In ihrem aktuellen Monatsbericht empfiehlt die Bundesbank eine schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters bis 2070 auf 69⅓ Jahre. Begründet wird dies vor allem mit der angeblich stark steigenden Lebenserwartung der Bundesbürger. Doch diese Argumentation ist nicht haltbar. Seit einigen Jahren steigt die offizielle statistische Lebenserwartung nämlich nicht, sondern sie stagniert. Zudem ist die statistische Vorhersage der Lebenserwartung keine genaue Berechnung, sondern eine höchst ungenaue und manipulationsanfällige Modellrechnung, die sich schon in der Vergangenheit als äußerst fehlerbehaftet herausgestellt hat. Von Jens Berger.
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Die Themen Rentenpolitik und Demographie sind seit Gründung der NachDenkSeiten Schwerpunktthemen unserer Seite. In zahlreichen Artikeln (z.B. hier, hier, hier oder hier) haben wir uns bereits kritisch mit der Erhöhung des Renteneintrittsalters beschäftigt. Erst im Juni hat Albrecht Müller anhand einer Ausgabe des Presseclubs auf die Manipulation bei der Debatte um die Erhöhung des Renteneintrittsalters hingewiesen. Diese Artikel sind auch heute noch ohne Abstriche gültig und bieten eine breite Vertiefung des Themas.
Es gibt wohl keine statistische Größe, die derart missverständlich ist, wie die Angaben zur Lebenserwartung. Bei der Ermittlung dieser Zahl wird anhand der vergangenen und aktuellen Sterbetafeln mit Modellannahmen die Sterbehäufigkeit in der Zukunft prognostiziert. Was auf den ersten Blick wie eine präzise Berechnung aussehen mag, ist bei näherer Betrachtung jedoch eine recht willkürliche Modellrechnung, bei der im Wesentlichen die Entwicklungen der Vergangenheit auf die Zukunft extrapoliert werden. Hinzu kommt, dass auch die „gesicherten“ Daten der Vergangenheit alles andere als präzise und verlässlich sind.
Die einzige wirklich größtenteils präzise Größe bei der gesamten Modellrechnung sind die offiziell gemeldeten Todesfälle in den jeweiligen Berichtsjahren. Das erste Problem taucht aber bereits an dem Punkt auf, an dem man aus den gemeldeten Todesfällen die jährliche Sterblichkeitswahrscheinlichkeit einer bestimmten Altersgruppe (Sterbetafeln) berechnen will. Denn dafür bräuchte man eine zuverlässige Aufstellung, wie viele Bürger es in den jeweiligen Geburtsjahrgängen überhaupt gibt. Und genau hier weist das statistische Modell bereits die erste große Lücke auf. So hat die letzte große Volkszählung (Zensus 2011) ergeben, dass die offizielle Bevölkerungszahl um mehr als 1,5 Millionen Einwohner zu hoch ist. Das wäre für die Berechnung der Sterbetafeln nicht so dramatisch, wenn sich diese „Genauigkeitsdiskrepanz“ gleichmäßig auf alle Altersgruppen verteilen würde. Aber eben das ist nicht der Fall.
Wie der Statistiker Gerd Bosbach auf den NachDenkSeiten ausgeführt hat, waren die alten Zahlen vor allem bei ganz hohen Altersgruppen extrem ungenau. So sollen beispielsweise die alten offiziellen Bevölkerungszahlen für Männer über 90 um rund 40% zu hoch gewesen sein. Mathematisch bedeutet dies, dass die tatsächliche Sterberate – vor allem in den älteren Jahrgängen – deutlich höher ist als offiziell angegeben und damit auch die tatsächliche Lebenserwartung deutlich niedriger als die offizielle Angabe ist. Diese statistischen Fehler potenzierten sich modellbedingt über die Jahre. Daher müssen auch die Daten der Vergangenheit mit einem großen Fragezeichen versehen werden.
