Am vergangenen Wochenende fanden am Hindukusch Präsidentschaftswahlen statt. Für viele westliche Staaten, allen voran für die USA, scheinen diese wichtiger zu sein als für die afghanischen Wähler. Der Grund hierfür ist offensichtlich: Derartige Wahlen sollen den Mythos nähren, dass Afghanistan vom fortgeschrittenen Westen, der in das Land als Besatzer einmarschiert ist, „demokratisiert“ wurde. Dabei macht der afghanische Wahltag abermals nur das Scheitern deutlich. Von Emran Feroz.
Am Samstag war es soweit. Nach fünf Jahren mussten die Afghanen abermals zur Wahlurne schreiten, um einen neuen Präsidenten zu wählen. Zur Wahl standen unter anderem der gegenwärtige Präsident Ashraf Ghani, sein Regierungschef und Hauptkontrahent Abdullah Abdullah, der berühmt-berüchtigte Ex-Mudschaheddin-Führer und Warlord Gulbuddin Hekmatyar sowie der ehemalige Chef des afghanischen Geheimdienstes, Rahmatullah Nabil. Es gab noch eine ganze Reihe von weiteren Kandidaten, deren Chancen allerdings von Anfang an extrem gering waren. Auch im Kontext der genannten Namen war klar, dass man sich – wie bei den Wahlen 2014 – lediglich auf Ghani und Abdullah fokussieren müsse.
Um das gegenwärtige Wahlszenario sowie die politische Lage diesbezüglich zu verstehen, ist ein Blick in die Vergangenheit notwendig. 2014 konnte Abdullah den ersten Wahlgang für sich entscheiden, während Ghani auf Platz zwei landete. Bei der darauf stattfindenden Stichwahl lag Ghani plötzlich vorne und proklamierte sich zum Sieger. Der Vorwurf der Wahlfälschung wurde immer lauter. Unter den Kandidaten entfachte ein heftiger Streit. Die Anhänger der beiden Politiker betrachteten sich als Feinde, teils kam es zu brutalen Gewaltausbrüchen mit Toten und Verletzten. Letzten Endes musste der damalige US-Außenminister John Kerry ganze zwei Mal nach Kabul reisen, um Ghani und Abdullah miteinander zu versöhnen. Die Amerikaner erklärten Ghani daraufhin zum neuen afghanischen Präsidenten, während für Abdullah der Posten eines Regierungschefs („CEO“) geschaffen wurde – eine Position, die in der afghanischen Verfassung gar nicht existiert.
Am Ende zählt nur die Wahl Uncle Sams
Für viele afghanische Wähler, die am Wahltag sehr enthusiastisch zu den Urnen schritten und oftmals ihr eigenes Leben dabei riskierten, war daraufhin klar: Ihre Stimmen sowie ihr gesamter Einsatz waren wertlos. Am Ende hat wieder einmal Uncle Sam entschieden, wer in Kabul regieren darf. Von Washington und anderen westlichen Staaten wurden die Wahlen als Erfolg gewertet. Man sprach vom ersten demokratischen Machttransfer in der afghanischen Geschichte. Fakt ist allerdings, dass nicht die Afghanen ihren Präsidenten gewählt hatten, sondern John Kerry.
Hinzu kommt natürlich, dass der Demokratiemythos sich auch anderweitig einfach dekonstruieren lässt. Damals wie heute waren zahlreiche Gebiete Afghanistans unter Taliban-Kontrolle. Dort wurde dann einfach gar nicht gewählt. Des Weiteren sehen in vielen Distrikten Wahlen wie folgt aus: Ein lokaler Warlord gibt den Menschen vor, wen sie zu wählen haben und wen nicht. Mit der Waffe im Rücken ist man dann gezwungen, sich für ebenjenen Kandidaten zu entscheiden. Last but not least, gibt es dann noch die massive Korruption im Land, die wortwörtlich gang und gäbe ist, sodass keine Wahl sauber ablaufen kann. Die Strukturen, die nach 2001 dank westlicher Unterstützung errichtet wurden, haben die Korruption in Afghanistan derart massiv gedeihen lassen, dass ein sauberer Wahlgang einfach unmöglich ist. Wahlfälschungsvorwürfe gab es deshalb nicht nur gegen Ghani, sondern auch gegen dessen Vorgänger Hamid Karzai.
