Die Regierung von Hongkong hatte in einer Sondersitzung am Freitagmorgen wie erwartet ein Vermummungsverbot beschlossen und gleich anschließend dessen Inkrafttreten um Mitternacht angekündigt. Der Schritt war erwartet worden, nachdem am Dienstag und Mittwoch die Krawalle in Hongkong einen neuen Höhepunkt der Eskalation erreicht hatten. Von Marco Wenzel.
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Der Anlass der Krawalle: ein Vermummungsverbot
Bisher wurde aber noch kein Ausgehverbot angekündigt. Die Regierungschefin Carrie Lam Cheng Yuet-ngor betonte, dass der Beschluss nicht das Ausrufen des Ausnahmezustandes bedeute, wie es manche gefordert hatten. Allerdings berief Carrie Lam sich auf „einen Zustand ernster öffentlicher Gefahr”, um das Vermummungsverbot zu begründen. Sie berief sich auf ein Hongkonger Gesetz, das noch aus der Kolonialzeit stammt und dem Stadtverantwortlichen im Verzug öffentlicher Gefahr die Befugnis erteilt, „alle Vorschriften zu erlassen, die er im öffentlichen Interesse für wünschenswert hält“. Carrie Lam sagte, sie habe die Entscheidung getroffen, ohne die vorherige Erlaubnis in Peking einzuholen. Peking begrüßte jedoch die Einführung des Vermummungsverbotes bereits kurz nach der Verkündigung als „absolut notwendig“.
Das Verbindungsbüro Pekings in Hongkong gab seinerseits eine separate Erklärung heraus, in der es die Protestler warnte, dass die Zentralregierung keine Handlungen dulden würde, die die nationale Souveränität und Sicherheit in Frage stellten, und forderte, dass “vermummte Randalierer” gesetzeskonform bestraft werden müssten.
Carrie Lam rief gleichzeitig aber weiterhin auch zum Dialog auf, das sei der beste Weg, Lösungen für die tieferliegenden sozialen Ursachen der Unruhen zu finden. Entgegen dem, was vielleicht viele im Ausland meinen, ist die Regierung Carrie Lam schon mehrmals auf die Protestbewegung zugegangen, hat Kompromisse gesucht und auch schon einseitige Zugeständnisse gemacht. Die Dialogverweigerung findet eher auf Seiten der Protestbewegung statt, die von Anfang an immer wieder dieselben Parolen ruft, sich in der Anonymität versteckt und sich lieber Schlachten mit der Polizei liefert.
Das neu erlassene Vermummungsverbot verbietet es Menschen bei einer öffentlichen Versammlung mit mehr als 50 Teilnehmern, einer Demonstration von mehr als 30 Personen oder einer nicht genehmigten Versammlung, ihr Gesicht zu verbergen. Zuwiderhandlungen können mit bis zu 25.000 HK$ (3.188 US$) und einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr bestraft werden. Die Polizei ist befugt, Menschen aufzufordern, ihre Maske zu entfernen – die maximale Strafe bei einer Verweigerung beträgt HK$10.000 und sechs Monate Gefängnis.
Ein aufgeheiztes Wochenende
Gleich anschließend an die Verkündung des neuen Gesetzes gingen am Freitag wieder, in einer Art Trotzreaktion, tausende Menschen, meist Studenten, auf die Straße. Jetzt erst recht, so schien die Devise. Und natürlich trugen die meisten von ihnen wieder Gesichtsmasken. Bald schon wurden die ersten Straßen gesperrt, Feuer wurden gelegt und Randalierer zogen durch die Stadt.
Ab ca. 18 Uhr ging dann nichts mehr in Hongkong, viele Verkehrsverbindungen waren unterbrochen und die meisten Geschäfte machten zu. Nach Einbruch der Dunkelheit, in Hongkong ist das zu dieser Jahreszeit gegen 19 Uhr, ging es dann richtig los. Straßensperren und Barrikaden wurden errichtet. Schwarzgekleidete und vermummte Demonstranten zerstörten Ampelanlagen, Überwachungskameras, verwüsteten Bankfilialen, zerstörten Geldautomaten und steckten sie in Brand.
