50 Jahre „Mehr Demokratie wagen“ – Strategische Überlegungen von damals und für heute.
Vorgetragen am 3. November bei einer Politischen Matinee des SPD-Kreisverbandes Rhein-Neckar. Ich war eingeladen, weil ich einer der wenigen noch lebenden Mitarbeiter von Willy Brandt bin. Wunschgemäß habe ich versucht, den Bogen von Erfahrungen mit politischen Strategien, die vor 50 Jahren erfolgreich waren, zum heute Not-wendigen zu spannen. Manche führenden Sozialdemokraten mögen es nicht, an ihre Erfolge von vor 50 Jahren erinnert zu werden. Am vergangenen Sonntag war das nicht so. Und das war gut so. Denn man könnte von damals viel für heute lernen. Deshalb habe ich den Vortrag für NachDenkSeiten-Leser und andere Interessenten schriftlich fixiert. Albrecht Müller.
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Verehrtes Publikum, liebe Mitglieder und Freunde der SPD, liebe Freunde der NachDenkSeiten und Mitstreiter aus der Zeit der OB-Wahl in Heidelberg 1984.
Es ist bemerkenswert, dass der Kreisverband Rhein-Neckar an wichtige politische Ereignisse von vor 50 Jahren erinnert. Es ist schon deshalb bemerkenswert und bewundernswert, weil zum Beispiel der Wahlerfolg vom 28. September 1969 von der SPD nach meinen Recherchen im diesjährigen Jubiläumsjahr nirgendwo richtig gewürdigt wurde. Einzige Ausnahme: das Willy-Brandt-Haus in Lübeck.
Schon deshalb bedanke ich mich für die Einladung zur Feier der dem Wahlerfolg folgenden Regierungserklärung Willy Brandts vom 28. Oktober 1969.
Das Thema ‚50 Jahre “Mehr Demokratie wagen“‘ lädt ein zum nostalgischen Rückblick. Das will ich vermeiden, so weit es geht; ich will als Augenzeuge davon berichten, was damals war und prüfen, welche Bedeutung das für heute haben könnte.
Vor 50 Jahren gab‘s den ersten wirklichen Regierungswechsel in Deutschland-West. Nach 3-CDU-Bundeskanzlern, also nach Adenauer, Erhard und Kiesinger wurde am 28. September 1969 eine knappe Mehrheit aus SPD und FDP gewählt. Die SPD verbesserte sich von 39,3 auf 42,7 Prozent. Am 21. Oktober wurde Willy Brandt zum Bundeskanzler gewählt, am 28. Oktober gab er seine erste Regierungserklärung ab. Einer der Kernsätze dieser Regierungserklärung war die Ankündigung:
Wir wollen mehr Demokratie wagen.
Eine andere wichtige Aussage lautete:
Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein im Innern und nach außen.
Dem Regierungswechsel vorausgegangen war eine Große Koalition aus CDU, CSU und SPD. Sie folgte auf das Scheitern Ludwig Erhards als Bundeskanzler im Dezember 1966. Schon die Große Koalition hat erste positive Akzente gesetzt, zum Beispiel
- mit der Einführung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auch für Arbeiter,
- mit der Überwindung der ersten Rezession durch eine aktive Konjunktur- und Beschäftigungspolitik, geprägt und durchgesetzt von Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller (SPD),
- mit dem Beginn der Reform eines bis dahin ziemlich verkrusteten Rechtes durch den Bundesjustizminister Gustav Heinemann und Horst Ehmke;
- und dann begann Willy Brandt als Bundesaußenminister gleich im Dezember 1966 mit der Ostpolitik. Damals fand in Reykjavik eine NATO-Tagung statt, auf der Willy Brandt die Ostpolitik mit den westlichen Verbündeten besprach.
An dieser klein gehaltenen Liste von Erfolgen ist schon zu sehen, dass Große Koalitionen nicht schon deshalb schlecht sind, weil sie so heißen. Die heutige Debatte darum halte ich für sehr unergiebig, weil von einer Parole bestimmt: No GroKo!
Trotz mancher Erfolge – in der Ostpolitik kam die Regierung der Großen Koalition nicht richtig voran: CDU und CSU mauerten.
Das erste Anzeichen für eine neue politische Konstellation war dann die Wahl Gustav Heinemanns zum Bundespräsidenten am 5. März 1969. Damit war die neue Konstellation und Zusammenarbeit zwischen SPD und FDP sichtbar geworden. Dieser Erfolg hatte einige Arbeit im Hintergrund nötig gemacht, die vor allem von Willy Brandt und seinen Freunden in der Parteiführung geleistet wurde. Herbert Wehner und Helmut Schmidt waren für die Fortsetzung der Großen Koalition.
