Seit rund zwei Monaten herrscht ein neuer Ausnahmezustand in der Region Kaschmir. Wie in diesem Artikel zum Thema bereits vorhergesagt wurde, nahm das öffentliche Interesse an der Situation im Krisenherd nach einigen Schlagzeilen massiv ab. Nicht nur aus diesem Grund ist ein weiterer Blick auf den Konflikt notwendig. Von Emran Feroz.
“Was ist eigentlich in Kaschmir los?” Der erste Versuch, diese Frage zu beantworten, lässt sich in diesem Artikel lesen, zumindest auf lokaler Ebene. Aus diesem Grund wird im Folgenden auch nicht abermals auf alle Einzelheiten, die zur aktuellen Eskalation beigetragen haben, eingegangen. Folgendes sollte allerdings weiterhin klar sein: Im indischen Teil der Region Kaschmir (konkret Jammu, Kaschmir und Ladakh) findet durch die rechtsextreme Regierung Narendra Modis eine massive Entrechtung statt, deren Konsequenzen nicht nur die regionale, sondern auch die globale Politik beeinflussen könnten.
Dies wurde vor wenigen Tagen abermals deutlich, als der pakistanische Premierminister Imran Khan vor der UN-Generalversammlung in New York eine feurige Rede hielt, in der er sich mit den Menschen in Kaschmir solidarisierte. Währenddessen verlor sein indischer Amtskollege Narendra Modi kein Wort über jenen Konflikt, den er gegenwärtig eskalieren lässt. Khan warnte nicht nur vor einem möglichen Blutbad, sondern betonte in emotionaler Manier auch, dass ein bewaffneter Widerstand der Menschen in Kaschmir nachvollziehbar sei und er auf dieselbe Art und Weise reagieren würde, wenn er sich in ebenjener Situation befinden würde.
Imran Khan, einst Playboy und Cricket-Star, ist ein charismatischer Mann. Seine Rede kam auf der Weltbühne, allen voran bei mehrheitlich muslimischen Staaten, gut an. Hinzu kommt, dass Khan bereits seit Beginn der Kaschmir-Eskalation im August als Stimme der Vernunft erschien – zumindest neben dem lauten, aggressiven Modi. Doch ganz so einfach ist die Situation dann doch nicht, was die Konstellation regionaler und globaler Verbündeter Indiens und Pakistans deutlich macht.
Geopolitische Machtspiele sind vorprogrammiert
Zu Modis ideologischen Verbündeten gehören mittlerweile die USA und Israel. Erst vor wenigen Wochen besuchte Modi die Staaten, in der die Gemeinsamkeiten zwischen Neu-Delhi und Washington deutlich wurden. Modi und Trump zelebrierten ihre Partnerschaft und ihren „Kampf gegen den Terror“, der natürlich auch in Kaschmir fortgeführt wird. Die beiden Staatschefs gelten als Produkte des neuen, rechten Zeitgeistes und umso weniger ist es überraschend, dass Modi mittlerweile als eine Art Trump Südasiens gilt. Währenddessen sind im Laufe der Amtszeit Modis auch die Kontakte zur Regierung Benjamin Netanjahus intensiver geworden. In den letzten Jahren gab es nicht nur Propagandatrips, an denen auch Bollywoodsternchen teilnahmen, sondern auch eine sehr konkrete Zusammenarbeit, etwa in Form von Rüstungsdeals. Währenddessen sind sich immer mehr Stimmen darin einig, dass die Situation in Kaschmir jener in Palästina gar nicht unähnlich ist.
Auf der anderen Seite ist allerdings klar, dass die USA auch zu den wichtigsten Geldgebern Pakistans gehören. Seit Beginn des „War on Terror“ erhielt Pakistan Milliarden Dollar aus Washington. Aufgrund des Krieges im Nachbarland Afghanistan war für die Amerikaner der pakistanische Verbündete besonders wichtig. Vor allem der Sicherheitsapparat des Landes, eine Art Staat im Staat mit dem berühmt-berüchtigten Geheimdienst ISI an der Spitze, profitiert von den Geldern enorm.
Ein weiterer Akteur, der in Pakistan weitaus präsenter ist als die USA, ist China. Die pakistanische Wirtschaft ist von den Chinesen nämlich abhängig geworden. Peking hat in den letzten Jahren in zahlreiche Projekte (im Gesamten als China-Pakistan Economic Corridor bezeichnet) investiert. Insgesamt spricht man von einem Investitionsvolumen zwischen 46 und 65 Milliarden US-Dollar. Manch einer könnte demnach behaupten, dass weite Teile Pakistans de facto China gehören und Khans Vorgänger das Land mehr oder weniger verkauft haben. Auch Indien ist ein wichtiger Handelspartner Chinas, doch im Fall von Pakistan geht die Beziehung weit über jene eines Partners hinaus, was auch „on the ground“ deutlich wird.