Ihre besondere Wut richtete sich gegen Filialen von chinesischen Firmen und Banken. Schaufenster wurden eingeschlagen, es wurde eingebrochen und die Inneneinrichtung zerstört. Ein weiteres Hauptobjekt der Zerstörungswut waren die Metro-Stationen. Mehrere Eingänge zu verschiedenen Metrostationen wurden in Brand gesetzt und deren Ticketanlagen zerstört. Die Sprinkleranlagen wurden aktiviert und die Stationen unter Wasser gesetzt. Graffitis wurden gesprüht, Gegenstände wurden auf die Gleise geworfen und es wurde sogar ein Zug in Brand gesetzt. Eine Metrostation nach der anderen musste schließen. Eine Buslinie nach der anderen stellte den Betrieb ein. Öffentliche Gebäude und Eigentum in der ganzen Stadt wurden beschädigt.
Gegen 21.30 Uhr überfielen Demonstranten einen Polizeibeamten, den sie erkannten, obwohl er zu der Zeit in Zivil gekleidet und nicht im Dienst war. Sie verprügelten ihn, warfen Benzinbomben nach ihm und schlugen sein Auto kaputt. Der Mann fiel zu Boden, wehrte sich. Dann zog er seine Pistole und wollte einen Warnschuss abgeben. Ein Demonstrant fiel ihm in den Arm, der Schuss ging los und traf einen 14-jährigen Schüler am Bein, der sich an dem Überfall beteiligt hatte und ins Krankenhaus gefahren werden musste. Der Beamte konnte seinen Angreifern entkommen und wurde von der Bereitschaftspolizei in Sicherheit gebracht. Wenig später tauchte ein Videoclip von dem Angriff im Netz auf.
Die Bereitschaftspolizei verschoss wiederum jede Menge Tränengas und wehrte sich mit Gummigeschossen gegen die Angreifer. Um 22.30 Uhr waren alle Bahn-, Straßenbahn- und Zubringerdienste unterbrochen, einige Mitarbeiter der Station wurden bei Angriffen verletzt. Um Mitternacht trat das Vermummungsverbot in Kraft. Die Krawalle gingen aber unvermindert bis in die frühen Morgenstunden weiter.
Am Samstag blieben alle Metrostationen und Banken sowie die meisten Einkaufszentren geschlossen. Arbeiter, die mit Aufräumarbeiten beschäftigt waren, wurden angegriffen.
Regierungschefin Carrie Lam verurteilte am Samstagnachmittag in einem Video die nächtliche Gewalt und rief zur Ruhe nach einer „schwarzen Nacht“ auf. “Die Regierung würde die Gewalt mit äußerster Entschlossenheit eindämmen”, sagte sie. “Lasst uns Gewalt gemeinsam verurteilen und uns entschieden von Randalierern distanzieren.”
Der für die Sicherheit in Hongkong zuständige Minister John Lee Ka-chiu hatte zuvor bereits einen ähnlichen Appell an die Öffentlichkeit gerichtet und dazu aufgerufen, jede Unterstützung für Randalierer einzustellen. Er wies Vorwürfe zurück, die Regierung habe mit dem Vermummungsverbot Benzin ins Feuer gegossen. Die Einführung des Vermummungsverbotes solle lediglich sicherstellen, dass diejenigen, die Verbrechen begehen und Gewalt anwenden, sich nicht hinter ihren Masken verstecken können, um ihrer Verantwortung zu entgehen und vor Gericht gestellt werden könnten. Lee bemerkte weiterhin, dass bisher noch niemand nach dem neuen Gesetz, das am Freitag um Mitternacht in Kraft trat, verhaftet worden sei. Justizministerin Teresa Cheng Yeuk-wah ihrerseits schloss weitere, härtere Maßnahmen nicht aus, sollten die Proteste weiter außer Kontrolle geraten.
Zu der Zeit waren bereits wieder tausende Demonstranten zu Fuß auf dem Weg in die Innenstadt, verärgert darüber, man glaubt es kaum, dass keine Züge fuhren. Den ganzen Samstag über gab es wieder den üblichen Vandalismus, Straßenkämpfe, Schlägereien. Wir wollen hier den Leser nicht mit weiteren Einzelheiten langweilen. Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man zynischer Weise sagen: business as usual.
Am gestrigen Sonntag gingen die Unruhen in gewohnter Weise weiter. Zehntausende trotzten dem Vermummungsverbot. Manche Beobachter sagen aber, dass die Angriffe auf die Polizei gestern noch heftiger als sonst gewesen und die nach ihnen geworfenen Brandbomben größer gewesen seien.
