Kaum hat die Weltöffentlichkeit den Volkssturm gegen das ultraliberale System mit seinen katastrophalen sozialen Auswirkungen in Chile wahrgenommen, wird das Nachbarland Bolivien von Unruhen geschüttelt, die umgekehrt von der konservativen bis rechtsradikalen Opposition geschürt werden. Ein Bericht von Frederico Füllgraf.
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Die gewaltsamen Proteste, mit mindestens drei Toten und hunderten von Verletzten, begannen nach Bekanntgabe der offiziellen Ergebnisse der jüngsten Präsidentschaftswahlen vom 20. Oktober, aus denen der amtierende und zur Wiederwahl angetretene Präsident Evo Morales mit ca. 46 Prozent gegen 36 Prozent der Stimmen seines zweitplatzierten, konservativen Herausforderers, Carlos Mesa, hervorging. Mit dem nur knapp erreichten, zehnprozentigen Vorsprung vermied Morales die gesetzlich vorgeschriebene Stichwahl, was Mesa im Handumdrehen dazu veranlasste, das Oberste Wahlgericht und Morales des „Wahlbetrugs“ zu beschuldigen und die Öffentlichkeit zu Protesten aufzurufen.
Als Geste des Entgegenkommens rief die bolivianische Regierung die in Washington ansässige, konservative Organisation der Amerikanischen Staaten (OEA) ins Land, die seit Ende Oktober mit der akribischen Prüfung der landesweiten Stimmenabgabe beschäftigt ist und Mitte November ihr Gutachten vorlegen will.
Indes stößt Carlos Mesas Zick-Zack-Kurs auf Empörung. Zunächst versuchte der konservative Vorgänger von Evo Morales dessen Anrecht auf Wiederwahl zu behindern. Nachdem ihm die Verhinderung nicht gelang, forderte er nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses eine Stimmen-Neuauszählung, lehnt jedoch jetzt – wegen angeblichem „Vertrauensmangel“ – selbst den Wahlaudit der OEA ab und fordert Neuwahlen; eine Forderung, der sich auch die rechtsextreme Opposition im Regierungsbezirk Santa Cruz anschloss.
Die Opposition ist jedoch gespalten zwischen Mesa und Luis Fernando Camacho. Der Anwalt und Unternehmer aus dem bolivianischen Nordosten befahl seinen rechtsradikalen Comités Cívicos (Bürgerkomitees) die vollständige Abriegelung nicht nur der Stadt Santa Cruz, sondern auch der Staatsgrenzen zu Brasilien und Paraguay, womit Camacho die Hochburg des ultrarechten Agrobusiness hinter Barrikaden vom übrigen Bolivien isolierte und notfalls auch vom restlichen Land als „selbstständige Republik“ abzuspalten droht.
Allerdings gingen den anhaltenden Auseinandersetzungen bereits im Dezember 2018 brutale Angriffe rechtsradikaler Schlägertrupps auf Polizeikräfte voraus, die nun – anders als im Nachbarland Chile – von der Regierung zur disziplinierten Mäßigung im Umgang mit oppositionellen Demonstranten aufgerufen wurde. Zur Vermeidung von Konfrontationen und blutigen Straßenschlachten hielt sich die Administration Evo Morales auch mit der Mobilisierung ihrer eigenen, breiten sozialen und politischen Basis zunächst zurück.
Der gewerkschaftliche Dachverband COB, Massenorganisationen der indigenen Völker, Frauenbewegungen und progressive Parteien – allen voran die amtierende Bewegung für den Sozialismus (MAS) – brachen erst am Dienstag, dem 5. November, zu einem beeindruckenden Aufmarsch in der Innenstadt von La Paz auf, nachdem Camacho die Hauptstadt angeflogen hatte, um Morales zur Unterschrift seiner „Rücktrittserklärung“ zu zwingen und der Präsident vor dem eskalierenden Putsch gewarnt hatte. Der Rechtsradikale wurde jedoch von Morales-Anhängern am Verlassen des Flughafens gehindert und musste unerledigter Dinge nach Santa Cruz zurückfliegen.
