Der erste Oktober war ein Stichtag für Hongkong

Der erste Oktober war ein Stichtag für Hongkong

Der erste Oktober war ein Stichtag für Hongkong

Marco Wenzel
Ein Artikel von Marco Wenzel

Es kam, wie es kommen musste, der Konflikt war vorprogrammiert. Am vergangenen Dienstag, dem 1. Oktober, beging China den 70. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik. Und diese Feier wollten die Demonstranten in Hongkong den Festlandchinesen gründlich verderben. Das ist ihnen gelungen – wenigstens in Hongkong. Während Festlandchina feierte und Staatspräsident Xi Jinping in Peking die Militärparade abnahm, tobte in Hongkong der Bürgerkrieg. Von Marco Wenzel

Bereits einige Tage vor dem eigentlichen Festtag schaltete das öffentliche Leben in China wie jedes Jahr in einen anderen Modus. Der Feiertag war der Beginn einer ganzen Woche von Feierlichkeiten. Im heißen Peking ist der Herbst die angenehmste Jahreszeit. Rote Laternen und rote Fahnen wehen zum Jahrestag der Gründung der Volksrepublik an allen zentralen Orten, es ist eine Woche, in der auch viele Arbeiter zu ihren Familien aufs Land fahren, die sie manchmal das ganze Jahr über nicht mehr gesehen haben. Vergleichbar nur mit dem chinesischen Neujahrsfest, das nach dem chinesischen Kalender im Februar beginnt und eine ganze Woche Feierlichkeiten und Familientreffen einläutet.

Besonders runde Feiertage, wie das diesjährige 70. Jubiläum, sind bei den Chinesen sehr beliebt. Feuerwerke in allen großen Städten rundeten den Feiertag zur 70-jährigen Gründung der Volksrepublik ab. Nur in Hongkong gab es dieses Jahr kein Feuerwerk. Zumindest keines am Himmel.
Während die Chinesen auf dem Festland sich auf eine Woche der Entspannung vorbereiteten, trafen die Protestler in Hongkong ihre eigenen Vorbereitungen …

China hatte allen Grund zum Feiern.

Nach den Wirren des Bürgerkriegs und nach der Gründung der Volksrepublik im Jahre 1949, nach der Kampagne „Lasst hundert Blumen blühen“, dem „großen Sprung nach vorn“ und der verhängnisvollen Kulturrevolution begann, nach Maos Tod 1976 und der Machtübernahme von Deng Xiao Ping im Jahre 1978, eine neue Periode in Chinas moderner Entwicklung.

Die Reformen von Deng Xiao Ping und die neue Wirtschaftspolitik der chinesischen Regierung seit Deng Xiao Ping haben die chinesische Bevölkerung aus der Massenarmut herausgeführt. Die Erfolge sind beachtlich. Kein anderes Land auf der Erde hat solche Erfolge in der Bekämpfung der Armut wie China vorzuweisen, 700 Millionen Menschen wurden aus der Armut herausgeführt, die Wirtschaft wuchs seit 1979 um das 35-fache. Die Lebenserwartung stieg um 10 Jahre. Die Reallöhne steigen von Jahr zu Jahr. Allen Grund zum Feiern also, sowohl für das Volk als auch für seine Führung. Anders die Entwicklung in Hongkong. Dort steigen die Mieten seit vielen Jahren stärker als die Reallöhne.

Es gibt viele gute Gründe für soziale Unruhen in Hongkong, aber die aktuelle Protestbewegung trägt dem nicht Rechnung. Ihre Parolen lauten auf Freiheit, Demokratie und demokratische Reformen, ohne auch nur irgendwie präzise zu formulieren, was das denn nun genau heißen und wie und von wem denn es nun umgesetzt werden soll.

Dieses Thema wird ein weiterer Beitrag, der demnächst auf den NachDenkSeiten erscheinen wird, näher behandeln. Wir wollen uns hier auf die jüngsten Geschehnisse beschränken.

