Am vergangenen 17. Oktober veröffentlichte die Londoner Financial Times ein Interview mit Chiles Präsident Sebastián Piñera, in dem das Staatsoberhaupt voller Stolz sinnierte, Chile sei eine „Oase” mit einer selten „stabilen Demokratie“ in Lateinamerika. Ein Kommentar von Frederico Füllgraf, geschrieben während des Ausnahmezustands und der Ausgangssperre.
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Wörtlich sagte Piñera: „Schauen Sie sich Lateinamerika an. Argentinien und Paraguay befinden sich in einer Rezession, Mexiko und Brasilien stagnieren, Peru und Ecuador stecken in einer tiefen politischen Krise. In diesem Kontext scheint Chile doch eine Oase zu sein, weil wir eine stabile Demokratie haben, die Wirtschaft wächst, wir schaffen Arbeitsplätze, verbessern die Löhne und halten das makroökonomische Gleichgewicht aufrecht”.
Keine 24 Stunden später brach am Freitag, dem 18. Oktober, ein Volkssturm los, der Piñeras Worte und das weltweite Credo von Chile als neoliberalem Musterland in Rauch auflöste.
Der chilenische Tsunami: Vom U-Bahn-Protest zum Generalstreik
Der Aufstand begann mit der Ankündigung einer Fahrpreiserhöhung der U-Bahn Santiagos, die mit einem Durchschnittspreis von rund 80 Eurocent je Fahrschein zu den teuersten auf dem amerikanischen Kontinent zählt. Die Ankündigung wurde von Studenten und Schülern mit Überspringen und Zerstörung der Entwertungssperren beantwortet. Das Vorgehen stieß auf umgehende Sympathie der übrigen Bevölkerung, die millionenfach täglich die Metro benutzt und als Mindestlohnempfänger 1/8 ihrer Monatseinkünfte für die U-Bahnbeförderung hinblättern muss.
Der Protest rief die Bereitschaftspolizei der Carabineros auf den Plan, die – bekannt für unveränderte Gewaltausübung seit der Pinochet-Diktatur – Jugendliche, Frauen und Senioren wahllos und blutig niederschlug. Doch vielleicht war es nicht einmal die rohe Gewalt der Carabineros – vom Volksmund despektierlich Pacos (dumme Wiederkäuer) genannt – die das Fass der Geduld zum Überlaufen brachte, sondern Wirtschaftsminister Juan Andrés Fontaines arrogante Phrase, die Chilenen sollten nicht gegen den Service der U-Bahn meckern, sondern ein paar Stunden eher aus dem Bett springen.
Man sollte wissen, Fontaine gehört nicht nur wie viele zu Pinochets ehemaligen Beratern, sondern zu den von seinen demokratischen Nachfolgern ebenfalls in den Staatsdienst übernommenen Chicago Boys, die seit über 45 Jahren Chile ohne jede Spur schlechten Gewissens den skrupellosesten Wirtschaftsliberalismus verabreichen. Doch als der Volkszorn sich nach wenigen Tagen landesweit verbreitet hatte, folgte Fontaine dem Beispiel Piñeras und bat öffentlich um Vergebung für seine rabiate Entgleisung. Der Präsident hatte sich zwischenzeitlich immerhin für seine „Unvorbereitetheit“ und Inkompetenz im Umgang mit der Krise entschuldigt, jedoch nicht seinen Schlachtruf zurückgenommen, demzufolge Chile sich im „Kriegszustand“ befände.
In weniger als 48 Stunden waren in Santiago mindestens 5 U-Bahnhöfe zerstört, 4 Züge in Brand gesteckt, Barrikaden quer durch die Hauptstadt errichtet worden. Die Proteste griffen über auf Concepción – der zweitgrößten Millionenstadt in Zentralchile – und weiteten sich nach Süden und Norden aus, die bald durch brennende Straßensperren vom übrigen Land abgeschnitten waren.
Da befahl Präsident Piñera in der Nacht zum 19. Oktober den Ausnahmezustand, den Einsatz des Heeres und eine Ausgangssperre; zunächst für Santiago, die im Nachhinein auf Concepción, Valparaíso und die in Nordchile rebellierende Stadt La Serena ausgedehnt wurden und seitdem täglich neu verordnet werden. Seitdem hat General und Strategie-Experte Javier Iturriaga das Sagen über die innere Sicherheit Chiles und die private Unversehrtheit seiner Bürger. Mit den Straßensperren kam tagelang der Inlands-Busfernverkehr zum Erliegen, ihm folgte die massenhafte Streichung von Inlands- und Auslandsflügen. Rund 24 Stunden lang war Chile zwischen dem 20. und 21. Oktober von der Außenwelt isoliert.