Eine Zwischenbemerkung zu meiner Rolle bei jenen Vorgängen:
Ich hatte Ökonomie studiert, war Assistent an der Uni in München und dann ab August 1968 Ghostwriter des damaligen Bundeswirtschaftsministers Professor Dr. Karl Schiller. Genau in dieser Phase begann ein harter Streit in der Großen Koalition um die Frage, ob die D-Mark aufgewertet werden sollte. Die außenwirtschaftliche und währungspolitische Lage war ganz ähnlich wie heute. Schiller war für die Aufwertung und befragte auf einer Sondersitzung seines Küchenkabinetts, zu dem ich damals gehörte, reihum jeden Einzelnen nach seiner Meinung. Von Tietmeyer (CDU) bis zu Müller (SPD). Ich plädierte aus sachlichen und polit-strategischen Gründen dafür; Schiller entsandte mich dann als seinen Beauftragten in das Wahlkampfteam für den Bundestagswahlkampf 1969. Dort sollte ich den Konflikt um die Aufwertung der D-Mark in verständliche Sprache umzusetzen und zu vermitteln helfen.
Der Wahlkampf wurde von SPD-Seite mit verschiedenen Themen und Botschaften geführt und gewonnen. Das erwähne ich deshalb, weil heute immer wieder so getan wird, als würden Mehrheiten bei Wahlentscheidungen mit einem Thema oder mit einer Person erreicht werden. 1969 lautete der Hauptslogan: „Wir schaffen das moderne Deutschland“. Ein weiteres wichtiges Element war die Person Willy Brandts und die neue Ostpolitik, von der schon viele wussten, dass dies mit der CDU/CSU nicht zu machen sein würde. Die SPD hingegen hatte ein Jahr zuvor, 1968, wenn auch unter Qualen, beim Bundesparteitag in Nürnberg beschlossen, die Oder-Neiße-Grenze als Ostgrenze anzuerkennen. Das war eine zentrale Voraussetzung für eine Verständigung mit den Völkern im Osten – namentlich mit Polen, der Tschechoslowakei und mit der Sowjetunion.
Für den Wahlerfolg wichtig waren auch Karl Schiller und Helmut Schmidt. Wichtig war das Engagement von Künstlern, Theaterleuten, Literaten, Wissenschaftlern für die SPD und ihren Kanzlerkandidaten Brandt. Das ging von Dieter Hildebrandt unten rum über Inge Meysel bis zu Hans-Joachim Kulenkampff. Und dann war auch noch die Auseinandersetzung um die Aufwertung der D-Mark von großer Bedeutung, weil bei diesem Thema die SPD zusammen mit Karl Schiller ihre Wirtschaftskompetenz zeigen konnte und die CDU/CSU deshalb die engagierte Unterstützung der Wirtschaftspresse verlor.
Das schildere ich Ihnen nicht, nun wirklich nicht, aus nostalgischen Gründen, sondern weil man für heute daraus lernen kann. Wenn die SPD aus ihrem Loch – in Thüringen einstellig – herauskommen will, dann muss sie zumindest dieses strategische Einmaleins zur Kenntnis nehmen:
Wahlen werden mit einem klaren Profil und mit verschiedenen Themen gewonnen, übrigens auch mit Konflikten, die für den eigenen Laden positiv besetzt sind. Die Aufwertungsdebatte ist ein gutes Beispiel dafür. Die Ostpolitik natürlich auch.
Nach der gewonnenen Wahl fragten mich Willy Brandt und Hans-Jürgen Wischnewski, damals Bundesgeschäftsführer, ob ich bereit wäre, in die Baracke, wie das Hauptquartier der SPD in Bonn hieß, zu wechseln und dort die Abteilung Öffentlichkeitsarbeit und Wahlen zu leiten. Das habe ich gemacht und konnte dann zwischen 1969 und 1972 einiges dazu beitragen, um die in der Regierungserklärung vom 28.10. 1969 enthaltenen Absichtserklärungen „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ und „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein“ umzusetzen.
Die CDU/CSU und die hinter ihr stehenden Kreise aus der Wirtschaft wollten den Regierungswechsel nicht akzeptieren. In dem gesamten Zeitraum von Oktober 1969 bis zur Wahl am 19. November 1972 (und darüber hinaus) wurde mit nahezu allen Mitteln versucht, den 1969 erlittenen Machtverlust zu korrigieren. Die Auseinandersetzungen waren hart und sie waren spannend. Sie gipfelten im Wahlkampf 1972 in einer grandiosen Schlacht der politischen Lager. Diesen Wahlkampf haben wir wider Erwarten mit 45,8 % der Zweitstimmen gewonnen.
