Regelmäßig stellen Studien eine skandalöse Ungleichheit in Deutschland fest, wie ganz aktuell ein Bericht der Hans-Böckler-Stiftung. Ebenso regelmäßig werden diese Befunde ignoriert, die Ursachen der Symptome werden vernebelt. Man könnte die Ungerechtigkeiten beseitigen – doch dagegen gibt es medialen und politischen Widerstand. Von Tobias Riegel.
Eine der dominierenden „Erzählungen“ vieler großer Medien ist die von der nur „gefühlten“ Ungerechtigkeit: Schließlich gehe es „uns“ gut, die angeblichen Benachteiligungen und gesellschaftlichen Spaltungen existierten nur scheinbar, ansonsten seien es bedauerliche Einzelfälle oder „Fehler“ innerhalb eines prinzipiell bestens austarierten Systems, richtig? Falsch! Regelmäßig wird dieses „Gefühl“ der Ungleichheit und Ungerechtigkeit mit Daten unterfüttert und dadurch als real bewiesen – ganz aktuell einmal mehr vom WSI-Report der Hans-Böckler-Stiftung, der die Einkommensungleichheit untersucht hat. Der Report, der sich unter diesem Link findet, sagt ohne Wenn und Aber: Die Ungleichheit ist real, sie nimmt zu und sie ist auf einem neuen Höchststand. Um Abhilfe zu schaffen, müssen die Löhne und die Steuern rauf.
Der Stiftungs-Report lenkt die Aufmerksamkeit auf ein weiteres fatales gesellschaftliches Phänomen, das auch angesichts anderer Studien zu gesellschaftlichen Defiziten auftritt: Selbst die klare Benennung von skandalösen Missständen hat oft gar keinen Effekt mehr. Dementsprechend verpufft auch aktuell wieder die Eindeutigkeit des Stiftungs-Reports und der sich aufdrängenden Gegenmaßnahmen zur Linderung der Ungerechtigkeiten – die Informationen münden nicht in die entsprechenden logischen Handlungsweisen. Dieses Phänomen haben die NachDenkSeiten kürzlich in diesem Artikel am Beispiel Kinderarmut beschrieben und das Prinzip lässt sich direkt auf die aktuelle Studie der Böckler-Stiftung übertragen:
„Darum zeigen sich hier zwei Skandale: zum einen die Kinderarmut, die in der Studie offenbar wird. Zum anderen die ausbleibenden Reaktionen auf die in der Studie belegten Zustände. (…) Und so war auch an diesem Donnerstag kein Aufschrei angesichts der Studie festzustellen, weder in der Politik noch in den Redaktionen – eher ein müdes Ächzen darüber, dass man sich nun schon wieder mit diesem regelmäßig wiederkehrenden Thema herumschlagen muss. (…) Fragen nach den Ursachen und dem wirtschaftsliberalen System werden nicht gestellt.“
Ungleichheiten – Armutszeugnis für ein reiches Land
Versuchen der Vernebelung zum Trotz – der Befund der Untersuchung macht klar: Nach 2005 hatte sich der Anstieg der Ungleichheit vorerst abgeschwächt. Seit 2010 aber wächst die Einkommensungleichheit wieder deutlich und das ungeachtet der guten konjunkturellen Rahmenbedingungen sowie der günstigen Arbeitsmarktlage. Der Report stellt fest:
„Seit 2010 steigt die Einkommensungleichheit wieder stetig an. Alle untersuchten Ungleichheitsindizes belegen, dass die Ungleichverteilung der Einkommen im Jahr 2016 über dem Niveau von 2005 liegt. Im innerdeutschen Vergleich steigt die Ungleichheit in Ostdeutschland stärker als im Westen des Landes.“