17 Wochen Dauerproteste

Die Massenproteste in Hongkong dauern nun schon 17 Wochen an. Seither gab es kein Wochenende ohne erneute Straßenkämpfe. Die Anzahl der Demonstranten, die seitdem regelmäßig auf die Straße gehen, wird auf eine Million Menschen geschätzt, was bei einer Bevölkerung von etwa 7,4 Millionen schon beachtlich ist.
Das Ungewöhnliche an dieser neuen Form von Massenprotesten ist, dass sie nur unbestimmte Forderungen nach Freiheit und nach demokratischen Reformen skandiert und dass es keine offiziellen Anführer gibt. Alle Demonstrationen werden über Handy-Apps organisiert, Ort und Zeit werden kurzfristig über diese Apps bekanntgegeben, Material zum Aufbau von Barrikaden werden mittels Internet organisiert und oft auch spontan strategisch an einen neuen Ort verlegt. Niemand weiß genau, wer dahintersteckt, aber die Aufrufe werden massiv befolgt. Es gibt kein gewähltes Komitee der Opposition, das Verhandlungen mit der Stadtverwaltung führt, die eigentlichen Organisatoren der Massenproteste bleiben anonym und im Dunkeln.

Leider sind unter den Demonstranten auch unzählige Vermummte, die mit brutaler Gewalt vorgehen und bewusst die Konfrontation mit der Polizei suchen. Vieles wurde in den letzten 17 Wochen kaputtgeschlagen, vieles zerstört, auch der soziale Frieden und auch der Zusammenhalt der Bevölkerung in Hongkong. Die Menschen in Hongkong fühlen sich mehrheitlich nicht als Chinesen und ihr Hass richtet sich allzu oft auch gegen chinesische Einwanderer vom Festland, die ihnen die Arbeitsplätze und die Wohnungen streitig machen. Und gegen chinesische Touristen vom Festland, die die Preise „versauen“.

Der Flughafen von Hongkong wurde mehrmals stillgelegt, alle Flüge annulliert, die öffentlichen Verkehrsmittel wurden lahmgelegt. Regelmäßig wurden Barrikaden errichtet, Brände gelegt, Molotowcocktails geworfen und regelmäßig gab es Prügeleien mit der Polizei. Keine Regierung der Welt kann das tolerieren.

Am vergangenen Dienstag aber erreichten die Massenproteste in Hongkong eine neue Phase der Eskalation.

Allen Demonstranten gemeinsam scheint vor allem der Hass auf China, zu dem das Territorium Hongkong seit 1997 nun wieder gehört und dessen Regierung es unterstellt ist. Der Hass gegen China wird zudem noch von interessierten Kreisen von außen, besonders aus den USA, geschürt. Die USA führen derzeit einen Handelskrieg gegen China und da ist ihnen jedes Mittel recht, China zu schwächen, jede Opposition, die in die gleiche Kerbe haut, ist willkommen. Der Feind meiner Feinde ist mein Freund. Es ist bestimmt kein Zufall, dass die Unruhen in Hongkong gerade jetzt ausgebrochen sind, nachdem sich der Handelskrieg mit den USA erneut zugespitzt hat, ausgerechnet in Hongkong, der Stadt, über die ein großer Teil des Welthandels mit China läuft.

In Hongkong gibt es zudem jede Menge Leute, die aus China geflüchtet sind, es gibt jede Menge Leute dort, die sich in China besser nicht mehr blicken lassen sollten und die von einer zunehmenden Kontrollübernahme seitens Chinas, die spätestens 2047 abgeschlossen sein wird, nichts Gutes zu erwarten haben. Und es gibt unter den Mächtigen in Hongkong jede Menge China-Hasser, die die Stimmung zusätzlich anheizen. Hier sei dafür nur stellvertretend der Medien-Tycoon Jimmy Lee genannt, der jede Protestbewegung sowohl finanziell als auch über seine Boulevardzeitungen unterstützt.

Eine soziale, gar eine sozialistische Bewegung mit klaren, konkreten Forderungen zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Werktätigen ist bisher nicht in Erscheinung getreten. Es gibt keine Gewerkschaftsbewegung, nur fehlgeleitete, radikalisierte Studenten, die sich leider allzu leicht beeinflussen lassen, die gute Beziehungen zu den USA pflegen und sogar im Weißen Haus und auch in Berlin empfangen werden.

