Eine Welt voller Sekten und abstrusen Glaubensgemeinschaften – mit schlimmen Folgen für uns.

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Wir sind geneigt zu glauben, im Zeitalter der Aufklärung zu leben. Tatsächlich wird unser Leben maßgeblich von Irrglauben und sektenartigen Glaubensgemeinschaften bestimmt. Auf zwei Beispiele für umtriebige Irrlehren machten Nachdenkseiten-Leser gerade aufmerksam: auf Angela Merkels Sparappell verbunden mit der Klage, wir lebten über unsere Verhältnisse, und auf die angeblich geplante Wiedereinführung einer neuen Deutschen Mark. Albrecht Müller

Zunächst zum zweiten Punkt, zur angeblich geplanten Wiedereinführung einer neuen Deutschen Mark:

Der NachDenkSeiten-Leser J.H. machte auf den Blog hartgeld.com aufmerksam. Dort war die neue D-Mark für das vergangene Wochenende vorausgesagt. Die dortigen Einträge sind unappetitlich. Wer sich dafür interessiert, möge die Information in der E-Mail von J.H. nutzen. Siehe Anlage 1.

Im konkreten Fall wird der Irrglaube benutzt, um Reklame für den Verkauf von Gold und von anderen Hartmetallen zu machen. Der Schaden entsteht möglicherweise bei Einzelnen, die sich bei ihren privaten Dispositionen von diesen Irrlehren leiten lassen. Das ist anders beim zweiten Beispiel, den neoliberalen Glaubensgemeinschaft. Die Folgen dieser Irrlehren haben wir alle schon seit fast drei Jahrzehnten zu tragen.

Zu den neuerlich aktivierten Irrlehren der neoliberalen Bewegung und ihren Folgen:

„Wie vermutet kommen nach der NRW-Wahl die Sparappelle der Politik. Was dabei wirklich wütend macht, ist das abgrundtief dumme Gerede davon, dass Deutschland über seine Verhältnisse gelebt haben soll, und das seit langem“, kommentiert Jürgen K. den Bericht bei zeit.de vom Auftritt Angela Merkels beim ökumenischen Kirchentag:
“Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die Bürger auf schmerzhafte Einschnitte vorbereitet. Deutschland habe seit vielen Jahrzehnten über seine Verhältnisse gelebt, sagte die CDU-Vorsitzende beim Ökumenischen Kirchentag in München.”
Quelle: ZEIT Online

Zur Zeit werden eine Reihe der gängigen Glaubenssätze der neoliberalen Bewegung aus der Kiste geholt und nicht nur für unser Land, sondern auch für die europäische Union und einzelner anderer Länder zum Maßstab des Handelns gemacht:

  • Es wird als schlüssig unterstellt, auch der Staat könne Schulden abbauen, wenn gespart wird. (Denkfehler 31)
  • Es wird unterstellt, wir hätten über unsere Verhältnisse gelebt. (Denkfehler 11)
  • Es wird unterstellt, der Staat sei zu fett geworden (Denkfehler 36)
  • Es wird immer noch unterstellt, Arbeit müsse billiger werden (Denkfehler 21) und
  • die Lohnnebenkosten seien zu hoch (Denkfehler 22)

Die Hinweise auf Denkfehler beziehen sich auf Texte in meinem Buch “Die Reformlüge – 40 Denkfehler, Mythen und Legenden, mit denen Politik und Wirtschaft Deutschland ruinieren”. Gesamtübersicht siehe hier. Das Buch stammt von 2004. Frau Merkel und mit ihr eine Reihe anderer Politiker und Wissenschaftler haben damals schon die gleichen Sprüche gemacht wie heute.
Einschlägige Denkfehler, zum Beispiel die Nummer 31 „Wer spart, baut Schulden ab“ sind auch in den NachDenkSeiten eingestellt. Siehe den Auszug aus: “Die Reformlüge. 40 Denkfehler, Mythen und Legenden, mit denen Politik und Wirtschaft Deutschland ruinieren.” (Seiten 289 – 312)

Der entscheidende Denkfehler bei Angela Merkel, Wolfgang Schäuble, Roland Koch und wohl auch bei der EU-Kommission. Sie glauben, die Sparabsicht sei ausreichend für den Sparerfolg. Das gilt in der Regel bei einzelnen Individuen. Es gilt nicht für ganze Volkswirtschaften. Sie machen in einer konjunkturell kritischen Situation mit der Sparabsicht und ihrer fiskalischen Umsetzung den Sparerfolg zunichte. Das ist unsere aktuelle Situation: wenn jetzt in Europa aufgrund der Schwierigkeiten in Griechenland und wegen der Defizite in den öffentlichen Haushalten, die wesentlich durch die Rettungsaktionen mitverursacht sind, gespart und zusammengestrichen wird, dann besteht wirklich die Gefahr einer deflationären Entwicklung. Und dann wird am Ende das Steueraufkommen zusammenbrechen und die Notwendigkeit staatlicher Hilfen gegen Arbeitslosigkeit wird steigen. Das ist dann die fortgesetzte wahnsinnige Folge der herrschenden Irrlehren.

