Hong Kong wird von Festlandchina überflügelt. Seine Armutsraten sind hoch, es leidet unter Korruption und brutalem Kapitalismus. Es ist heute die teuerste Stadt der Welt. Die Menschen dort sind frustriert, paradoxerweise geben sie aber dem sozialistischen Beijing die Schuld für ihre Probleme und nicht dem Erbe des britischen Kolonialismus. ‚Jenseits der Grenzlinie‘ lassen Shenzhen, Shanghai, Beijing, Xiang und andere Städte Hong Kong auf nahezu jedem Gebiet hinter sich, beobachtet Autor und Journalist Andre Vltchek in seinem leidenschaftlich „pro-chinesischen“ Essay. Angesichts einer monochromen Flut chinaskeptischer Berichte hierzulande erlauben wir uns, ihn als kleinen knallroten Farbtupfer anzubieten. Übersetzung: Susanne Hofmann.
Als mein lieber Freund und großartiger Konzertpianist aus Beijing, Yuan Sheng, noch in New York lebte und dort an der renommierten Manhattan School of Music sein Klavierspiel aufnahm, konzertierte und lehrte, pflegte er, so erzählte er mir, abends zu weinen: „In den Vereinigten Staaten verleumden sie China. Das verletzte mich, ich fühlte mich dem schutzlos ausgeliefert.“
Er kehrte zurück nach Beijing, gab seine Green Card zurück und begann am Beijing Konservatorium zu lehren. Er bereute seine Entscheidung nie. „Beijing ist heute viel spannender als New York“, sagte er mir.
Es ist offensichtlich, dass Beijing boomt: intellektuell, künstlerisch; ja, in allen Lebensbereichen.
Yuans Freundin, die aus London dorthin zurückkehrte und Kuratorin am „Riesenei“, dem größten Opernhaus der Welt, wurde, erzählte mir:
“Ich saß früher frustriert in London und träumte von all jenen großartigen Musikern auf der ganzen Welt. Jetzt kommen sie alle zu mir. Alle wollen in Beijing auftreten. Diese Stadt kann über dein Schicksal entscheiden. Das hier ist ohne Übertreibung einer der wichtigsten Orte der Welt. Unter einem einzigen Dach, an einem einzigen Abend können wir in einem unserer großen Säle ein russisches Opern-Ensemble hören, in einem anderen eine chinesische Oper und eine bolivianische Folklore-Gruppe in einem Konzertsaal. Und das hier ist ja nur eines von Beijings Konzerthäusern.“
Wenn chinesische Künstler und Intellektuelle mit ihren Kollegen aus dem Westen darum wetteifern, wer den ersten Rang belegt, treten für gewöhnlich Beijing, Shanghai und Shenzhen ‚gegen‘ London, Paris und New York an. Hong Kong rangiert nur unter „ferner liefen“, es ist auf einmal ein verschlafenes Nest geworden.
Während die Hong Kong University und die Hong Konger City University früher die besten in China waren, bringen heute viele Festland-Hochschulen, darunter die Peking University und Tsinghua, deutlich mehr innovative, kreative Köpfe hervor. Ich habe an all diesen Universitäten Vorträge gehalten und kann bestätigen, dass die jungen Menschen in Beijing und Shanghai extrem diszipliniert und wissbegierig sind, während man in Hong Kong immer eine leicht arrogante Haltung des Sonderstatus und einen Mangel an Disziplin wahrnimmt.
Früher wurden die sogenannten „Meeresschildkröten“, also Studenten, die im Ausland und in Hong Kong studierten und dann nach Festlandchina zurückkehrten, wie Berühmtheiten behandelt. Doch heute ist es viel leichter, einen Job zu bekommen, wenn man einen Studienabschluss vom Festland hat.
Als ich kürzlich die Krawalle in Hong Kong filmte, sagte mir der Rezeptionist einer der großen Einkaufspaläste:
“Wir behandeln Besucher vom chinesischen Festland nicht gut. Und sie haben das Interesse an Hong Kong verloren. Früher kamen sie hierher, um unseren Wohlstand zu bewundern. Heute meiden die meisten von ihnen dieses Einkaufszentrum. Was wir haben, haben sie auch und oft noch besser. Wenn sie auf Reisen gehen, dann lieber nach Bangkok oder Paris.“
Heutzutage ist der Kontrast zwischen Xiang, Shanghai, Beijing und Hong Kong erschütternd. Die Infrastruktur auf dem Festland ist der in Hong Kong um Meilen voraus. Es gibt riesige öffentliche Bereiche und das Kulturleben ist avancierter als das in der früheren britischen Kolonie.
Während die chinesischen Städte auf dem Festland beinahe keine extreme Armut kennen (und sie bis zum Ende des Jahres 2020 ganz abschütteln wollen), sind in Hong Kong mindestens 20 Prozent der Menschen arm, viele können es sich schlicht nicht mehr leisten, in ihrer eigenen Stadt zu leben. Hong Kong ist der teuerste Ort der Welt. Dort nur sein Auto zu parken, kann leicht mehr als 700 US-Dollar im Monat kosten, und das deckt nur die Arbeitszeiten ab. Winzige Apartments kosten mehr als eine Million US-Dollar. Die Gehälter in Hong Kong sind aber nicht höher als die in London, Paris oder Tokyo.