All diese Umstände haben dazu geführt, dass die Wahlbeteiligung in diesem Jahr extrem gering ausfiel. Berichten zufolge gingen von neun Millionen registrierten Wahlberechtigten (was eine ziemlich geringe Zahl darstellt in einem Land mit über dreißig Millionen Einwohnern) weniger als zwei Millionen wählen.
Der positive Aspekt war die Tatsache, dass größere Anschläge ausblieben bzw. verhindert wurden und die Menschen vielerorts trotz Taliban-Drohungen zur Wahlurne schritten. Die geringe Wahlbeteiligung hatte in diesem Fall allerdings nicht nur etwas mit der Sicherheitslage zu tun, sondern mit dem Desinteresse der Menschen, die ein Déjà-vu erlebten, indem sie abermals zwischen Ghani und Abdullah entscheiden mussten. Wozu sollte man das tun? Etwa, damit diesmal ein Außenminister Pompeo oder gar Trump persönlich antanzt, um einen Präsidenten zu wählen?
Afghanen sind für Demokratie bereit, korrupte Elite ist es nicht
Tatsächlich ist es so, dass die meisten Afghanen sehr wohl wissen, was Demokratie und Partizipation bedeuten. Sie wissen, wie wichtig und eben nicht selbstverständlich es ist, durch Wahlen einen politischen Führer zu bestimmen, und das wissen sie nicht etwa erst, seit Bush, Blair und Co. mit ihren Truppen einmarschiert sind. Kulturrelativistische Floskeln wie „Die sind nicht bereit für Demokratie“ oder „Das funktioniert dort einfach nicht“ sind deshalb falsch. Sie sind nicht nur falsch, sondern orientalistischer und rassistischer Quatsch. Immerhin sagen sie mehr oder weniger aus, dass die Menschen dort drüben, in dem Fall am Hindukusch, einfach nicht fortschrittlich veranlagt seien und deshalb von einer Eisernen Hand regiert werden müssen. Der durchschnittliche afghanische Bürger ist bereit zur demokratischen Partizipation. Andernfalls würde er nicht sein Leben riskieren, um wählen zu gehen. Dies gilt allerdings nicht für jene korrupten Eliten, die von den USA und ihren Verbündeten in Afghanistan installiert wurden. Für sie war der demokratische Weg, durch Wahlen an die Macht zu kommen, von Anfang an ein Siegeszug in Richtung Kleptokratie. Ihre Augen richteten sich nie auf das Wohl ihrer Bürger, sprich, der 99 Prozent, sondern auf die Milliardenhilfen von USAID und Co., die in den letzten Jahren immer und immer wieder im Nirgendwo versickerten.
Das Resultat des westlichen Demokratisierungsversuches in Afghanistan ist deshalb ein krasser Klassenunterschied, den man woanders selten erlebt. In den Karzai-Jahren waren es vor allem mächtige Kriegsfürsten, die ganze Nachbarschaften in Grund und Boden stampften, um ihre protzig-pompösen Villen zu errichten. Diesen Warlordismus gibt es weiterhin. Doch zeitgleich hat sich seit der Präsidentschaft Ghanis eine andere Klientel breitgemacht. Sie besteht aus zunehmend jüngeren Afghanen, die im Ausland aufgewachsen sind, dort studiert haben und in vielen Fällen nicht einmal die lokalen Sprachen sprechen, während sie Regierungsposten übernommen haben, in neu errichteten Penthäusern wohnen und zwischen Kabul und dem Rest der Welt jetsetten. Die Vetternwirtschaft in diesen Kreisen ist mittlerweile ebenso bekannt. Das beste Beispiel hierfür ist der 35-jährige Hamdullah Mohib. Während des Wahlkampfes 2014 leitete er noch die Social-Media-Kampagnen Ghanis und war vor allem gut darin, Journalisten, die kritisch über den damaligen Präsidentschaftskandidaten berichteten, anzuschwärzen. Nach dem Wahlsieg erhielt der studierte Informatiker, der in jeglicher Hinsicht ein politischer Laie war, den Posten des afghanischen Botschafters in Washington. Mittlerweile ist Mohib Ghanis Nationaler Sicherheitsberater und medial omnipräsent. Das könnte sich allerdings bald ändern. Blasen, auch privilegierte, haben nämlich die Eigenschaft, irgendwann zu zerplatzen.
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