Auch die Auseinanderentwicklung der Wettbewerbsfähigkeit der einzelnen Volkswirtschaften Europas mit all ihren dramatischen Folgen ist die direkte Auswirkung von Denkfehlern. Insbesondere in Deutschland hat man die Vorstellung gepflegt, man müsse die Löhne und die Lohnnebenkosten senken (Denkfehler 21 und 22), um erfolgreich zu sein. Man hat hier auch die Vorstellung gepflegt, wir lebten vom Export (Denkfehler 17).

Die Folgen dieser Irrglauben sind wirklich gravierend: Wir haben eben nicht über unsere Verhältnisse, sondern unter unseren Möglichkeiten gelebt. Das ist insbesondere sichtbar an der Entwicklung der Lohnquote und der Reallöhne. Es ist sichtbar an der Zerstörung der sozialen Sicherheit – eine direkte Folge der permanenten Agitation gegen die so genannten Lohnnebenkosten, die ja bekannter Weise nichts anderes sind als die Beiträge für die Sozialversicherungen, also für die Vorsorge fürs Alter und gegen Krankheit.
Übrigens: Die neoliberale Vorstellung, man könne konjunkturelle Krisen durch Lohnsenkung lösen, ist eine der vielen Irrglauben der herrschenden Lehren.

Es ist erstaunlich, wie erfahrungsresistent unsere Politiker und unsere Wissenschaftler sind. Das hat vermutlich viel damit zu tun, dass die mit ihnen verbundenen Oberschichten und großen Finanzinstitutionen von der Zerstörung der Lebensgrundlagen der Mehrheit profitiert haben, zumindest vorübergehend.
Es hat aber vermutlich auch einfach damit zu tun, dass Mitglieder von Sekten sich gegenseitig stützen und solche Glaubensgemeinschaften sich gegenseitig vor Erkenntnissen schützen, die den eigenen Glauben gefährden könnten.
Das könnten wir hinnehmen, wenn die neoliberale Glaubensgemeinschaft in ihrer Wirkung ähnlich harmlos wäre wie die Agitation der Hartgeldbefürworter. Es ist aber leider nicht so. Die Irrlehren der neoliberalen Bewegung haben schon Millionen Menschen die ökonomische Basis geraubt – und die soziale Sicherheit sowieso. Und sie sind mitverantwortlich für Krise im Euro-Raum.

Empfehlung: Machen Sie bei Ihrer Aufklärungsarbeit klar, dass es sich bei den neoliberalen Vorstellungen nicht um rationale Konzepte handelt sondern um Irrlehren.

Anlage 1:
Mail von NDS-Leser J.H. vom 15.5.:

Aufmerksam gemacht durch Jens Berger im Spiegelfechter wurde ich dieses (lange) Wochenende auf den folgenden Block von Hartgeld.com aufmerksam.
In diesem wurde die sofortige Wiedereinführung einer neuen Deutschen Mark für dieses Wochenende vorausgesagt.
Auch wenn der Blog als solches an Absurdität kaum zu überbieten ist, sollten einem die Inhalte dennoch zu denken geben.
Wieder wird der Misesche-Crack-up-Boom herbeigesehnt und es wird panikartige Stimmung verbreitet.
Jeder noch so kleine Vorfall wird als Indiz überinterpretiert, so z.B. Betriebsversammlungen in Banken, Nicht-Verfügbarkeiten von Devisen (, die man als Rettung sieht), kritische Argumente finden sich nicht oder werden lächerlich gemacht.
Wie in der Szene üblich wird der Staat als ausschließlich korrupt und böse gesehen und insbesondere wartende in der Schlange vor dem Münchner Edelmetallhändler “pro aurum” geben sich jeden Anlass zur Self-Fulfilling-Prophecy. Man wolle den Sparer um sein Geld bringen u.s.w.
Da die vorhergesagte Apokalypse gestern abend (natürlich) nicht eingetreten ist, wird sie ähnlich den Jehovas Zeugen eben auf das nächste Wochenende verschoben und da die Datenlage zunehmend dünner wird kommt des Pudels Kern nun zum Ausdruck. Siehe dazu Graphik beim Eintrag unter dem 15.5..
Verfassungsfeindlicher geht es kaum noch und die Ähnlichkeiten zu Propaganda aus den dreißiger Jahren ist schlichtweg erschreckend.
Jens Berger hat grundsätzlich recht, dies als Produkt Verwirrter anzusehen. Dennoch sollten wir uns des Nährbodens bewusst sein, auf dem diese Gemeinden entstehen.
Die Möglichkeit, wie schnell ein entsprechender rechter Populist nach ausreichender, durch die Schuldenbremse kommender Austerität Stimmen gewinnen könnte, macht mir Angst!
Bitte machen Sie auch auf diese Gefahren aufmerksam!
Mit freundlichem Gruß,
J.H.

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