Lithium-Projekt mit deutschem Unternehmen annulliert
Als dritter widerständiger Richtung stieß die Regierung Morales auf den Widerstand indianischer Gemeinden gegen das bolivianisch-deutsche Projekt der Lithium-Gewinnung und Aufbereitung am Uyuni, dem größten Salzsee der Erde. Der Uyuni erfreut sich seit Jahren eines internationalen Touristen-Booms, wurde 2019 mit dem World Travel Awards als „beste natürliche Touristenattraktion in Südamerika“ ausgezeichnet, gilt aber auch als prähistorischer Salzsee mit den weltgrößten Lithium-Vorkommen.
Das erst im Oktober 2018 zwischen dem bolivianischen Staat und der baden-württembergischen Firma ACISA mit je 51:49 Prozent Anteilen feierlich unterschriebene Projekt, mit einer Startinvestition von 300 Millionen, wurde in den vergangenen Tagen kommentarlos von der Regierung storniert, bevor die Anlage Mitte 2020 überhaupt in Betrieb genommen werden sollte.
Juan Carlos Cejas – Landesgouverneur des historischen Regierungsbezirks Potosí und Mitglied der linken Regierungspartei MAS – beklagte die Entscheidung und machte „lokale und fremde Agitatoren“ für die Stimmung und Geschäftsannullierung verantwortlich, die tausende Arbeitsplätze vernichte und die Zukunft der Region bedrohen würde.
Indigene Bürgerinitiativen unterstellten dem Projekt Umweltschädigungen, mangelnde Transparenz und die Missbilligung ihrer Rechte; ein Vorwurf, den die von ACISA zu Hilfe gerufenen kirchlichen Hilfsorganisationen Brot für die Welt und Misereor weitgehend teilten. Von Anbeginn war das Projekt jedoch auch von der umstrittenen Kompetenz von ACISA überschattet, da der Hersteller von Solarzellen keinerlei Erfahrung in der Lithium-Verarbeitung besitzt und auf die Beratung und Mitarbeit fremder Unternehmen angewiesen war.
Nach der Förderung des Agrobusiness und den damit zusammenhängenden Amazonas-Bränden geriet der „harte entwicklungspolitische Kurs“ Evo Morales‘ mit der Lithium-Gewinnung erneut in die Kritik der indigenen Völker, er machte deshalb auch hier einen Rückzieher. Vielfache Stimmen – darunter namhafter Intellektueller indigenen Ursprungs wie Rafael Bautista S. – empfehlen daher Regierung und Opposition den zur Zeit schwierigsten Schritt in Richtung Entspannung: den Dialog.
Der Vorwurf des „Wahlbetrugs“ und die Prüfung durch die OEA
Den Anlass für die Anschuldigung des Wahlbetrugs bildete zwischen dem 20. und dem 21. Oktober eine 20-stündige technische Unterbrechung der Stimmenauszählung durch das Oberste Wahlgericht (TSE). Es habe keinen Betrug gegeben, kontert Justizminister Héctor Arce in einem Interview. Carlos Mesa wisse dies und lehne deshalb die internationale Wahlprüfung durch die OEA ab.
Dass nach der Zählung von 83 Prozent der Stimmen die Weiterführung ausgesetzt und erst am nächsten Tag reaktiviert wurde, war ein offensichtlicher Fehler des TSE und es sei Sache des Gerichts, das zu erklären, kritisiert der Minister, doch dieser Umstand dürfe nicht einfach umgedeutet und damit behauptet werden, dass es einen Betrug gegeben habe. „Was hier passiert, ist eine inakzeptable Ungerechtigkeit, eine unnötige Mobilisierung der Bevölkerung, Lähmung ganzer Städte und Regierungsbezirke, eine Erschütterung der Nation. Um eine Lüge aufrechtzuerhalten, wird gegen das Leben der Bolivianer getrachtet. Wo ist der Betrug? Wo ein einziger Hinweis?“, empört sich Arce.
Zwei zentrale Elemente entkräften von vornherein den Vorwurf der Opposition. Erstens haben Mesa und seine Partei bisher keine Beweise für Betrug, kein Ersuchen vor einer Gerichts- oder Verwaltungsinstanz eingereicht, beklagt der Justizminister. Zweitens hat die sogenannte Comunidad Ciudadana – die parteipolitisch unabhängige Bürgergemeinschaft, die den gesamten Wahlvorgang, also Abstimmung, Auszählung und Protokolle überwacht – die Redlichkeit der Präsidentschaftswahlen bestätigt.