Dieses großartige Ergebnis hatte viel damit zu tun, dass Willy Brandt und die Mehrheit der SPD den Anspruch, mehr Demokratie wagen zu wollen, ernst genommen hatten. Und übrigens auch das andere Versprechen, nämlich ein Volk der guten Nachbarn sein zu wollen.
Bevor ich die positiven Seiten der Politik zwischen Regierungsbildung 1969 und der Wahl von 1972 nenne, will ich einen großen Fehler erwähnen: das war der sogenannte Radikalenerlass vom Februar 1972 und die daraus folgende Überprüfungspraxis. Wer zum Beispiel Lehrerin werden wollte oder Polizist, wurde vom Verfassungsschutz überprüft. Das hat einigen besonders engagierten Menschen die berufliche Laufbahn zerstört. – Willy Brandt hat diesen Radikalenerlass nicht erfunden, er hat ihm aber zugestimmt und erst danach gesehen, welch ein Fehler das war. Er hat die Unterstützung für diesen Radikalenerlass bedauert, aber das half dann nichts mehr, jedenfalls nicht den betroffenen Menschen.
Nun zu den positiven Seiten von mehr Demokratie wagen:
Es gab einige Veränderungen, die diesem Anspruch entsprachen: die Absenkung des Wahlalters auf 18 Jahre; mehr Mitbestimmung und Mitverantwortung in vielen Bereichen unserer Gesellschaft; die Verpflichtung für die Bundesregierung, immer wieder auf vielen verschiedenen Feldern zu berichten und sich dem Dialog mit den Menschen nicht zu verschließen, im Gegenteil.
Auch parteiintern wurde die Kommunikation wesentlich verbessert. Das Informationsblatt „Intern“, das es heute noch gibt, haben wir Anfang 1970 als Informationsmedium für die Ortsvereine und Mandatsträger entwickelt, ganz bewusst weg von langen Texten und hin zu gezielten und faktenreichen Informationen. Zuvor gab es für die Ortsvereine nur Bleiwüsten mit langen Reden, abgedruckt in der sogenannten Bonner Depesche. Wir stellten uns den typischen Ortsvereinsvorsitzenden vor, Facharbeiter in einem Betrieb, der dann abends oder am Wochenende lange Reden lesen sollte. Vom ersten „Intern“ an haben wir die Ortsvereine, diese Stützen der Vorstellung von „Mehr Demokratie wagen“, mit Fakten und kurzen verständlichen Texten versorgt. Damit sie argumentieren können.
Damals wurde die Festlegung des Grundgesetzes, dass Parteien an der politischen Willensbildung mitwirken sollen, ernst genommen.
Das politische Interesse stieg. Die Mitarbeit in den Parteien war fantastisch. Alle Parteien hatten beträchtliche Mitgliederzuwächse. Die Mitgliederzahl der SPD stieg von rund 600.000 auf über 1 Million. Mein heutiger Ortsverein in Pleisweiler-Oberhofen hat heute ca. zehn Mitglieder, 1972 waren es 60.
Eine entscheidende Veränderung und Verbesserung jener Phase lag darin, dass die programmatische Debatte in der SPD und mit der Gesellschaft forciert wurde.
Es begann mit einem Juso-Kongress im Dezember 1969 in München. Damals schwappte die von Karl Marx geprägte Debatte der 68er in die Reihen der SPD, jedenfalls in ihre Jugendorganisation. Für Willy Brandt war das nicht nur angenehm. Er wurde wegen der verwegenen Debatten und Resolutionen innerparteilich heftig kritisiert. Helmut Schmidt sprach später auch im Blick auf die Debatten bei den Jusos und Willy Brandts Toleranz gegenüber jungen Leuten und Linken davon, Brandt habe die Partei „verludern“ lassen. Aber der Parteivorsitzende Brandt stand, obwohl er sachlich durchaus Einwände gegen manche Beschlüsse hatte, hinter dem wachsenden Engagement der jüngeren Generation in der SPD.
Das hatte sich übrigens parallel auch in einem politischen Kraftakt gezeigt, der ihm und den ihm nahestehenden Führungspersonen viel Ärger einbrachte: die Amnestie für Jugendliche aus der 68er Bewegung und für einige ihrer Straftaten. – Willy Brandt war der Garant dafür, dass die SPD damals junge Menschen in die Partei integrierte. Wie wir heute wissen, war dies vernünftig, weil damit auch fähige kritische Menschen in die Reihen der SPD strömten.
