Der Lynchmord an einem charismatischen Sonderling

Der Lynchmord an einem charismatischen Sonderling

Der Lynchmord an einem charismatischen Sonderling

Diana Johnstone
Ein Artikel von Diana Johnstone

Noch vor wenigen Jahren hofierte man ihn in den europäischen Hauptstädten als modernen, heroischen Aufklärer. Die Zeitungen druckten seine Enthüllungen, steigerten damit ihre Auflagen und verwandelten sie in klingende Münze. Heute sitzt Julian Assange in einem Londoner Gefängnis, in Isolationshaft. Der UN-Sonderberichterstatter für Folter, Nils Melzer, sieht sein Leben in akuter Gefahr. Die USA betreiben, offensichtlich mit freundlicher Unterstützung der britischen Justiz, seine Auslieferung in die USA. Dort drohen ihm 175 Jahre Haft wegen der Veröffentlichung geheimer Informationen über die verbrecherischen US-Kriege gegen Afghanistan und den Irak. Wie konnte es so weit kommen? Die US-amerikanische Journalistin Diana Johnstone mit einem Erklärungsversuch. Übersetzung: Susanne Hofmann.

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Es war einmal ein sehr aufgeweckter kleiner Junge in Australien, der als Fremder der konventionellen Gesellschaft aufwuchs. Als Jugendlicher fand er seine eigene Welt im Cyberspace, die seiner unersättlichen Neugier Raum bot. Als er von der großen Welt da draußen erfuhr und ihren Geheimnissen, entwickelte er sein ureigenes rigoroses Ethos: Seine Berufung war es, nach Fakten zu suchen und sie mit der Öffentlichkeit zu teilen. Sein moralischer Kompass entwickelte sich unabhängig von konformistischen gesellschaftlichen Konventionen. Wahres war wahr, Täuschung war falsch, Lügen der Mächtigen sollten enthüllt werden.

Julian Assanges Ursünde war die gleiche wie die von Galileo Galilei. Galileo sündigte, indem er den Menschen enthüllte, was die Elite bereits wusste oder zumindest erahnte, jedoch vor der breiten Masse geheimhalten wollte, um den Glauben des Volkes an die offizielle Wahrheit nicht zu erschüttern. Assange tat es ihm gleich, indem er WikiLeaks gründete. Dadurch wurde die offizielle Version der Wahrheit infrage gestellt. Alle Lügen sollten offengelegt werden. Die bei weitem heikelsten Ziele seiner weitreichenden Enthüllungen waren die Lügen, die Scheinheiligkeit, die unmenschliche Brutalität der Vereinigten Staaten in ihren Kriegen um die globale Vorherrschaft. In Assanges Augen war all dies schlicht falsch.

Zunächst erzielte WikiLeaks große Aufmerksamkeit und sogar öffentlichen Beifall. Julian Assange wurde berühmt. Er war ein Sonderling, sah aber nicht so aus. Julian war eine seltsame Erscheinung – groß, gutaussehend und markant aufgrund seines fast weißen Haars: ein charismatischer Sonderling.

Als er in Schweden ankam, war er beinahe ein Superstar. Die Schwedinnen versuchten, ihn in ihr Bett zu bekommen. Sie gaben damit an, Sex mit ihm zu haben: Er war als Liebhaber eine Trophäe. Doch der charismatische Sonderling kannte die sozialen Konventionen der eigentümlich schwedischen Formen züchtiger Promiskuität nicht. Diese Wissenslücke nutzten seine Feinde in einer völlig unvorhersehbaren Weise aus.
Ehe Julian Assange Schweden verließ, versuchte er auszubügeln, was wie ein schlimmes Missverständnis schien. Doch die schwedische Seite versäumte es, die Angelegenheit zu klären und er reiste nach London.

In London nahm sich die radikale Hautevolee aus der britischen Upper Class rasch seiner an, die Champagner- und Kaviar-Humanisten. Der naive charismatische Sonderling, der die gesellschaftlichen Normen nicht kannte, glaubte zweifelsohne, dass er unter Freunden war. Er gehörte keiner politischen oder sozialen Bewegung im Vereinigten Königreich an, er war abhängig von der Schickeria, die ihn eine Weile als interessanten Außenseiter betrachtete, als eines ihrer neuesten Projekte.