Über 30.000 freiwillige Delegierte der Comunidad Ciudadana haben fast 100 Prozent der Protokolle der 34.555 Wahllokale unterzeichnet. Während der gesetzlichen Einspruchsfrist wurden von ihnen keine Beschwerden oder Einsprüche registriert, sämtliche amtliche Wahlunterlagen wurden von ihnen als gültig bezeichnet. Sobald diese Protokolle genehmigt sind, werden davon 12 Kopien angefertigt, von denen wiederum die Delegierten über eine Kopie verfügen. Das Hauptprotokoll wird sodann mit einem Sicherheitsschlüssel zum Sitz des Obersten Wahlgerichts geschickt, wo es in Anwesenheit der konkurrierenden Parteien geöffnet wird. Sämtliche Protokolle werden in Minutenabständen validiert, bis die Gesamtsumme der Stimmen an das nationale Rechenzentrum gesendet wird. Wie kann es da sein, dass Carlos Mesa Betrug meldet? Das sei eine Lüge und aus diesem Grund lehnt Mesa den OEA-Audit durch 30 internationale Gesandte ab, kritisiert Boliviens Justizminister.
Mit Heiligem Kreuz, Militärs, der extremen Rechten der USA und Bolsonaro
Zwei Wochen vor den Parlamentswahlen erwachte Bolivien mit der Ankündigung einer „Farbrevolution“. Luis Fernando Camacho, ehemaliger Vorsitzender des Pro-Santa-Cruz-Komitees, predigte die Notwendigkeit, den Traum der weißen Großgrundbesitzer, Sojapflanzer und Viehzüchter von ihrer ersehnten Sezession – einer Abspaltung von Bolivien – zu verwirklichen. Mit einer an den Haaren herbeigezogenen Prophezeiung eines „Wahlbetrugs“ rief Camacho zum Ungehorsam auf und schürte eindeutig einen Aufstand.
Camacho und seine Anhänger tragen als Emblem ihrer Bewegung das Heilige Kreuz, entweder an einer Halskette oder auf ihre Hemden gestickt. Ikone, Sprache und Gewaltbereitschaft stellen spontane Assoziationen zum Ku-Klux-Klan her; es fehlt nur die weiße Kapuze.
Der Separatismus im Regierungsbezirk Santa Cruz besitzt indes eine nahezu 60-jährige Geschichte. Doch wie der aus Santa Cruz stammende Publizist Juan Carlos Zambrana Marchetti in seinem 2010 herausgegebenen Buch „Secretos de Estado: Una guerra interna de la CIA, por sus archivos sobre el antiimperialismo Boliviano“ dokumentierte, hatten die USA von Anbeginn die Finger im Spiel. In einem vor wenigen Tagen veröffentlichten Essay zu den gegen Evo Morales geschürten Unruhen griff Marchetti das Thema wieder auf und erinnerte:
„Im Jahr 1961 starteten die USA in der Region eine mächtige antikommunistische Kampagne, eine Art Mix aus Propaganda, Unterdrückung und Ausübung des christlichen Glaubens. Obwohl der Kommunismus in Santa Cruz politisch niemals existierte, hatte diese Kampagne die Kontrolle und Unterdrückung der (armen) Bauern zum Ziel; indigene Bauern, die Schwierigkeiten hatten, sich in eine Gesellschaft von Weißen zu integrieren, die sie ablehnten. Dies löste eine lange Auseinandersetzung zwischen zivilen Milizen der nationalistischen revolutionären Bewegung (MNR), den Verteidigern der Revolution von 1952 und Milizen der extremen Rechten (Juvenile Cruceñista Union) aus, die keine politische Macht besaßen und sich als ´bürgerlich´ neu erfunden hatten“.
Während dieser Auseinandersetzungen traf als internationale Berühmtheit in Santa Cruz Kardinal Richard James Cushing, Erzbischof von Boston, ein. Cushing stand in enger Verbindung mit der Bostoner Elite und war ein enger Freund der Familie Kennedy. Als notorischer Antikommunist bekannt, traf der Kardinal am 9. August 1961 zu einem Eucharistischen Kongress und der Einweihung des Denkmals für Christus, den Erlöser, ein, das genau an einer Kreuzung mit einer Straße in Richtung Norden errichtet wurde, wo die Siedlungen der indigenen Colla-Bauern liegen, die als Arbeitskräfte auf den Latifundien angeheuert wurden.