Die programmatische Debatte war ungemein wichtig für die Verwirklichung der Absichtserklärung, mehr Demokratie wagen zu wollen, nämlich mehr Menschen anzuziehen und in die politische Willensbildung mit hineinzunehmen.
Ich verweise auf die programmatische Arbeit einiger Kommissionen, die innerhalb der SPD bis hinunter in die Bezirke und Unterbezirke, in Kreisverbände und Ortsvereine abstrahlten: es wurden Reformen der Bildungseinrichtungen besprochen und moderne bildungspolitische Konzepte erarbeitet. Das war insgesamt ungemein wichtig, um jungen Menschen aus Arbeiterfamilien endlich den Zugang zu weiterbildenden Schulen und Universitäten zu öffnen.
Im gesamten Jahr 1971 tagte regelmäßig eine Steuerreformkommission unter dem Vorsitz von Erhard Eppler. Damit Sie sehen können, welche Breite und Tiefe diese programmatische Arbeit hatte, habe ich mein Exemplar der Kommissionsbeschlüsse mitgebracht. Diese Beschlüsse enthielten schon einen Vorläufer zur Ökosteuer. Grundtenor aller Beratungen und Beschlüsse war der Versuch, mehr Steuergerechtigkeit zu erreichen, auch mehr Effizienz, weniger Bürokratie und mehr Geld für öffentliche Leistungen bereitzustellen.
Das Thema Bodenrechtsreform wurde angesichts der großen Spekulationen mit Grund und Boden in einer gesonderten Kommission unter dem Vorsitz von Hans Koschnick behandelt, – immer wieder angefeuert von Hans-Jochen Vogel. Dieser hat übrigens jetzt gerade 93-jährig dazu noch einmal ein Buch geschrieben. Sein Titel: „Mehr Gerechtigkeit!: Wir brauchen eine neue Bodenordnung – nur dann wird auch Wohnen wieder bezahlbar“.
Helmut Schmidt war der Vorsitzende der sogenannten Langzeitkommission. Diese Kommission beschloss unter anderem die Erweiterung des öffentlichen Korridors, wie man das nannte. Dahinter steckte die Vorstellung, dass man die Verantwortung der öffentlichen Hände für die Regelung der Daseinsvorsorge ausbauen müsse. Wir haben damals in der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit ein Flugblatt entworfen und in hoher Auflage verteilt, das überschrieben war mit: „Nur Reiche können sich einen armen Staat leisten“.
Spiegeln Sie diese Einsicht mal auf die Parole von der Schwarzen Null, die von späteren sozialdemokratischen Bundesfinanzministern – von Eichel über Steinbrück bis zu Scholz mitgetragen und mitverkündet worden ist.
Die Schwierigkeiten der SPD von heute hängen damit zusammen, dass sie das eigene Profil zu schleifen mitgeholfen hat. Es kann wieder aufwärtsgehen, so kann man im Umkehrschluss berechtigterweise feststellen, wenn ein durch fachliche und sachliche Arbeit geprägtes Profil erkennbar wird, also neu geschaffen wird. Vom Himmel fällt das nicht.
Die programmatische Arbeit hatte eine wirklich demokratiefördernde Bedeutung. Sie hatte außerdem eine für die Personalpolitik bedeutende Folge. Dazu ein paar Anmerkungen:
Ich war 1963 der SPD beigetreten, in München. Damals, so nicht nur mein Eindruck, war die SPD jene Partei, bei der man anklopfte, wenn man wissen wollte, wie eine fachlich, sachlich und gesellschaftspolitisch verantwortbare und moderne Antwort auf eine wichtige Frage aussehen sollte. Bei mir und meinen Freunden ging es damals wegen der extremen Bodenspekulation im Raum München als erstes um die Bändigung der Bodenspekulation. In der SPD fanden wir die notwendigen Foren und die Fachleute.
Genauso bei der Frage, was wirtschaftspolitisch zu tun wäre, wenn so etwas wie 1966 eintritt, nämlich eine Wirtschaftsrezession mit Stagnation der Wirtschaft und steigender Arbeitslosigkeit. Andere kamen zur SPD wegen der Entwicklungspolitik, in der die SPD mit Erhard Eppler führend war.
Kluge Köpfe landeten damals bei der SPD. Das galt für die Bildungspolitik wie auch für die Familienpolitik, die große Aufgabe der Reform des Rechtes und übrigens auch für Fragen des Städtebaus. Und es galt für die Umweltpolitik.