Siehe hierzu : Wenn Streiflichter irrlichtern – SZ vs. NachDenkSeiten am Beispiel der Causa „Joshua Wong“ sowie Die Lehren der Geschichte (I)

Der Nationalfeiertag

In diesem aufgeheizten Klima begann der Jubiläumstag der Staatsgründung Chinas. Nach den üblichen Krawallen am Wochenende und trotz Polizeiverbot machten sich bereits am frühen Dienstagnachmittag zehntausende Demonstranten auf den Weg, den chinesischen Nationalfeiertag auf ihre besondere Art zu begehen. Die meisten von ihnen waren wie immer kaum über 30 Jahre alt, oft vermummt und viele mit Eisenstangen und ähnlichem bewaffnet. Die üblichen Krawalle brachen schon bald in mehreren Teilen der Stadt aus. Gewalttätige Demonstranten griffen die Polizei mit Stöcken an, warfen Molotowcocktails und Ziegelsteine nach ihnen, zündeten Barrikaden an und brachen das Pflaster auf, um die herausgebrochenen Steine als Wurfgeschosse zu verwenden. Die Polizei reagierte mit Tränengas, Wasserwerfern, Gummigeschossen und „Bean Bags“, eine nicht tödliche Polizeiwaffe, bei der kleine mit Schrot gefüllte Säckchen aus einer Schrotflinte auf einen Angreifer geschossen werden, um ihn zu stoppen, aber nicht schwer zu verletzen.

Die Kämpfe brachen in etwa einem Dutzend verschiedener Teile der Stadt aus und waren heftiger als an den Tagen und Wochenenden davor. In der Nähe der Tai Ho Road in Tsuen Wan griff eine Gruppe von vermummten Demonstranten die Bereitschaftspolizei an, schlug mit Stangen nach ihnen und stach auf sie ein. Ein Polizist wurde zu Boden geworfen. Ein anderer Polizist, der ihm zu Hilfe kommen wollte, zog seinen Revolver und warnte die Schläger, die sich aber nicht beirren ließen und weiter nach der Polizei schlugen und sie auch trafen. Daraufhin schoss der angegriffene Polizist einem der Demonstranten in die Brust, einem 18-jährigen Sekundarschüler, der ins Krankenhaus gefahren und notoperiert wurde. Er hat überlebt. Die Szene aber war gefilmt worden. Jetzt hatten die Demonstranten einen Märtyrer, einen jungen Mann, auf den die Polizei mit scharfer Munition geschossen hatte, so die verkürzte Geschichte, die unmittelbar darauf die Runde in den sozialen Netzwerken machte und die Wut und den Hass der Demonstranten auf die Polizei noch verstärkte.
Nach Angaben der Hongkonger Zeitung South China Morning Post vom 2. Oktober „gingen die Kämpfe bis in die Nacht hinein weiter und hinterließen eine Spur der Zerstörung in Hongkong, Kowloon und den New Territories. Insgesamt wurden 66 Menschen verletzt und mehr als 180 verhaftet.

Die MTR Corporation (die Metro in HK, Anm. Marco Wenzel) wurde weiterhin von Demonstranten angegriffen, die dem Bahnbetreiber vorwerfen, mit der Polizei zusammengearbeitet zu haben. Demonstranten entzündeten Feuer an den Eingängen zu mehreren geschlossenen Stationen, darunter Wan Chai, Sham Shui Po und Causeway Bay. Regierungsbüros, Geschäfte, die sich im Besitz von Peking-freundlichen Unternehmen befinden, und mindestens drei Büros von Politikern wurden ebenfalls zerstört und verunstaltet.“

Tags darauf, am Mittwoch, gingen die Proteste weiter, diesmal aus Wut über den angeschossenen Schüler. Schulklassen boykottierten den Unterricht und wiederum blockierten gewalttätige Demonstranten ganze Straßenzüge und Einkaufszentren. Nach Einbruch der Dunkelheit wurden erneut Brände gelegt, Graffitis gegen die Regierung gesprüht, Bahnhöfe und deren Ticketanlagen zerstört, die Metro teilweise lahmgelegt, chinesische Unternehmen angegriffen, Geldautomaten zerstört, Glasfronten eingeschlagen und natürlich gab es auch wieder die üblichen Kämpfe mit der Polizei.

Ein Ausblick

Nach diesen erneuten Ausschreitungen forderte die Polizei nun strengere Notfallmaßnahmen. Sie fühlt sich von der Regierung im Stich gelassen und sagt, sie könne nicht weiterhin mit dem Problem alleine fertig werden. Der Vorsitzende der Junior Police Officers Association (JPOA) meinte, auch die Regierung müsse ihren Teil zur Lösung beitragen. Die Polizei habe ihrerseits bisher stets ihre Pflicht erfüllt. Die Polizei will nicht mehr länger nur den Prügelknaben abgeben.