Doch die Christus-Figur, so Marchetti, kehrte dem Norden den Rücken zu und breitete seine schützenden Arme über die weißen Stadtbewohner aus, die den Segen für sich allein beanspruchten, deren genuin weltlicher Schutz (Marchetti) jedoch rechtzeitig von den Streitkräften sichergestellt wurde, die zuvor die Stadt Santa Cruz besetzt und zum militärischen Sperrgebiet erklärt hatten. General René Barrientos Ortuño wurde zum provisorischen Abteilungsleiter der Regierungspartei MNR ernannt und ersetzte Dr. Luis Sandóval Morón, der nach La Paz „berufen“, sprich: strafversetzt worden war.
Die “Unerwünschten”, sprich: die Collas von Sandóval, leisteten keinen Widerstand. Sie kauerten am Rande des Geschehens und unter diesen Bedingungen der Ausgrenzung und Demütigung wurde der Eucharistische Kongress eröffnet und das Denkmal der Oberschicht von Santa Cruz übergeben. Eine Woche später hielt die Regierung immer noch Sandóval in La Paz fest und den “unerwünschten” Teil von Santa Cruz fern des Stadtzentrums.
So wurde Camachos heutige „Bürgerwehr“ gegen den „Indio“ Evo Morales und seine Anhänger geboren, die die Mehrheit im Jahrtausende alten Andenland darstellen, doch wider Menschenwürde und republikanischem Recht von der nordostbolivianischen weißen Minderheit als „unerwünschte“ Indigene betrachtet werden – einfach so. „Im lichten 21. Jahrhundert wird das Christentum ebenso wie im 16. Jahrhundert als Instrument sozialer Kontrolle eingesetzt, um die Massen zu unterwerfen, um denkende Individuen in entfremdete Schafherden zu verwandeln“, kommentiert Marchetti.
Der berühmte Christus-Erlöser der Santa-Cruz-Elite und ihrer Mitläufer wird heute, wie in den sechziger Jahren, als Kriegswaffe gegen Arme, Indianer, Bauern und Linke im Allgemeinen militant eingesetzt. „Eine Waffe des moralischen und geistigen Mordes, die im 21. Jahrhundert eine Schande ist und in der absoluten Verantwortung des Vatikans und von Papst Franziskus liegt, der mit seinem mitschuldigen Schweigen diese widerliche Prostitution des christlichen Glaubens überlagert“, protestiert der bolivianische Autor.
Indes konspirieren die Kreuzzügler nicht allein. Mitten im Aufruhr wurden 16 brisante Tonaufnahmen bekannt. In den geheimen Aufzeichnungen sind Gespräche zwischen „zivilen Führern“, Politikern und Militärs über eine Verschwörung zu hören, die politische Umwälzungen für die Zeit vor und nach den jüngsten Wahlen und die Verhinderung von Evo Morales zum Ziel hatten.
In einem der Audios ist der ehemalige Abgeordnete Manfred Reyes Villa in einem Gespräch mit nicht identifizierbaren Personen zu erkennen, die ihn daran erinnern, dass die US-Senatoren Marco Rubio, Bob Menéndez und Ted Cruz sich verpflichtet haben, Wirtschaftssanktionen gegen Bolivien zu erlassen, falls Evo Morales die Wahl gewinnt. Reyes Villa spricht offen von Putschplänen. Er erwähnt die Unterstützung der evangelikalen Kirche und der brasilianischen Regierung und gibt Hinweise auf einen mutmaßlichen Vertrauensmann Bolsonaros, der auch einen noch nicht identifizierten bolivianischen Präsidentschaftskandidaten berät.
Audio Nummer 15 erklärt, wie sich die Verschwörer den Auftakt vorstellten. Privates Treffen zwischen den Oppositionspolitikern Jaime Antonio Alarcón Daza, Iván Arias und anderen Mitgliedern der Bürgerkomitees. Sie vereinbaren die Anschaffung „schneller“ Abstimmungsausrüstungen (elektronische Urnen?) für die Präsidentschaftswahlen, die zur Manipulation der öffentlichen Meinung und als „Beweis“ für einen mutmaßlichen „Wahlbetrug“ verwendet werden sollten. Die Gruppe gibt Hinweise auf die Zusammenarbeit mit einer gewissen Jubiläumsstiftung, der Europäischen Union, der US-Botschaft und der evangelikalen Kirche.
Der Regierung waren diese Mitschnitte bekannt und sie begründeten Evo Morales‘ Warnung vor einem geplanten Putsch.
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