In der Stadt herrscht ein extrem kapitalistisches System, das von korrupten Magnaten / Entwicklern ‚geplant‘ wurde. Das überholte britische Rechtssystem zielt ganz klar darauf ab, die Reichen und nicht die Mehrheit zu schützen. Dies war im Wesentlichen der Grund, warum das „Auslieferungsgesetz“ vorgeschlagen wurde: Um die Einwohner von Hongkong vor den ungezügelten, unantastbaren und nicht gewählten De-facto-Herrschern zu schützen.
Doch es existiert dieser “Deal“, der ausgehandelt wurde, ehe Hong Kong dorthin zurückgegeben wurde, wo es hingehört – nach China. „Ein Staat, zwei Systeme“. Das ist ein vorzüglicher Vertrag für die turbo-kapitalistischen Magnaten und für pro-westliche „Aktivisten“. Und zugleich ist er extrem schlecht für die durchschnittlichen Menschen in Hong Kong. Nach monatelangen, vom Westen gesponserten Unruhen wirbelt die Verwaltung von Hong Kong die Rechnung durcheinander.
Die jungen Hooligans kennen ihre Stadt kaum. Ich habe mit vielen von ihnen während der ersten Anti-Beijing-Aufstände 2014, der sogenannten „Regenschirm-Revolution“, gesprochen.
Völlig zurecht waren sie damals wegen des sinkenden Lebensstandards frustriert und sind es auch heute – frustriert auch über die Schwierigkeit, gut bezahlte Jobs zu bekommen und bezahlbaren Wohnraum zu finden. Sie sagten mir, „es gibt keine Zukunft für uns“ und dass „ihr Leben nirgends hinführt“.
Im Laufe des Gesprächs brach ihre Logik regelmäßig schnell zusammen. Während sie bemerkten, welch riesiger Fortschritt, Optimismus und Eifer in der Volksrepublik China zu beobachten war, unter der Führung der Kommunistischen Partei, forderten sie dennoch mehr Kapitalismus, der doch ihr Land ruinierte. 2014 und jetzt sind sie nur allzu bereit, die Kommunistische Partei zu verleumden.
Erzogen zu den oberflächlichen Werten der Selbstsucht und des Egoismus, verrieten sie nun ihr eigenes Land und riefen verräterische Kampagnen ins Leben und drängten ausländische Mächte, darunter die USA und das Vereinigte Königreich, dazu, sie „zu befreien“. All das nur für einen flüchtigen Moment der Berühmtheit, für einen „Selfie-Aufstand“.
Befreiung von wem? China greift (Pech für Hong Kong) nicht in Hong Kongs wirtschaftliche und soziale Belange ein. Wenn überhaupt, baut es neue Infrastruktur – wie eine gigantische Brücke, die jetzt Hong Kong mit Macau, einer ehemaligen portugiesischen Kolonie, verbindet, und ein Hochgeschwindigkeitszug-System, das Hong Kong mit mehreren Städten in Festlandchina verbindet.
Je mehr Zurückhaltung Beijing zeigt, desto mehr wird es von den Randalierern und den westlichen Medien für „Brutalität“ verurteilt. Je mehr U-Bahnstationen und öffentliches Eigentum die Aufrührer zerstören, desto mehr Sympathie fließt ihnen von deutschen, US-amerikanischen und britischen rechten Politikern zu.
Jahrzehntelang haben britische Kolonialherren die Menschen in Hong Kong erniedrigt und zugleich ihre Stadt in eine brutale, und nach asiatischen Maßstäben, rücksichtslose und rein auf das Geschäft ausgerichtete Megastadt verwandelt. Jetzt sind die Menschen verwirrt und frustriert. Viele fragen sich, wer sie denn eigentlich sind.
Für Hong Kong ist das ein schwieriger Augenblick des In-sich-Gehens.
Selbst jene, die „zurück zum Vereinigten Königreich“ gelangen wollen, sprechen kaum Englisch. Fragt man sie, weshalb sie aufbegehren, brummeln sie etwas von „Demokratie“ und „Freiheit“ im Westen, und dem „bösen Beijing“. Es werden Flyer obskurer, extremistischer, japanischer Sekten verteilt. Es herrscht ein einziges intellektuelles Chaos. Die Randalierer haben keine Ahnung von Syrien, Afghanistan, Venezuela – Länder, die vom Westen ruiniert werden.
Anführer wie Joshua Wong wirken stolz mit den westlichen Botschaften zusammen. Heute ist es gefährlich, den chinesischen Sozialismus öffentlich zu loben – Menschen werden von „pro-demokratischen“ Aufständlern für derartige „Verbrechen“ verprügelt.
Das hoch gebildete und übertrieben höfliche Singapur zieht buchstäblich hunderte ausländischer Firmen aus Hong Kong ab. Die Menschen dort sprechen Englisch und Mandarin. In Hong Kong spricht die überwiegende Mehrheit nur Kantonesisch. Viele Ausländer ziehen auch nach Shanghai. Nicht nur das Big Business: Shanghai ist heute voller europäischer Servicekräfte.