Mit der Umweltpolitik hat die SPD begonnen, und nicht die Grünen. Sozialdemokraten haben dann allerdings später das eigene Image zerstört. Durch anti-umweltpolitische Sprüche und eine unreflektierte Position der Regierung Schmidt zur Kernenergie. Ich kann mich noch gut an eine der üblichen morgendlichen Lagebesprechungen im Bundeskanzleramt erinnern. Es muss an einem Montag gewesen sein. Am Wochenende hatte die baden-württembergische SPD auf einem Landesparteitag beschlossen, auf die weitere Nutzung der Kernenergie zu verzichten, statt sich wie damals bei Demonstrationen gegen den Bau des Kernkraftwerkes Brokdorf die Köpfe einzuschlagen. In dieser Lagebesprechung war ich eindeutig in der Minderheit. Wortführer für die Missachtung und Zurückweisung der baden-württembergischen Beschlüsse war der damalige Regierungssprecher Helmut Schmidts, Kurt Becker. Damit hat die Bundesregierung und die SPD ihren Ruf als Vorreiter der Umweltpolitik ruiniert.
Zuvor war das anders. Die SPD war Meinungsführerin bei vielen wichtigen Fragen und deshalb Anlaufstelle für politisch interessierte Menschen. Damit hat sie junge Menschen, die politisch und fachlich interessiert waren, angezogen. Man kann die Richtigkeit dieser Beobachtung alleine daran prüfen, wer damals aus Baden-Württemberg in die Bundespolitik geströmt ist. Ich nenne ein paar Namen meiner damaligen politischen und teilweise persönlichen Freunde: Peter Conradi, Harald Schäfer, Andreas von Bülow, Gunter Huonker, Hermann Scheer, Rut Zutt und einige mehr. Später dann auch Gert Weisskirchen.
Zusammengefasst: Mehr Demokratie wagen – mit der damit verbundenen Politisierung von vielen Menschen wurden Sachverstand und personelle Potenz mobilisiert. Irgendwie muss die SPD zumindest in Ansätzen zu dieser Linie zurückkehren, um wieder erfolgreich zu sein.
Die Ansprache und Mobilisierung von so vielen Menschen hatte dann für den folgenden Wahlkampf im Jahr 1972 und für das Wahlergebnis große Bedeutung. Es ist mithilfe dieser vielen Menschen gelungen, eine Art Gegenöffentlichkeit zur von der Wirtschaft und der Mehrheit der Medien bestimmten Hauptöffentlichkeit zu schaffen.
Den Begriff Gegenöffentlichkeit haben wir übrigens damals schon benutzt.
Zum Aufbau einer Gegenöffentlichkeit im Jahr 1972 muss ich eine kleine Geschichte erzählen. Im April 1972 gab es Landtagswahlen in Baden-Württemberg. Der Chef der Werbeagentur der SPD und ich reisten irgendwann im März des Jahres nach Stuttgart zu einer Sitzung der dortigen Wahlkampfleitung. Zu dieser Zeit waren schon einige sonderbare anonyme Anzeigen zugunsten der CDU aufgetaucht. Wir hatten das beobachtet und für den kommenden Bundestagswahlkampf beschlossen, der SPD-Führung zu empfehlen, die Tatsache dieser anonymen Anzeigen und ihrer Hintermänner zu einem großen Thema zu machen. Unsere Stuttgarter Freunde wollten das nicht.
Ganz anders dann im Bund. Wir konnten den Bundesgeschäftsführer Holger Börner und den Parteivorsitzenden und Bundeskanzler Willy Brandt davon überzeugen, dass sich die SPD wehren muss und dass sie den CDU/CSU-Kandidaten Rainer Barzel offen und laut fragen muss, was er politisch für die Millionen versprochen hat, die für ihn anonym fließen. Wir nannten das damals „Klassenkampf von oben“. Die 100 Anzeigenmotive der anonymen Gegner der SPD sind in diesem rororo-aktuell dokumentiert. Leider habe ich nur noch ein Exemplar davon. Die Kampagne ist jedoch teilweise auch in meinem Buch „Willy wählen. Siege kann man machen“ dokumentiert.