Es müssten nun wirksamere Maßnahmen getroffen werden, so die JPOA. Am 1. Oktober allein habe die Polizei etwa halb so viel Tränengas und mehr Gummigeschosse verschossen als zusammengenommen an den 17 Wochenenden zuvor. 30 ihrer Kollegen seien verletzt worden, so könne es nicht weitergehen. Es werde bald die ersten Toten geben.

Als sofortige Maßnahmen fordert die Polizei die Verhängung eines Ausgehverbotes und das Inkrafttreten strikter Notstandsgesetze, insbesondere auch ein Vermummungsverbot, um Randalierer aus der Anonymität zu reißen und sie zur Rechenschaft ziehen zu können, sowie größere eigene Befugnisse beim Vorgehen gegen Gewalttäter.

Carrie Lam, die Regierungschefin von Hongkong, hatte zuerst Vorbehalte geäußert, da sie befürchtete, dass der Schuss nach hinten losgehen und den ohnehin bereits geschädigten Ruf Hongkongs noch weiter beschädigen könnte. Wenig später jedoch hat sie eine Sondersitzung des Regierungskabinetts für heute, Freitag, angekündigt, um über ein Gesetz über ein Vermummungsverbot zu beraten. Das Vermummungsverbot könnte über eine Notfallverordnung aus dem Jahre 1922 eingeführt werden, das dem Stadtverantwortlichen die Befugnis erteilt, in Notfällen oder im Verzug öffentlicher Gefahr “alle Vorschriften zu erlassen, die er im öffentlichen Interesse für wünschenswert hält”. Wenn diese Maßnahmen heute in Kraft gesetzt werden, so soll dies gleich anschließend an die Sitzung verkündet werden.

Natürlich wäre es ideal, wenn eine politische Lösung im Dialog mit der Protestbewegung gefunden werden könnte. Und ein Dialog zwischen den Parteien wird auch die einzige Lösung sein, wenn es denn irgendwann einmal eine Lösung geben sollte. Aber da gibt es keine Ansprechpartner bei den Regierungsgegnern, niemand, der wirklich offiziell befugt wäre, Verhandlungen mit Carrie Lam und ihrer Regierung zu führen und im Fall einer Einigung auch dafür sorgen könnte, dass ein gefundener Kompromiss auch befolgt würde. Die Stärke der Anonymität bedeutet auf der Seite der Regierungsgegner zugleich, keine wirklichen Verhandlungen zur Konfliktbeilegung führen zu können.
Und worüber will man auch groß verhandeln, wenn die Protestbewegung selber nicht so richtig weiß, was sie denn nun genau will und lieber vage Parolen ruft, Fahnen von Großbritannien und den USA schwenkt, dafür aber chinesische Fahnen verbrennt, Großbritannien und die USA aufruft, “ Hongkong zu helfen“ und sie sogar bittet, die Sanktionen gegen China zu verstärken?

Der erste Oktober war ein Stichtag für beide Seiten. Sollte am heutigen Freitag der Notstand ausgerufen werden und Notfallgesetze in Kraft treten, dann gelten für die ab morgen zu erwartenden neuen Unruhen neue Spielregeln.

China hat seit längerer Zeit bereits Truppen im nahegelegenen Shenzen zusammengezogen. Im Fernsehen waren Übungen dieser Truppen zur Aufstandsbekämpfung zu sehen. Die Verabschiedung der Notfallgesetze könnte auch dazu führen, dass die in Shenzen bereitstehenden chinesischen Truppen zum Einsatz kommen werden. Das wird das Kräfteverhältnis definitiv verschieben.
Die chinesische Führung hatte gehofft, dass die Proteste sich auf längere Sicht totlaufen würden. Und sie wollte sich bis nach dem 70. Jubiläumstag der Gründung der VR China zurückhalten, um keine negativen Schlagzeilen in der Weltpresse hervorzurufen. Carrie Lam ist der chinesischen Regierung, die laut Übergabevertrag auch für die Sicherheit in Hongkong verantwortlich ist, direkt unterstellt. Sie handelt mit Sicherheit nur im Einverständnis mit Xi Jinping, den sie noch vor wenigen Tagen in Peking anlässlich der Feierlichkeiten getroffen hat. Und mit Sicherheit wurde dabei auch die Lage in Hongkong und die weitere Vorgehensweise besprochen.

Titelbild: PaulWong/shutterstock.com

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