Es gibt da einen scharfsinnigen Satz des Aphoristikers Erhard H. Bellermann, der im Fall Peru den Nagel auf den Kopf trifft: „Auch Zufälle sind nur Berechnung“. Ausgerechnet in der gleichen Woche, in der die vom Ex-Richter und amtierenden Justizminister Sérgio Moro geleitete und einst medial gefeierte brasilianische Einsatzgruppe „Lavajato“ zur angeblichen Korruptionsbekämpfung von Magistraten des Obersten Gerichtshofs in Brasilien als kriminelle Vereinigung bezeichnet wird und nach dem Intercept-Leak seine größte politische Niederlage erlebt, wird das benachbarte Peru von einer Staatskrise geschüttelt. Von Frederico Füllgraf.
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Die vordergründigen Fakten sind bekannt. Der peruanische Interimspräsident Martín Vizcarra ordnete am vergangenen 30. September die Auflösung des Parlaments und die Abhaltung von Neuwahlen am 26. Januar 2020 an. Als Reaktion auf die scheinbar autoritäre, angeblich verfassungswidrige Maßnahme entschied das von der Opposition dominierte Parlament die sofortige Amtsenthebung Vizcarras für die Dauer von einem Jahr und die Nominierung der Wirtschaftswissenschaftlerin und ehemaligen Staatsministerin Mercedes Aráoz als Vizcarras Nachfolgerin.
Am Tag darauf blockierten das Militär und die Sicherheitskräfte den Zugang zum Parlament, nachdem die Oberbefehlshaber der drei Waffengattungen und der Polizei dem Präsidenten ihre bedingungslose Unterstützung zugesichert hatten. Tausende Peruaner füllten die Straßen der Hauptstadt Lima mit lärmendem Protest gegen das Parlament, das laut Umfragen von 90 Prozent der Peruaner abgelehnt wird. Sie forderten „¡Que se vayan todos!“ (Sie sollen alle gehen!) und bekundeten Präsident Vizcarra ihre Unterstützung. Als Folgehandlung trat „Zweitpräsidentin“ Mercedes Aráoz unaufgefordert zurück und erklärte die „Undurchführbarkeit“ ihrer Regierung.
Der Präsident begründete seine Entscheidung mit einer Verfassungsregel, die eine Parlamentsauflösung dann gestattet, wenn das Parlament ein Misstrauensvotum der Regierung in zwei Fällen verweigert. Und dies war Tatsache.
Vizcarras Misstrauensantrag richtete sich gegen die mangelnde Transparenz bei der Nominierung von 6 neuen Magistraten zum Obersten Verfassungsgericht (TC) Perus durch das Parlament; eine Nominierung, die nach seiner Meinung die demokratische Gewaltenteilung bedrohe. Das von der ultrakonservativen Fujimori-Opposition politisch beherrschte Parlament reagierte indes nicht nur vom Misstrauen unbeirrt, sondern wählte die von ihm vorgeschlagenen Richter, um erst nach ihrer Nominierung die Forderung nach Verfahrenstransparenz zu prüfen.
Gegner des Präsidenten argumentieren, das Staatsoberhaupt verstoße gegen geltendes Recht, und werfen ihm einen „Staatsstreich“ zur Festigung seiner Macht vor. Ähnlich lautete eine Erklärung des peruanischen Unternehmerverbandes, der dem Präsidenten „die Verletzung der Verfassung und des demokratischen Systems“ und den „Absturz in enorme Unsicherheit“ vorwarf.
Die einflussreiche peruanische Bischofskonferenz rief zum Dialog, zur Entspannung sowie zum „Handeln in Übereinstimmung mit der verfassungsmäßigen und demokratischen Ordnung” auf, forderte jedoch auch, die Bemühungen zur Bekämpfung der Korruption sollten fortgesetzt werden. Die in Washington ansässige Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) erkannte Vizcarras Dekret nicht sofort an, sondern forderte das peruanische Verfassungsgericht zur Prüfung auf, ob die Handlung des Präsidenten verfassungskonform sei.
Doch über die Vorwürfe gegen Vizcarra gibt es Kontroversen, denn die Umstände sind nicht eindeutig, sondern widersprüchlich. Nach der Auflösung des Parlaments festigte der Präsident seine Machtbefugnisse nicht allein mit der Unterstützung des Militärs, sondern auch der Provinz-Gouverneure und Bürgermeister; allen Anzeichen nach auch mit Billigung der Wählermehrheit.
Der Disput um die politische Kontrolle der Justiz
Die Krise in Peru verschärfte sich im Jahr 2016, als der Bankier Pedro Pablo Kuczynski seine Herausforderin Keiko Fujimori bei den Präsidentschaftswahlen in der Stichwahl mit 50,1 Prozent der Stimmen besiegte. Keiko Fujimori ist die Tochter des ehemaligen Präsidenten Alberto Fujimori (1990-2000), der wegen Anklagen der peruanischen Justiz zunächst nach Japan flüchtete, im Jahr 2007 von Chile nach Peru ausgeliefert, dort im Januar 2010 wegen brutalen Menschenrechtsverletzungen und einem Dutzend weiterer Verbrechen zu 25 Jahren Haft verurteilt wurde und seitdem in Haft sitzt.