Die Intervention des Großen Geldes, wie die SPD damals den anonymen Gegner nannte, wurde zum großen Wahlkampfthema. Mit der Thematisierung dieses undemokratischen Vorgangs ist es gelungen, Hunderttausende von Menschen zu mobilisieren. Sie klebten Aufkleber auf ihre Autos und ihre Fensterscheiben, sie trugen Buttons und vor allem sprachen sie mit anderen Menschen. Freimütig, mutig, offensiv und überzeugt von der eigenen Sache. Die Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann, die der CDU nahe stand, hat in einer Wahlkampfanalyse auf der Basis einer vom Institut Allensbach entwickelten sogenannten Zugabteil-Befragung festgestellt, dass die Bereitschaft der SPD-Anhänger zur offensiven und selbstbewussten Kommunikation mit anderen Menschen die Wahl entschieden habe. Hier gilt zwar wieder mein Vorbehalt, dass man Wahlniederlagen und Wahlerfolge nicht mit einer Ursache erklären kann. Aber die Richtung der Aussagen von Noelle-Neumann stimmt.
CDU und CSU hatten nach Umfragen zwei Monate vor dem Wahltermin 51 % der Zweitstimmen im Sack. Aber nur bis dahin. Dann begann die SPD-Kampagne gegen das Große Geld und seine Profiteure bei der CDU/CSU. Und wiederum kam wie schon 1969 eine Reihe anderer wichtiger Dinge hinzu: die Ostpolitik, das Sich-vertragen, auch mit der DDR, die Person Willy Brandts und anderer führender Sozialdemokraten und dann auch noch eine mutige Aussage Willy Brandts beim Wahlparteitag am 13. Oktober 1972 in Dortmund.
Willy Brandt hat damals in Dortmund die Menschen dazu ermuntert, Mitgefühl mit anderen Menschen zu haben. Compassion nannte er das und er warb darum, so und nicht egoistisch mit anderen Menschen umzugehen. Vergleichen Sie das Werben um Compassion, um Mitgefühl, mal mit der Hauptparole der neoliberalen Ideologie: Jeder ist seines Glückes Schmied. Und vergleichen Sie das mal mit den sonstigen üblichen Wahlkampf-Empfehlungen, es komme nur darauf an, was auf dem Konto ankomme, oder wie man früher sagte: in der Lohntüte sei.
Willy Brandt hat mehr Demokratie gewagt und er hat es gewagt, die Menschen darum zu bitten, mit anderen Menschen mitfühlend umzugehen. Und das fünf Wochen vor dem Wahltermin, also mitten in einem Wahlkampf!
Mit diesem Geist haben Brandt und die SPD das beste Ergebnis ihrer Geschichte erreicht. Ist das nicht ermutigend?
Es wurde aber nur erreicht, weil unendlich viele Menschen mobilisiert worden sind, etwas getan haben, mit anderen geredet haben. Die SPD hat damit die Medienbarriere überwunden, die auch damals aufgebaut war. Heute ist die Lage, heute ist der Zustand der Medien und ihr Umgang mit allen fortschrittlichen Parteien einschließlich SPD noch sehr viel kritischer zu betrachten als damals. Die Möglichkeiten, Menschen zu manipulieren und damit politische Entscheidungen zu erreichen, die im Interesse der Meinungsmacher, aber nicht im Interesse der Mehrheit unseres Volkes liegen, sind enorm gewachsen.
Deshalb gilt heute noch mehr als zu Brandts Zeiten 1972, dass ohne Mobilisierung von Hunderttausenden von Demokraten die Macht des Geldes und der Medien nicht überwunden werden kann.
Weil die demokratische Willensbildung immer mehr dem Einfluss von Menschen mit wirtschaftlicher und publizistischer Macht ausgesetzt ist, habe ich vor nunmehr 16 Jahren zusammen mit Freunden eine kritische Internetseite gegründet: die NachDenkSeiten. Sie sind inzwischen eine der wichtigsten kritischen politischen Internetseiten. Unter unseren Leserinnen und Lesern sind viele Sozialdemokraten.
Damit auch Menschen erreicht werden, die mit dem Internet nicht allzu viel zu tun haben, habe ich die Quintessenz unserer Analysen und Vorschläge in einem kleinen Buch zusammengefasst. Der Titel lautet:
Glaube wenig. Hinterfrage alles. Denke selbst. Wie man Manipulationen durchschaut.
Offenbar gibt es einen großen Bedarf an Aufklärung: Gleich nach Erscheinen sprang das Buch auf Platz zehn der Spiegel-Bestsellerliste Sachbuch Paperback. Und jetzt ist es seit zwei Wochen auf Platz vier.
Wir haben ein paar Exemplare mitgebracht. Da ich an die Notwendigkeit des Aufbaus einer Gegenöffentlichkeit glaube, werbe ich darum, dass Sie diese Schrift lesen und weitergeben und weiterverbreiten und als Weihnachtsgeschenk nutzen.