Der Bezugspunkt des Jahres 2005 ist wichtig, da es starke mediale und politische Bestrebungen gibt, die dieses Jahr als positive „Wende“ bei der Einkommensungleichheit festschreiben wollen – ein Befund, der nicht durch die Daten der Böckler-Stiftung gedeckt ist. Demnach geht die Einkommensungleichheit nicht zurück. Im Gegenteil: Sie steigt weiter an und immer mehr Menschen sind von Armut betroffen. Der Report bringt es auf den Punkt:
„Es ist ein Armutszeugnis für Deutschland, dass es selbst unter so stabilen guten konjunkturellen Bedingungen nicht gelingt, die Ungleichheit zu verringern und Armut wirksam zu bekämpfen.“
Lohngefälle: Die Gesellschaft driftet auseinander
Ein Kriterium der Böckler-Stiftung zur Messung der Ungleichheit ist der Gini-Koeffizient der verfügbaren äquivalenzgewichteten Haushaltsnettoeinkommen. Trotz einer vorübergehenden Verlangsamung der Tendenz nach 2005 entwickelt sich die Gesellschaft nach diesen Werten immer weiter auseinander:
Mit die stärksten Treiber für die anhaltende ungerechte Verteilung des Reichtums sind laut Stiftung wachsende Lohnungleichheiten. Die zunehmende Spreizung der Löhne setzt demnach bereits Ende der 1990er Jahre ein. Seitdem gebe es eine wachsende Bevölkerungsgruppe am unteren Rand der Verteilung, die den Anschluss an die Lohnsteigerungen der Mitte der Gesellschaft verloren habe. Verstärkt werde diese Entwicklung durch einen weiteren Trend: steuerpolitische Entlastungen der Reichen:
„Es ist belegt, dass reiche Haushalte von vielen steuerpolitischen Entscheidungen der letzten Jahre direkt profitiert haben (Bach et al. 2016). Das gilt insbesondere für die Absenkung des Spitzensteuersatzes von noch 53% Ende der 1990er Jahre auf derzeit nur mehr 42%. Auch die Reform der Erbschaftssteuer im Jahr 2016 spielt hier eine Rolle.“
Der Stiftungsreport schränkt aber auch ein: Zwar sei die deutsche Gesellschaft heute insgesamt ungleicher, als sie es in den 1990er Jahren gewesen sei. Dies treffe aber nicht auf alle Dimensionen sozialer Ungleichheit zu – so habe sich etwa in der „Bildungsdimension“ die Lage im Verlauf der letzten Jahrzehnte verbessert. Als Maßnahmen gegen die gesellschaftliche Spaltung fordert die Böckler-Stiftung unter anderem eine Verringerung des Niedriglohnsektors und eine stärkere Besteuerung von Spitzeneinkommen.
Kampagnen verhindern Verbesserung
Warum sich solche logischen Konsequenzen – etwa die Einführung einer Reichensteuer – aber nicht einstellen, erklärt sich auch aus den Medienkampagnen gegen ausgleichende Maßnahmen, die die NachDenkSeiten kürzlich etwa in diesem Artikel beschrieben haben. So behauptete etwa das „Handelsblatt“ kürzlich angesichts von SPD-Vorschlägen für eine Vermögenssteuer: „Die SPD plant einen Raubzug bei den Reichen.“ Das Blatt fährt fort:
„Die Pläne zur Vermögenssteuer der SPD zeigen: Die Partei schaltet in Panikmodus. Das undurchdachte Konzept bringt auch Olaf Scholz in die Bredouille. Eine schnöde Geldsammelaktion soll nun angeblich helfen, das Klima zu retten, Straßen zu bauen und Schulen zu renovieren. Statt einen schwungvollen Zukunftsplan für Deutschland in wirtschaftlich schwächeren Zeiten zu präsentieren, plant man einen Raubzug bei den Reichen.“
Zur gleichen Debatte schrieb dagegen die „Freie Presse“ aus Chemnitz:
„Fest steht aber auch, dass Vermögen in Deutschland grotesk ungleich verteilt ist. Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander. Die soziale Lunte im noch reichen Deutschland glimmt.“
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