Dadurch verringern sie den Druck auf die Bundesregierung, sich angemessen gegen den Umsturz zu positionieren. Teile der deutschen Medien und Politik gehen dadurch – einmal mehr – eine antidemokratische Symbiose ein. Von Tobias Riegel.
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Der Präsident von Bolivien, Evo Morales, hat auf Druck des bolivianischen Militärs seinen Rücktritt erklärt (Hintergründe auf den NDS in diesem Artikel). Indem man diese Ereignisse kritisiert, nimmt man Morales nicht automatisch und allumfassend inhaltlich in Schutz: Auch eventuell begründete Kritik am Präsidenten oder von ihm begangene politische Fehler rechtfertigen nicht den nun erlebten Umsturz. Dementsprechend gibt es zahlreiche internationale (und auch deutsche) Stimmen, die den Vorgang in Bolivien nun eindeutig einen Putsch nennen. Zu diesen Stimmen gehören unter anderem mehrere lateinamerikanische Staatschefs. Der britische Oppositionsführer Jeremy Corbyn verurteilte den „Putsch gegen das bolivianische Volk“. Und auch die Fraktionschefin der LINKEN, Sahra Wagenknecht, findet deutliche Worte:
„Der Putsch in Bolivien ist ein Anschlag auf Demokratie, soziale Gerechtigkeit und Unabhängigkeit in Lateinamerika. Alle sozialen Errungenschaften und die kulturellen Rechte der indigenen Bevölkerung, die unter der Präsidentschaft von Evo Morales geschaffen wurden, stehen jetzt auf dem Spiel.“
Neben Respekt für die „Entscheidung von Evo Morales, angesichts des Militärputschs sein Amt niederzulegen“ äußert Wagenknecht aber auch Unverständnis über das Schweigen der Bundesregierung zu dem Umsturz – der Putsch sei unmissverständlich zu verurteilen. Doch das Gegenteil ist der Fall, wie „RT“ aktuell aus der Bundespressekonferenz berichtet. Demnach erklärte Regierungssprecher Steffen Seibert, dass er den – vom Militär erzwungenen – Rücktritt des bolivianischen Präsidenten “als wichtigen Schritt” begrüße. Die Bezeichnung des Vorgangs als “Putsch” sei dagegen “eine interessante Wertung von ‚Russia Today‘“.
Mediale Verniedlichung des Umsturzes entlastet Bundesregierung
Diese Haltung der Regierung ist nur durchzuhalten, weil die meisten großen Medien sich weigern, den Umsturz in Bolivien auch so zu nennen: Dieser Putsch soll kein Putsch sein. Durch diese Verzerrung durch viele Medien wird der Druck auf die Bundesregierung, die antidemokratischen Vorgänge in Bolivien zu verurteilen, unangemessen verringert. Insofern hat Seibert tatsächlich Recht: Es gibt kaum ein deutschsprachiges Medium, das den Umsturz auf Druck des Militärs so (zutreffend) „wertet“ wie „RT“. Ausnahmen bestätigen aber auch hier die Regel – als solche positiven Ausnahmen, die den Umsturz klar benennen, sind zuerst die „Junge Welt“ und das „Neue Deutschland“ zu nennen – negativ tut sich einmal mehr die „taz“ hervor, wie später im Text beschrieben wird.
Doch zunächst zu den großen Medien. Viele dieser Publikationen wählen einen ähnlichen Weg: Demnach hat Morales wegen Protesten zunächst ganz normal seinen Rücktritt eingereicht – jetzt aber „spricht Morales von Putsch“. Der Umsturz auf Druck des Militärs wird durch diese Formulierung zu einer zweifelhaften Behauptung aus dem Munde eines störrischen alten Staatschefs, der seinen Sessel nicht räumen will, obwohl doch „das Volk“ Veränderungen wolle. So schreibt die „Süddeutsche Zeitung“: „Präsident Morales tritt zurück und spricht von ‚Putsch’.“ Der „Spiegel“ steigert das noch und schreibt: „Boliviens Präsident Morales wettert gegen ‚Putsch‘.“ Und auch etwa die „FAZ“, der „Deutschlandfunk“ oder „T-Online“ wählen neben zahlreichen anderen Medien die nebulöse Formulierung von den Vorgängen, die Morales (anscheinend unzutreffend?) als Putsch bezeichne.