Willy Brandts politisches Schicksal war 1974 schon besiegelt, nach nur viereinhalb Jahren Kanzlerschaft.
Sein politisches Ende hatte er und haben wir nicht nur den Gegnern von außerhalb, sondern auch von innerhalb zu verdanken.
Seitdem wird oft ein ziemlich falsches Bild dieses großen Menschen gezeichnet. Träumer, Willy Wolke, Weiberheld, psychisch labil, keine Ahnung von Wirtschaft, usw. . Anlässlich des 100. Geburtstages im Jahre 2013 war das so schlimm, dass ich mich entschlossen habe, ein kleines Buch zu schreiben. Sein Titel: „Brandt aktuell. Treibjagd auf einen Hoffnungsträger.“ – In diesem Buch habe ich beschrieben, wie die Kampagnen gegen ihn liefen und laufen und wie falsch ein großer Teil der Geschichtsschreibung zu seiner Person und Arbeit ist. Übrigens genauso falsch wie das, was viele Medien zur Zeit seines Tätigseins geschrieben haben. Oft ist Geschichtsschreibung eben nur der Abklatsch des Tenors der Medien in einer aktuellen Situation.
Was lernen wir von Brandt? Wie könnte die SPD – und übrigens die politische Linke insgesamt – ihr Tief überwinden?
Vor allem mit einem markanten programmatischen Profil. Dabei kann man auf gute Erfahrungen der Vergangenheit zurückgreifen und man muss Neues berücksichtigen. Zum Beispiel:
- Mit Sicherheit ist der Friede heute genauso wichtig wie 1969. Und es ist genauso klar wie 1969, dass man Sicherheit nur gewinnen kann, wenn man sich verträgt, wenn man Vertrauen schafft. Das gilt heute für das Verhältnis zu Russland genauso wie damals für das Verhältnis zum Ostblock. Nichts hat sich fundamental seit 1990 geändert, was uns davon abhalten sollte, unsere Sicherheit in Europa einschließlich Russlands auf dem Boden gemeinsamer Sicherheit, also auf dem Boden von Verabredungen zu gründen und nicht auf Aufrüstung, auf „Abschreckung“ und auf der „Politik der Stärke“, wie es heute die CDU-Vorsitzende propagiert. Das sind die Formen des Kalten Krieges aus den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Die damit verbundene Rückkehr zum Kalten Krieg ist grotesk.
Auch die Vorstellung, Konflikte in der Welt würden mit militärischen Interventionen gelöst werden können, ist abstrus.
Die Entspannungs- und Friedenspolitik der SPD war vor 50 Jahren entscheidend. Sozialdemokraten haben damit ein Pfund aufgebaut, mit dem sie wuchern könnten. Das sollten sie auch heute endlich tun, statt dem unglücklichen Trend zur Militarisierung der Politik hinterher zu rennen. „Der Frieden ist der Ernstfall“, stellte Gustav Heinemann bei seiner Antrittsrede als Bundespräsident am 1.7.1969, also auch vor 50 Jahren, fest. Daran hat sich nichts geändert.
- Geändert und verschärft hat sich allerdings erkennbar die Neigung der USA und anderer westlicher Staaten zur imperialen Politik mit militärischen Mitteln. Sie nutzen auch unser Land dafür. Sie nutzen dafür ihre militärischen Basen in Deutschland und unter anderem Ramstein für Drohnenangriffe in weiten Teilen der Welt. Weil das so gekommen ist, halte ich es persönlich für geboten, dass wir Wege suchen, um uns aus der Umklammerung der USA zu lösen. – Diese Sicht der Dinge will ich Ihnen nicht aufdrängen, auch wenn ich persönlich das für sehr notwendig halte. Im Übrigen ist die Lösung aus den politischen Fängen der USA ein Thema, das den nächsten Wahlkampf und die Rückgewinnung der Mehrheitsfähigkeit sehr fördern würde.
- Genauso wichtig wie in früheren Jahren ist die soziale Sicherheit. Helmut Schmidt hat das einmal treffend beschrieben: Soziale Sicherheit ist das Vermögen der kleinen Leute. Was soll sich denn an der Richtigkeit dieser Erkenntnis seit Helmut Schmidts Zeiten als Bundeskanzler verändert haben? Die Vermögensverteilung und die Einkommensverteilung ist noch schlechter geworden. Es spricht noch mehr für Helmut Schmidts Erkenntnis. Denn Menschen und Familien ohne finanzielles Vermögen bleibt nur die Soziale Sicherheit als ihr gesellschaftliches Vermögen.