Doch Ausnahmezustand, Militäreinsatz und Ausgangssperre waren gegen die Proteste wirkungslos. Sie hatten im Gegenteil den Effekt, als ob man Benzin in das lodernde Feuer gießt. Der Aufstand nahm nun Formen massenhafter Brandanschläge und Plünderungen an. Den Schäden, die sich nach ersten Schätzungen angeblich auf 200 Millionen US-Dollar belaufen, folgten Anschläge auf öffentliche Gebäude, Banken und Luxushotels – in einem Satz: auf alles, was als „systemerhaltend“ und „anrüchig“ gilt.
Vereinzelt kam es zwar zu vermeintlichen Verbrüderungsszenen zwischen Militär und Demonstranten – wie im zentralchilenischen Talca und anderen Orten, an denen Soldaten mit den Aufständischen tanzten – doch die Brutalität der „Ordnungshüter“ ist nach wie vor die Regel in diesen Tagen, an denen sogenannte Versöhnungsszenen eher als kalkulierte Inszenierung des Oberkommandos der Streitkräfte zur Infiltrierung und Zähmung der Proteste durchschaut werden.
Am Abend des 24. Oktober veröffentlichte das Nationale Institut für Menschenrechte (NHRI) eine neue Bilanz von Sebastián Piñeras „Kriegserklärung“: 2.840 Inhaftierte, davon ein Drittel in der Hauptstadt Santiago und 1.756 Menschen in den übrigen Landesteilen. Dem neuen Bericht zufolge hat die dabei wütende Repression bisher 582 Verwundete – davon allein 295 Opfer von Schusswaffen – und 18 Tote zu verantworten. Menschenrechts-Organisationen reichten bei der Justiz 67 Klagen gegen den Staatschef, seinen Innenminister Andrés Chadwick, die Polizei und das Militär ein; darunter allein 12 Klagen wegen sexueller Belästigung und Gewalt gegen festgenommene Frauen auf Polizeirevieren. Die Protestbewegung forderte daraufhin den umgehenden Rücktritt Piñeras und Chadwicks.
Seit dem 23. Oktober ist Chile von einem Generalstreik betroffen, der das Gesundheits-, Bildungs- und das Transportwesen lahmgelegt hat. Auf der für Freitag, den 25. Oktober, von den Aufständischen geplanten Massendemonstration in Santiago de Chile wird wohl mit Nachdruck der Rücktritt Piñeras und die Ausrufung einer Verfassunggebenden Versammlung gefordert werden, die Chile endgültig vom Erbe der Pinochet-Diktatur befreien soll.
Kollaps der neoliberalen „Oase“ und ihrer Heilslehre
Nun fragen sich Regierungen, Medien, Forschungsinstitute, Denkfabriken, Wirtschafts- und Sicherheitsexperten im Ausland, was zum Teufel passiert in Chile? Wie ist es möglich, dass das nicht nur in Lateinamerika als „Modell“ propagierte, sondern weltweit vielgepriesene „Drehbuch“ kapitalistischer Markt- und Staatsführung buchstäblich über Nacht in Schutt und Asche gelegt wurde?
Die Ereignisse seit dem 18. Oktober haben einwandfrei Piñeras wackeliges Credo geleugnet und offenbart, dass das Unwohlsein in der Bevölkerung sich in explosiver Weise angestaut hatte und von einer halbsouveränen Demokratie herrührt, die nicht vom Primat des republikanischen Bürgerrechts, sondern von einer skrupellosen Tyrannei des Marktes geprägt ist, die schlicht und ergreifend nicht mehr toleriert wird.
Wie ging jedoch Präsident Piñera bisweilen damit um? Sebastián Piñera kehrte Anfang 2018 zum zweiten Mal als Präsident einer sinnbildlichen doppelten Minderheit in den La-Moneda-Palast zurück. Nämlich als politisch geschwächter Präsident, der eine Stichwahl mit den Stimmen von kaum 26,5 Prozent der Wahlberechtigten gewann und sein Amt ohne Mehrheit im Parlament antrat.
Er bildete ein Kabinett mit einem ähnlichen Profil wie das seiner ersten Regierung (2010-2014), in der jedoch jetzt noch mehr Geschäftsleute, Unternehmensvorstände und Berater, sowie Wissenschaftler rechter Think Tanks überwiegen, die Politik und Staatsführung aus der Perspektive und Agenda der CEO-Etagen konzipieren. Unter diesen Voraussetzungen fühlten sich nahezu 65 Prozent der Chileninnen und Chilenen von Piñera – zumal als einer von 12 Milliardären im Andenland, dem vielfach rechtswidrige, unehrenhafte, zuweilen von der Justiz gedeckte kriminelle Geschäfte angelastet werden – nicht vertreten.