Ein Umsturz als Fanal für die „Demokratisierung Lateinamerikas“
Noch weiter geht die „Welt“, die den Putsch indirekt in eine „Demokratisierung Lateinamerikas“ einordnet. Die Zeitung schreibt:
„Nun zittern seine Verbündeten, die sozialistischen Diktaturen in Nicaragua, Venezuela und Kuba. Die Opposition hofft auf eine Demokratisierung in ganz Lateinamerika.“
Positiv wird von der „Welt“ auch einmal mehr auf den mindestens fragwürdigen Oppositionsführer in Venezuela, Juan Guaidó, Bezug genommen, der habe getwittert, in Lateinamerika sei ein „demokratischer Hurrikan“ zu spüren. Diffamiert werden auf der anderen Seite die Solidaritätsbekundungen prominenter lateinamerikanischer Politiker: Brasiliens Ex-Präsident Lula Da Silva, Argentiniens künftiger Präsident Alberto Fernández, Mexikos Amtsinhaber Andrés Manuel López Obrador sowie die „sozialistischen Diktatoren“ Nicolas Maduro aus Venezuela und Miguel Díaz-Canel aus Kuba würden zwar „allesamt von einem Staatsstreich gegen Morales” sprechen. Sie seien aber nicht glaubwürdig, weil ihnen „eine Legende vom Putsch“ zupass käme.
Die „Süddeutsche Zeitung“ geht noch ein Stück weiter und möchte die Verantwortung für den Umsturz Morales selber anlasten: „Morales hat sich sein Ende selbst zuzuschreiben“. Das Medium erklärt die Vorgänge in Bolivien zu einer normalen demokratischen Willensbildung:
„Doch das hat sich Morales am Ende selbst zuzuschreiben. Wäre er rechtzeitig abgetreten oder hätte einen Nachfolger in den eigenen Reihen mit guten Wahlchancen aufgebaut, hätte er sich in Ehren zurückziehen können, ohne dass der Volkszorn kocht. So funktioniert nun mal demokratische Politik.“
„Personenkult“: Morales ist „selber Schuld“
Den Vorwurf, den eigenen (militanten) Sturz durch Personenkult und Machtbesessenheit mit provoziert und dadurch auch gerechtfertigt zu haben, richtet die „taz“ indirekt gegen Morales. Unter dem angesichts der Schicksale von Morales und Lula Da Silva fragwürdigen Titel „Entbehrliche Männer“ schreibt die „taz“: “Ex-Präsident Lula in Brasilien und Evo Morales in Bolivien zeigen, so unterschiedlich ihre Situation ist, welche Gefahren im Kult um Personen steckt.“ Das Gerede vom Putsch ist demnach „durchsichtige Propaganda“ – trotz mahnender Beispiele:
„Ein von der Rechten orchestrierter Staatsstreich sei im Gange, warnte er und appellierte an die Solidarität aller Linken. Das war durchsichtige Propaganda. Nur: Gerade Erfahrungen wie die brasilianische, wo eine korrupte Rechte die PT-Präsidentin Dilma Rousseff hat absetzen und Lula ins Gefängnis stecken lassen, bestärken solche Diskurse.“
Den Vogel schießt die “taz“ aber mit einer Reportage aus den Straßen Boliviens nach dem Umsturz ab, die Kitsch, (scheinbare) Naivität und Agitation in kaum erträglicher Weise vermischt:
„Inmitten der rot-gelb-grünen Menge küssen sich Juan Carlos Zamora (31) und Vanesa Gallardo (31) eng umschlungen. ‚Wir sind so glücklich wegen der Demokratie‘, sagt er. ‘Meine Frau und ich werden eine Familie gründen und unsere Kinder in einem freien Land aufziehen können!’ Vanesa ist schwanger.“
Neben solchen anti-aufklärerischen Romantisierungen verbreitet der Artikel auch knallharte Meinungsmache – die Gewalt ging demnach vom Regierungslager aus und eine Rückkehr Morales’ steht „zu befürchten“:
„Tatsächlich war die Gewalt bis zum Samstag nahezu ausschließlich von seinen eigenen Anhänger*innen ausgegangen, die mit Stangen, Stöcken, Steinen und Sprengkörpern auf die Demonstrierenden losgegangen waren. (…) Präsident Evo Morales muss den Rücktritt noch schriftlich erklären, damit er offiziell wird. Manche befürchten, dass er doch noch zurückkehrt.“
Militanz: In Bolivien böse – in Chile gut?
In einem weiteren Artikel bezeichnet die „taz“ den Putsch als „Legende“ und erklärt Morales’ politischen Untergang damit, dass sich dieser „mit dem eigenen Machtanspruch schlicht verzockt“ habe. Aber der Artikel stellt auch eine interessante und für die weitergehende und prinzipielle Beurteilung von Militanz wichtige Frage:
„Wäre es für die, die einen Staatsstreich beklagen, auch einer, wenn die chilenischen Carabineros damit aufhören würden, den Protestierenden die Augen auszuschießen, sich mit ihren Forderungen solidarisieren und den Rücktritt Piñeras fordern würden? Wird nicht passieren. Aber wenn doch, würde es als Sieg des Volkes und der Demokratie gefeiert werden.“
Titelbild: M-SUR / Shutterstock