Selbst der Tourismus in Hong Kong ist nach aktuellen Zahlen um 40 Prozent zurückgegangen.
Absurderweise wollen die Randalierer genau das, was die Kommunistische Partei Chinas bietet: Sie möchten einen echten Kampf gegen die Korruption, wie auch einen entschlossenen Versuch, die Wohnungskrise zu lösen, neue Arbeitsplätze zu schaffen und mehr öffentliche Daseinsvorsorge zu bieten. Sie wollen bessere Bildung und ganz grundsätzlich ein besseres Leben. Sie wollen „Shanghai oder Beijing“, aber sie sagen, dass sie eine Kolonie des Vereinigten Königreichs oder ein Ableger der USA sein wollen.
Sie definieren grob kommunistische Ziele und rufen dann laut, dass sie gegen den Kommunismus sind.
Nachdem ich Hong Kong verlassen hatte, besuchte ich in Shanghai eine großartige Sozialrealismus-Ausstellung im kultigen, monumentalen China Art Museum. Das Land ist unter der Führung von Präsident Xi wieder zuversichtlich, revolutionär und zunehmend sozialistisch; das verstört den verfallenden Westen. China ist ein stolzes Land mit großartigen, eleganten Städten, die vom Volk für das Volk erbaut wurden, das ländliche China wird zunehmend nach ökologischen Gesichtspunkten bewirtschaftet. Die intellektuellen und sozialen Errungenschaften Chinas sprechen für sich.
Der Kontrast zwischen Hong Kong und Shanghai ist enorm und nimmt weiter zu.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich mag Hong Kong. Mich verbindet eine mehr als 20-jährige Geschichte mit dieser neurotischen und verwöhnten alten Dame. Ich spüre ihren Puls. Ich liebe die alten Trambahnen und Fähren und abgelegenen Inseln.
Doch Hong Kongs Charme liegt in seinem Verfall.
Die Schönheit von Festlandchina ist frisch. China ist eine der ältesten Kulturen der Welt und eine der tiefgründigsten. Aber sie wirkt lebendig, sie steckt voller Hoffnung und positiver Energie. Zusammen mit seinem engsten Verbündeten, Russland, kämpft China nun für die ganze Welt. China ist nicht selbstsüchtig.
Hong Kong kämpft nur für seine vage definierte Einzigartigkeit. De facto kämpft nicht Hong Kong, denn die meisten Menschen da wollen gerne dort sein, wo sie wirklich hingehören: in ihrer geliebten Nation China. Nur eine Bande mit Gesichtsmasken kämpft. Kurzum: eine ziemlich große Gruppe pro-westlicher Extremisten, deren Anführer ihre Prominenz über das Interesse des Volkes stellen.
Hong Kong hat kein „Riesen-Ei“; kein berühmtes Theater, in dem die großartigsten Musiker auftreten und die Welt in Staunen versetzen. Sein einziges Kunstmuseum ist wegen Umbauarbeiten geschlossen, war es jahrelang, erst Ende 2019 soll es wieder eröffnen. Das Kulturleben in Hong Kong ist oberflächlich, ja lachhaft gemessen daran, dass die Stadt damit wirbt, „Asiens Weltstadt“ zu sein. Hier lassen sich keine spannenden Entdeckungen machen. Alles dreht sich nur um Business. Big, big Business. Und den schleichenden Verfall.
Beijing könnte Hong Kong locker „befreien“ und ihm eine Zielrichtung, Stolz und eine Zukunft geben.
Doch stattdessen wollen junge Randalierer von Washington befreit werden. Sie wollen von London re-kolonialisiert werden. Und sie scheren sich nicht darum, was ihre Mitbürger wollen. Das spiegelt eindeutig ihre Vorstellungen von „Demokratie“ wider. Sie verstehen darunter nicht die „Herrschaft des Volkes“, sondern die „Herrschaft des Westens“.
Nicht nur empfinden sie Ablehnung für ihr Land, sondern verachten auch ihre Mitbürger und schüchtern diejenigen ein, die nur ein sinnvolles Leben führen wollen, das auf chinesischen Werten beruht.
Titelbild: Jack Hong/shutterstock.com
Andre Vltchek ist Philosoph, Romancier, Filmemacher und investigativer Journalist. Er lebt in Ostasien sowie im Mittleren Osten und verfasste Berichte über Kriege und Konflikte in Dutzenden Ländern. Drei seiner jüngsten Buchveröffentlichungen sind „The Great October Socialist Revolution“, ein Tribut an die Oktoberrevolution, „Aurora“, ein revolutionärer Roman, und „Exposing Lies Of The Empire“. Hinzu kommen seine Dokumentation über Ruanda und die Demokratische Republik Kongo mit dem Titel „Rwanda Gambit“ sowie sein Film „On Western Terrorism“ mit Noam Chomsky. Weitere Informationen unter andrevltchek.weebly.com.