In Regionen wie der Provinz Belutschistan, die seit Jahrzehnten als Unruheherd gilt, wird offen von einer chinesischen Kolonialisierung gesprochen. In der Provinz befindet sich unter anderem die Hafenstadt Gwadar, in der aufgrund deren geostrategischer Bedeutung Milliarden seitens Peking hineingepumpt wurden. All dies geschah nicht von heute auf morgen und war von stetiger Unruhe begleitet. Das Volk der Belutschen wird seit Jahrzehnten vom pakistanischen Staat unterdrückt. Separatistische Gruppierungen, hauptsächlich marxistisch angehaucht, greifen immer wieder chinesische Stationen an und begehen Terroranschläge.
Ähnlich problematisch ist die Lage auch in den Nachbarprovinzen Khyber Pakhtunkhwa und FATA, den paschtunischen Stammesgebieten an der Grenze zu Afghanistan. Auch hier zieht es das pakistanische Militär samt Geheimdienst vor, die lokalen Paschtunen zu unterdrücken und jeglichen Aufstand zu zerschlagen, selbst wenn dieser in friedlicher Form stattfindet, wie es in den letzten Monaten der Fall war. Derartige Umstände machen deutlich, warum Imran Khans Worte im Kontext von Kaschmir für viele Menschen im eigenen Land unglaubwürdig erscheinen.
Lokale Interessen unterscheiden sich stets von geopolitischen Interessen
In dieser Hinsicht ist auch die Rolle eines weiteren Staates in der Region, nämlich Afghanistans, zu beachten. Die Kabuler Regierung gilt als enger Verbündeter Indiens. Dies hat eine gewisse Tradition, denn fast alle afghanischen Zentralregierungen der letzten vierzig Jahre pflegten eine Freundschaft mit Indien und eine Feindschaft mit Pakistan. Zum gleichen Zeitpunkt hatten alle aufständischen Gruppierungen – ob nun Mudschaheddin in den 1980ern oder die Taliban bis heute – aufgrund der Abhängigkeit zum Nachbarstaat ein enges, wenn auch nicht immer freundliches Verhältnis zu ebenjenen. Zeitgleich war der afghanisch-paschtunische Nationalismus, der die erwähnten Grenzprovinzen als illegal annektiert betrachtet, stets ein Dorn im Auge Islamabads. Jener Nationalismus keimte bereits früh in den ersten Tagen der afghanischen Republik in den 1970ern, als der erste Präsident des Landes, Mohammad Daoud Khan, mit dem Finger in die Wunde griff und Pakistans belutschische und paschtunische Regionen als Teile Afghanistans bezeichnete. Die Kabuler Regierungen, die seit 2001 an der Macht sind, pflegen diesen Nationalismus weiterhin. Als im vergangenen Jahr Pakistans Paschtunen lautstark demonstrierten, mischte sich Präsident Ashraf Ghani sogar mittels Twitter ein und drückte seine Solidarität aus. Ein Akt, der von pakistanischen Offiziellen als skandalöse Intervention betrachtet wurde. Den rebellischen Paschtunen, die sich dem gewaltfreien Protest verschrieben haben, wird spätestens seitdem in regelmäßigen Abständen vorgeworfen, Agenten des indischen oder afghanischen Geheimdienstes zu sein. In der innerafghanischen Debatte wird selbiges allerdings auch den aufständischen Kaschmiris vorgeworfen. Der Unterschied ist lediglich, dass sie als pakistanische Agenten bezeichnet werden.
Am wahrscheinlichsten ist wohl, dass niemand niemandes Agent ist. Viel mehr besteht die Tatsache, dass ein lokales Bestreben – etwa die Autonomie oder Unabhängigkeit der Kaschmiris, Belutschen oder Paschtunen – für einen Akteur zum Vorteil sein kann, und für den anderen eben nicht. Indien hat die Situation in Kaschmir zum Eskalieren gebracht. Der Widerstand der lokalen Bevölkerung ist nachvollziehbar und war vorauszusehen. Ähnliches ist auch in den paschtunischen Stammesgebieten der Fall. Beide Eskalationen haben Profiteure, und denen geht es nicht nur meistens, sondern immer nur um die eigenen Machtinteressen und weniger um das Schicksal der betroffenen Menschen.
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