Offenbar wurde diese „Genauigkeitsdiskrepanz“ mittlerweile in den offiziellen Statistiken berücksichtigt – denn seit der Veröffentlichung der neuen Zensusdaten im Jahre 2013 stagniert die vom statistischen Bundesamt vermeldete Lebenswartung. Die aktuellsten Daten zur für die Rentenprognosen maßgeblichen Lebenserwartung ab dem 65. Lebensjahr ist sogar rückläufig. Die maßgebliche Größe – so ungenau sie sein mag – spricht also ganz explizit gegen die Modellrechnung, auf deren Basis die Bundesbank eine Erhöhung des Renteneintrittsalters begründet.
Quelle: Destatis
Wie die Bundesbank manipuliert hat, zeigt die folgende Grafik aus ihrem Monatsbericht. Offenbar hat man ganz einfach die – statistisch wahrscheinlich fehlerhaft berechnete – Entwicklung von 1970 bis 2005 linear in die Zukunft extrapoliert und dabei die Abschwächung der Steigerung ab 2010 vollkommen ignoriert. Besonders auffällig ist auch, dass die aktuelle Stagnation und der Rückgang der Lebenserwartung von 2016 auf 2017 in der Grafik der Bundesbank überhaupt nicht berücksichtigt wird. Die durchgezogene Linie, mit der die „gesicherte“ Entwicklung aufgezeigt werden soll, weist am Ende eine Steigerung auf, die jedoch nicht durch die Zahlen des Statistischen Bundesamts gedeckt ist. Diese Grafik ist eine Manipulation.
Quelle: Bundesbank
Auch die offiziellen Zahlen des statistischen Bundesamts sind jedoch nur ein Ergebnis von Modellrechnungen. Das ist in der Sache auch unvermeidlich, da niemand heute wissen kann, wie sich die Sterblichkeit in den kommenden Jahren entwickelt. Jede stärkere Grippewelle könnte die Zahlen schon im kommenden Jahr Makulatur werden lassen und ob die in den Modellen verwendeten Annahmen zutreffen, ist ebenfalls unsicher. Halbwegs gesicherte Berechnungen von Versicherungsgesellschaften (die mit den zu hohen Zahlen jedoch prächtige Geschäfte machen) und Forschern der Universität in Princeton weisen sogar einen deutlichen Rückgang der Lebenserwartung in zahlreichen westlichen Industrieländern und insbesondere in Deutschland aus. Als Begründung wird eine „große Ungleichheit der Medizin- und Gesundheitsversorgung“ genannt. Insbesondere für Deutschland mit seinem immer schlechter und ungleicher werdenden Gesundheitssystem dürfte dieser Faktor eine wichtige Rolle spielen.
Quelle: Faz.net
Laut einer aktuellen WHO-Studie hat Deutschland ohnehin die niedrigste Lebenserwartung aller 22 westeuropäischen Länder. Was gerne verschwiegen wird – nicht Zivilisationskrankheiten wie Bluthochdruck oder Fettleibigkeit, sondern Armut, Arbeitslosigkeit und schlechte Bildung sind die größten Risiken für die Gesundheit. Forscher des Max-Planck-Instituts haben erst jüngst in einem Artikel im angesehenen British Medical Journal dargelegt, dass Arbeitslosigkeit das Sterberisiko verdoppelt. So dürfte die Agenda-Politik der Bundesregierung – neben den beschriebenen methodischen Fehlern der Statisik – zeitversetzt ganz maßgeblich dazu beigetragen haben, dass die Lebenserwartung der Deutschen ihren Höhepunkt offenbar erreicht, wenn nicht gar überschritten hat. Diese wichtigen Faktoren tauchen jedoch nicht in den Modellen des statistischen Bundesamts und schon gar nicht in der manipulativen Prognose der Bundesbank auf. Und so werden die toxischen Nebenwirkungen der neoliberalen Politik verschwiegen, um für eine Verstärkung ebenjener im wahrsten Sinne des Wortes tödlichen Politik zu trommeln.
Bild: Cherries/shutterstock.com