- Die Altersvorsorge gehört zur sozialen Sicherheit. Wenn die SPD endlich zur Einsicht zurückkehrt, die Leistungsfähigkeit der Gesetzlichen Rente zu stärken, statt wie seit Gerhard Schröder den Versicherungskonzernen und Maschmeyers aller Art die Beiträge in Form von Prämien zuzuschieben, dann wird sie das Vertrauen sehr vieler Menschen wiedergewinnen und einen Schritt aus dem Keller tun können. Das setzt allerdings die Revision einer Reihe von Beschlüssen voraus, mit denen die Leistungsfähigkeit der Gesetzlichen Rente in der Regierungszeit Gerhard Schröder systematisch verringert worden ist – unter anderem, um den Versicherungskonzernen und Banken ein neues Geschäftsfeld zu eröffnen. Das war ein gravierender Fehler. Die Korrektur ist sachlich notwendig und wird politisch helfen. Allerdings muss die Rückkehr zur sozialpolitischen Vernunft bald geschehen. Andernfalls ist das Vertrauen endgültig zerstört.
- Die SPD muss auch in der Ökologie wieder nach vorn. Schon 1961 hat Willy Brandt das Richtige gesagt. 1971 haben wir in der Steuerreformkommission Akzente gesetzt und auch die Regierungsarbeit der ersten Jahre war von Taten zum Umweltschutz geprägt. Dieses Profil ist dann – wie zuvor geschildert – in der Kernenergiedebatte von eigenen Parteifreunden geschliffen worden. Höchste Zeit umzukehren.
- Ein neues Problem: Die deutsche Industrie wird inzwischen in beträchtlichem Maße auf der Basis geringer Beteiligungen von großen Fonds, von Hedgefonds und Private-Equity-Gruppen beherrscht. Tausende von Unternehmen haben den Besitzer gewechselt. Ich nenne als Beispiel drei Unternehmen aus Baden-Württemberg: Märklin, Boss und Grohe. Häufig wurden den Betrieben die Schulden des Kaufs aufgebrummt, Sozialleistungen wurden gestrichen und die Steuerspartricks der neuen Herren haben viele Gemeinden in die Röhre gucken lassen.
Das ganze Elend wurde auch noch gefördert mit einer Steuerbefreiung für die beim Verkauf von Unternehmen und Unternehmensteilen realisierten Gewinne.
Liebe Freundinnen und Freunde, das war das Werk von Sozialdemokraten – von Schröder, Eichel und vermutlich Clement. Der frühere Porsche-Chef, von dem man halten kann, was man will, hat zu dieser Steuerbefreiung das Richtige gesagt, dem Sinne nach: Wenn ein Kapitalbesitzer oder Investor an einen anderen Investor ein Unternehmen verkauft und dabei versteckte Gewinne realisiert, was soll daran förderungswürdig sein? Es ist höchste Zeit, diese zum 1.1.2002 eingeführte Steuerbefreiung zu streichen und dann ist es höchste Zeit, sich um ein besseres Unternehmensverfassungsrecht zu kümmern, damit nicht Minderheitsaktionäre wie zum Beispiel BlackRock und Blackstone und wie sie alle heißen bestimmen, wo es langgeht in der deutschen Wirtschaft. Das ist der typische Fall, den ich zuvor erwähnte: Hier kann die SPD zur Anlaufstelle von Menschen werden, denen die Entwicklung Sorgen macht und die wissen wollen, welches die fachlich und sachlich richtige und gerechte Lösung des Problems wäre.
- Zum Schluss noch eine Anmerkung zur notwendigen Pluralität der SPD: Von Willy Brandt könnten die heutigen Sozialdemokraten in der Führung lernen, dass eine Volkspartei, wenn sie erfolgreich sein will, breit auftreten muss und Menschen verschiedener Herkunft eine politische Heimat bieten muss. Ich hatte das Glück, diese Breite der SPD beim Wahlkampf 1972 persönlich zu erleben. Mein eigentlicher Chef war der Bundesgeschäftsführer Holger Börner, wahrlich kein linker Intellektueller, sondern ein Kanalarbeiter, wie man die Vorgänger der Seeheimer nannte. Wir haben uns gut verstanden und großartig ergänzt, und Willy Brandt war die Klammer einer Vielfalt, die auch heute der SPD gut täte. Nicht allein, immer kombiniert mit einem markanten sozialdemokratischen Profil.