Die wichtigsten Knotenpunkte der Metro blieben weiterhin geschlossen. Die Demonstranten beschlagnahmten einen Bagger und fuhren damit spazieren, während andere den Baggerführer verprügelten. Ein Versuch, mit dem beschlagnahmten Bagger die Straße aufzugraben, schlug fehl, wahrscheinlich nur, weil der Demonstrant, der den Bagger entwendet hatte, diesen zum Glück nicht richtig bedienen konnte. Nachdem die Metro nach anderthalb Tagen am Vormittag wieder teilweise fuhr, musste sie den Betrieb nach und nach wieder einstellen. Ab etwa 21 Uhr fuhren keine Busse und gar keine Metro mehr. Ob sie am heutigen Montag wieder fährt, ist noch nicht klar.
Natürlich waren alle Randalierer weiterhin vermummt. Angst vor der Polizei schienen sie keine zu haben. Erneut wurden wieder Metrostationen in Brand gesetzt, Geschäfte zerstört. Wie immer richteten sich die Angriffe am heftigsten gegen Filialen von Firmen aus China. Es flogen Molotowcocktails und Tränengas. Aber es wurden diesmal auch zahlreiche Personen verhaftet, darunter auch die ersten wegen Verstoß gegen das Vermummungsverbot.
Wir verschonen den Leser mit weiteren Details. Zu erwähnen sei aber noch, dass die in Hongkong stationierten Truppen der chinesischen Volksbefreiungsarmee sich bis jetzt noch nicht eingemischt haben. Gestern jedoch hat die Armee eine Warnung in Kantonesisch, der Sprache, die in Hongkong dominiert, herausgegeben und über ihren Baracken in Kowloon die gelbe Fahne gehisst, was als Warnzeichen gilt. Des Weiteren wurden Demonstranten mit Flutlicht angeleuchtet, während Soldaten der Volksbefreiungsarmee sie filmten.
Spuren der Zerstörung
Die Regale vieler Lebensmittelgeschäfte sind inzwischen leer, viele Menschen in Hongkong kauften auf Vorrat ein. Es gab Panikkäufe, vor den Kassen zahlreicher Supermärkte bildeten sich lange Schlangen, die meisten Supermärkte aber blieben ganz geschlossen. Viele Bankautomaten sind leer, etwa 10% aller Bankautomaten in Hongkong wurden zudem bereits von den Randalierern zerstört. Vor den Automaten, die noch Geld ausspuckten, bildeten sich lange Warteschlangen.
Abgesehen von den Zerstörungen ist der seit Beginn der Unruhen vor nunmehr 18 Wochen angerichtete Schaden für die Wirtschaft von Hongkong enorm. Die Tourismusbranche, neben dem Hafen und dem Finanzplatz einer der wichtigsten Wirtschaftszweige von Hongkong, ist drastisch eingebrochen. Bereits geplante Reisen nach Hongkong werden verschoben, viele Hotels stehen leer, die Restaurants haben kaum noch Gäste. Viele Länder haben bereits eine Reisewarnung für Hongkong herausgegeben. Zahlreiche Hotels haben ihren Beschäftigten nahegelegt, unbezahlten Urlaub zu nehmen, viele können mangels Einnahmen die Löhne nicht mehr bezahlen.
Inwieweit die Finanzmärkte „beunruhigt sind“ und das „scheue Reh“ Kapital jetzt das Weite sucht, darüber wollen wir hier nicht spekulieren. Sollen die das unter sich ausmachen. Auswirkungen wird es jedenfalls auch dort haben. Und auch die Preise für Immobilien gehen derzeit nach unten. Die Banker und Immobilienhaie werden den Verlust verschmerzen können, sie haben ihre Schäfchen längst im Trockenen.
Zu erwähnen seien auch noch die Fremdarbeiter. Viele von Hongkongs Haushaltshilfen kommen aus Indonesien und den Philippinen, ihre Anzahl wird auf etwa 400.000 geschätzt. Viele haben jetzt Angst und überlegen, Hongkong zu verlassen, andere entscheiden sich für eine Arbeit in Taipeh, Singapur oder Dubai. Viele werden ihren Arbeitsvertrag in Hongkong nach Ablauf nicht mehr verlängern wollen. Sie gehören zu den Unterbezahlten, sind aber auch auf ihren Lohn angewiesen, weil sie sich von dem Wenigen, das sie verdienen, alles vom Mund absparen, um ihre Familien zu Hause zu unterstützen. Und viele können sich einen Rückflug schlicht nicht leisten. Und natürlich leiden auch ihre Sklavenhändler, die Arbeitsagenturen, die billige ausländische Haushaltshilfen für Hongkong-Arbeitgeber vermitteln.
Titelbild: Wong Chun Pui Isaac/shutterstock.com