Tochter Keiko mauserte sich zur Parlamentarierin und agierte seit der Verhaftung ihres Vaters als dessen politische „Operatorin“. Obwohl sie Kuczynski 2016 unterlag, gelang ihr mit ihrer Partei Fuerza Popular (Volkskraft) der Aufbau einer überwältigenden Mehrheit im Parlament, die Kuczynski bis zu seinem Rücktritt im März 2018 das Regieren unmöglich machte. Doch aus ähnlichen Gründen wie Kuczynski wurde auch Keiko Fujimori der Korruption angeklagt und sitzt seit Oktober 2018 wegen Geldwäsche in Untersuchungshaft.
Seit Kuczynskis Rücktritt machen Fujimoris Fuerza Popular und die nach rechts abgedriftete Traditionspartei Apra allerdings auch seinem ehemaligen Vize und Nachfolger Martín Vizcarra das Leben schwer. Die seit 2016 schwelende politische Krise wurde neuerdings um ein neues, entscheidendes Element verschärft, nämlich dem Kampf um die Kontrolle des Verfassungsgerichts, das seine Doppelfunktion als Oberster Gerichtshof erfüllt. Auslöser der Konfrontation zwischen Exekutive und Legislative war unter anderem die Nominierung eines Cousins des Parlamentspräsidenten Pedro Olaechea zum Verfassungsrichter; eine Zumutung, die die Regierung für unakzeptabel erklärte, dem Parlament mangelnde Transparenz bescheinigte und ein Misstrauensantrag stellte.
Institutionalisierte Korruption
Doch warum besitzt die Nominierung der Verfassungsrichter eine derartige Sprengkraft in der politischen Szenerie Perus, fragen sich verschiedene Medien.
Den ausschlaggebenden Hintergrund bildet die Ausweitung der brasilianischen Ermittlungen gegen den ehemals größten brasilianischen Baukonzern Odebrecht nach Peru und die Zusammenarbeit der einheimischen Justiz mit Sergio Moros Einsatzgruppe Lava Jato. Odebrechts CEOs gaben zu, zwischen 2005 und 2014 in Peru 29 Millionen US-Dollar an Bestechungsgeldern gezahlt zu haben, um Verträge zu erhalten; Zahlungen, die dem Konzern im selben Zeitraum Vorteile in Höhe von 143 Millionen eingebracht hätten.
In den Korruptionsskandal waren vier ehemalige peruanische Präsidenten – Pedro Pablo Kuczynski, Ollanta Humala, Alejandro Toledo und Alan García – sowie die Oppositionsführerin Keiko Fujimori involviert. Die Beschuldigten bestritten allerdings sämtliche Vorwürfe, doch – wie in Brasilien – die Ermittlungen eskalierten zu derart skandalösen Rufmorden und Unterstellungen, dass Alan García dem Druck nicht standhielt und im April dieses Jahres mit einer Kugel in den Kopf Selbstmord beging. Zwei Monate zuvor hatte der stark angeschlagene Konzern im Februar eine Kooperationsvereinbarung mit der Justiz unterzeichnet, die ihn zur Informationsleistung – im Klartext: Kronzeugen-Verrat – und einer Strafe in Höhe von 230 Millionen US-Dollar verpflichtete.
Die Konfrontation zwischen Präsident Vizcarra und dem Parlament – also die Nominierung von 6 neuen Magistraten zum Verfassungsgericht, dessen unmittelbare Auflösung und die Abschirmung des Parlaments durch Polizei und Militär – besaß ein durch nicht Eingeweihte undurchschaubares Timing. Sie eskalierte nämlich am Vorabend der Vernehmung des ehemaligen Odebrecht-Geschäftsführers in Peru, Jorge Barata, im südbrasilianischen Curitiba durch peruanische und brasilianische Staatsanwälte, denen Barata mindestens 71 Namen von Korruptionsverdächtigen – darunter eine Reihe von Abgeordneten – verriet. Die Vernehmung Baratas passierte also exakt an den Tagen, an denen die Einsatzgruppe Lavajato von den Tribünen des Obersten Gerichtshofs in Brasilien als kriminelle Vereinigung bezeichnet wurde und mit dem Fall Peru einen publizistischen „Ausgleich“ durch ein Ablenkungsmanöver inszeniert.
Präsident Vizcarra erlangte breite Popularität mit seiner politisch korrekten Forderung nach einem „Kreuzzug gegen Korruption“, spielt jedoch – angetrieben von Naivität oder politischem Kalkül – den mittlerweile nachgewiesenen und weltweit von namhaften Juristen verurteilten kriminellen Ermittlungsmethoden Sergio Moros und der von ihm gesteuerten Staatsanwaltschaft in die Hände. Diese ist unter anderem für die Justizfarce gegen Altpräsident Lula verantwortlich, entließ andererseits den zu 31 Jahren hinter Gittern verurteilten Odebrecht-Boss, Marcelo Odebrecht, nach weniger als 2 Jahren Haftzeit vor wenigen Wochen in die Freiheit.
In einer Botschaft an die Nation bekräftigte Vizcarra seine Entscheidung mit den Worten, „die Schließung des Parlaments (sei) eine demokratische und partizipative Lösung für ein Problem, das das Land seit mehr als drei Jahren in Mitleidenschaft zieht“. Wie demokratisch und partizipativ die Lösung sich tatsächlich entwickelt, werden die kommenden Monate und die Abhaltung der Neuwahlen selbst zeigen.
Titelbild: Mada-Foto/shutterstock.com