Das jüngste Rasterbild der Superreichen in Chile ergab, dass sich deren geballtes Privatvermögen – mit einem 3-prozentigen Wachstum gegenüber dem Vorjahr – Ende 2018 auf nahezu 500 Milliarden USD belief. Nach Schätzungen der Boston Consulting Group (BCG) soll dieses Vermögen bis 2023 gar die schwindelerregende Summe von 700 Milliarden US-Dollar erreichen; ein Zustand, der skandalöse Konturen annimmt, wenn diese Zahlen der wachsenden Verschuldung der Durchschnittschilenen und den um sich greifenden Selbsttötungen seiner verarmten Rentner gegenübergestellt werden.
Doch Piñera, seine Milliardäre, ihre CEOs und neoliberalen „Thinker“ haben nun seit Ende der Pinochet-Diktatur 30 Jahre lang die Blinden im Land gemimt. Sie wollten von den Auswirkungen ihrer Raubbau-Doktrin und -Praxis schlichtweg nichts wissen; weshalb auch eine der Parolen der Aufständischen besagt, „es geht nicht um 30 Pesos, sondern um 30 Jahre!“.
Wie der argentinische Soziologe Atilio Borón in einem Beitrag zum Aufstand in Chile zu Recht vermerkt, hat der Kapitalismus in sehr wenigen Ländern die Grundrechte der Menschen derart skrupellos zerstört wie in Chile. Wasservorräte, Bergbau, Wälder, Gesundheit, Bildung, soziale Sicherheit, Verkehr, Wohnen und selbst Chiles Küste wurden während der Pinochet-Diktatur von den Freunden des Regimes privatisiert, unersättlich angeeignet und mit neuem Schwung in die vermeintliche “Demokratie” als Privateigentum hinübergerettet. Und von mehreren Regierungen mit sozialistischen PräsidentInnen, wie Michelle Bachelet, geduldet.
Der grausame und unmenschliche Marktfundamentalismus führte dazu, dass aus Chile das Land mit der höchsten Haushaltsverschuldung in Lateinamerika wurde; insbesondere seiner Studenten, die im Durchschnitt 25.000 Euro für eine Universitätsausbildung ausgeben und hochverzinste Bankkredite aufnehmen müssen und verschuldet ins Berufsleben treten – oder sich das Leben nehmen.
Nach Angaben einer aktuellen Studie der Weltbank befindet sich Chile neben Ruanda unter den acht ungleichsten Ländern der Welt. Im neoliberal ausgeplünderten und beherrschten Andenland besitzt das reichste eine Prozent der Chilenen 26,5 Prozent des Nationaleinkommens, während 50 Prozent ihrer ärmsten Landsleute sich mit gerademal 2,1 Prozent der Ressourcen zufriedenstellen müssen. So wundert die Aussage einer Studie der gewerkschaftsnahen Fundación Sol nicht, wonach „es kaum der Hälfte der Arbeitnehmer gelingt, ihre … Familie aus der Armut zu befreien“.
Zusammenfassend lässt sich – so Borón – sagen, dass in Chile sich ein explosives Gemisch aus einer sogenannten freien, betäubungslosen Marktwirtschaft und einer vollends delegitimierten, nur ihren Namen beibehaltenden Demokratie herausgebildet hat. Diese Kombination entartete zu einer Plutokratie, die bis vor wenigen Tagen … an der Resignation, Demoralisierung und Apathie der Bürger gemessen wurde, die obendrein von der Medienoligarchie der herrschenden Klasse geschickt getäuscht wurde.
„Aber nicht mehr lange“, hatte Borón warnend angemerkt. Trotz Piñeras Zurücknahme der U-Bahn-Fahrpreiserhöhung und seinem Angebot punktuellen, sozialen Ausgleichs durchschauen die Bürger den oberflächlichen Anstrich. In Chile deuten die Zeichen weiterhin auf Sturm.
Aller Voraussicht nach gibt es ein Südamerika vor und eines nach diesem Oktober 2019 – nämlich dem Aufstand in Ecuador, dem politischen Tsunami in Chile, der Wiederwahl von Evo Morales und dem voraussichtlichen Wahlsieg des Peronismus am Sonntag, dem 27.Oktober, in Argentinien.
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