Julian Assange war vielleicht naiv, was die Gesellschaftsformen anging, er hatte aber ein ganz feines Gespür dafür, was die imperialen Mächte gegen ihn ausheckten. Die völlig ungerechtfertigte Forderung, ihn nach Schweden auszuliefern, damit er dort befragt werden solle – ungerechtfertigt, weil man abgelehnt hatte, ihn zu befragen, als er sich in Schweden aufhielt, und man später ablehnte, ihn in Großbritannien zu befragen – erschien Julian als offensichtlicher Kniff, mit dem Schweden ermächtigt würde, ihn an die Vereinigten Staaten auszuliefern. Schließlich erwies sich das Schweden der Post-Olof-Palme-Zeit als äußerst fügsam gegenüber den Wünschen Washingtons. Andere sahen das nicht so klar, mit Ausnahme des großartigen damaligen ecuadorianischen Präsidenten Rafael Correa. Correa bot Assange Asyl in der winzigen ecuadorianischen Botschaft in London. Assange, unkonventionell und achtlos, was die Gepflogenheiten angeht, doch mit einem klaren Blick für die Gefahr, die auf ihn lauerte, verletzte er die Kautionsauflagen und begab sich in die Botschaft.

Damit begann seine Entfremdung von den Kaviar-Humanisten. Zunächst verteidigte ihn die Schickeria noch. Schillernde Persönlichkeiten wie Jemima Khan und Amal Amamuddin (noch nicht Clooney) setzten sich für ihn ein und verloren dann das Interesse. Er war nicht von ihrer Welt. Er verstand es nicht, Kompromisse einzugehen, er war nun mal ein Sonderling, der sein Charisma zunehmend einbüßte, im Schatten der ecuadorianischen Botschaft verblassend. Schön und gut, Lügen anzuprangern und die Wahrheit zu sagen, aber man sollte es damit nicht übertreiben. Es ist reizvoll, sich für etwas einzusetzen, wenn man einen soliden gesellschaftlichen und finanziellen Hintergrund hat, auf den man zurückgreifen kann, und wenn man es versteht, das Spiel zu spielen, zugleich mit von der Partie und außen vor zu sein. Julian verstand sich nicht auf derartige gesellschaftliche Umgangsformen. Er war ehrlich, entschlossen, stur. Er war unfähig zu Heuchelei, nicht einmal dann, wenn es im eigenen Interesse gewesen wäre. Er wollte nicht wie Galileo abschwören.

Eine derart hartnäckige Ehrlichkeit seitens eines Menschen, der nichts hat – keine einflussreiche Familie, kein Vermögen, keinen sozialen Status, der keiner politischen Partei angehört, der nichts hat außer seiner unbeugsamen Treue zur Wahrheit, ist unerträglich in einer Gesellschaft, die auf Lügen beruht. Die Medien, die Nutznießer seiner sensationellen Enthüllungen, entwickelten den größten Eifer dabei, ihn öffentlich anzuprangern. Kein Wunder: Seine Ehrlichkeit war ein lebender Vorwurf an die Adresse der Schreiberlinge, die sich auf der ganzen Linie verkauft haben und vorankommen, indem sie dem verlogenen „geläufigen Narrativ“, das die Gebieter ihrer Karrieren einfordern, neue Akzente verleihen.

Man verbreitete Lügen über Julian Assange. Jemand, der so ehrlich ist, muss doch verborgene Laster haben. Er muss doch so schlecht wie wir sein, wenn nicht schlimmer. Der Mob rottet sich zusammen. Dieser Mann, der die Wahrheit kennt, nicht aber die sozialen Gepflogenheiten, ist eine Beleidigung von uns allen, ein Freak, ein Monster, das zerstört werden muss.

Der Lynchmob ist riesig. Die Medien, Politiker, selbst die Justizbehörden. Man hört keine lauten Rufe nach Blut, nur stille Grausamkeit, wenn das angloamerikanische Establishment schamlos darauf sinnt, dem Außenseiter, der es gewagt hat, ihnen den Spiegel vorzuhalten, den Atem abzuschnüren.

Titelbild: Mironov Vladimir/shutterstock.com

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