Deutsche Einheit: Propaganda und Manipulation zum Jubiläum

Deutsche Einheit: Propaganda und Manipulation zum Jubiläum

Deutsche Einheit: Propaganda und Manipulation zum Jubiläum

Tobias Riegel
Ein Artikel von: Tobias Riegel

Die Bundesregierung verweigert in ihrem Bericht zur deutschen Einheit 30 Jahre nach dem Mauerfall die Aufarbeitung der Wende-Verbrechen. Zusätzlich werden die Ungerechtigkeiten der Gegenwart kleingeredet. Unterstützt wird die Politik bei dieser Verzerrung von zahlreichen Medien: Gemeinsam wollen sie sich von den eigenen Verfehlungen distanzieren. Von Tobias Riegel.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Die Bundesregierung hat am Mittwoch ihren Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit vorgelegt. Dieser Bericht wird jedes Jahr veröffentlicht – aus zwei Gründen sticht der Vorgang aber dieses Mal heraus: zum einen wegen des nahenden 30. Jahrestags des Mauerfalls und der damit verbundenen Tendenz zu Rückschau und Bilanzziehung. Zum anderen wegen der aktuell drastisch zutage tretenden, teils auf die Wendezeit zurückzuführenden gesellschaftlichen Spaltungen.

Arroganz und Verniedlichung zum Wende-Jubiläum

Darum wurde dieser Bericht nun mit Interesse erwartet – und auch mit (falschen) Hoffnungen. Hoffnungen darauf, dass die Bundesregierung in dem Dokument die Bereitschaft zu zwei Dingen erkennen lässt: zum einen zu einer realistischen Bestandsaufnahme der Gegenwart. Zum anderen zu einer Aufarbeitung der Vergangenheit – etwa der mit der „Treuhand“ verbundenen Wende-Verbrechen. Der Bericht der Bundesregierung verweigert sowohl Bestandsaufnahme als auch Aufarbeitung.

Dabei wäre dieser Bericht zum jetzigen exponierten Datum eine Gelegenheit gewesen, eines jener Zeichen der „Einsicht“ zu setzen, die zur gesellschaftlichen Versöhnung nun dringend nötig wären. Oder weniger blumig ausgedrückt: Der Bericht hätte auf Arroganz und Verniedlichung verzichten müssen und er hätte neben einer ausgestreckten Hand die Botschaft enthalten müssen: „Wir erkennen endlich offiziell die Verantwortung der Politik für heutige gesellschaftliche Spaltungen an, die Ursachen dafür liegen auch im skrupellosen Umgang mit der ostdeutschen Gesellschaft nach 1989. Wir bitten um Entschuldigung und zeigen Bemühungen, die verursachten Ungleichheiten schleunigst aus der Welt zu schaffen.“ Der Bericht jedoch (Das Dokument findet sich hier) strahlt das Gegenteil von dieser Einsicht aus – sein Tenor ist geprägt von Trotz und von Floskeln, die die anhaltenden Ungleichheiten relativieren sollen.

Trotz ersetzt Realität: „Ostdeutschland geht’s top”

Dieser „positive“ Trotz wird von manchen Medien noch gesteigert, indem sie eine verzerrende Botschaft in die Überschrift setzen, etwa die „Zeit“. Die Zeitung nutzt für diesen Versuch der Manipulation wie viele andere Medien ein Zitat des Ostbeauftragten Christian Hirte, der aktuell behauptet:

“Die Situation im Osten ist viel besser als ihr Ruf“

Diese Botschaft wird neben vielen anderen Medien etwa im „Spiegel“, im ZDF oder beim RBB transportiert. Der Nachrichtenkanal der „Welt“ verkündet gar:

„Ostdeutschland geht’s top”

Die „Tagesschau“ nutzt ergänzend dazu in der Überschrift eine weitverbreitete Formulierung, um „dem Osten“ noch die eigene Benachteiligung anzuhängen. Denn wenn die Entwicklung doch „top“ ist, kann die anhaltende Ungleichheit nur daran liegen, dass die Ostdeutschen eben „hinken“:

„Der Osten hinkt weiter hinterher“

Joachim Gauck – und wie schräg er die Wende sah

Noch einen drauf setzte aktuell der Ex-Bundespräsident Joachim Gauck: Er forderte in einem Interview, dass doch endlich auch mal der Beitrag der Westdeutschen zum Gelingen der Einheit betont werden solle. Und das in einer Situation, in der die stramm westdeutsch geprägte Sicht auf die Jahre seit 1989 dringend durchbrochen und durch eine echte Aufarbeitung ersetzt werden müsste.

Unter anderem nennt Gauck ausgerechnet westdeutsche Medienschaffende, die nach der Wende im Osten einen „glaubwürdigen Journalismus“ aufgebaut hätten. Das ist eine Ohrfeige für die Opfer der großflächigen Nachwende-Propaganda: Viele aktuelle Verletzungen resultieren auch aus den von Arroganz und Manipulation geprägten Kampagnen westdeutscher Medien und Politiker nach 1989. Ohne die Aufarbeitung auch dieser Propaganda wird eine Versöhnung nur schwer möglich sein. Politiker wie Gauck und einige der oben zitierten Journalisten stehen dieser Versöhnung im Weg.

Die Geschichtsklitterung durch die Bundesregierung

Und auch der Ostbeauftragte Hirte wiederholt selbst in der aktuell gesellschaftlich brenzligen Situation einfach die alten Phrasen. Etwa zur Diskussion über „Treuhand“-Kahlschlag und Wende-Kriminalität sagte er gerade laut Medien: „Dass der Osten heute wirtschaftlich schlechter aufgestellt ist als der Westen, liegt nicht an der Situation ab 1990 – sondern daran, dass die DDR wirtschaftlich marode war.“ Hirte fährt fort:

„Ich halte das für einen hanebüchenen Unsinn, dass der Eindruck erweckt wird, der Westen habe ab 1990 quasi den Osten überrannt und ausgebeutet. Natürlich sind im Zuge der Privatisierung auch Unternehmen im Osten unter die Räder gekommen. Ich will gar nicht behaupten, dass wir alles richtig gemacht hätten. (…) Aber dass die Treuhand schuld ist an den Problemen, die wir heute haben, das halte ich für völlig falsch. Wenn Linke und AfD meinen, das sei alles vom bösen Westen verursacht worden, ist das Geschichtsklitterung.“

Analyse der Wende-Verbrechen ist eine „rechte“ Forderung

Dieser Absatz ist einem „Ostbeauftragten“ nicht nur wegen der Verniedlichung „auch Unternehmen im Osten“ unwürdig. Hier nutzt Hirte außerdem eine bekannte Taktik, um die Forderung nach einer angemessenen Wende-Analyse zu diffamieren. Dieses Vorgehen haben die NachDenkSeiten kürzlich hier beschrieben. Es besteht darin, die Forderung nach einer Aufarbeitung der Wende-Wirtschafts-Kriminalität indirekt als „rechts“ zu bezeichnen. Das geschieht etwa, indem die Rufe der LINKEN nach einem Untersuchungsausschuss nun stets mit ähnlich klingenden Forderungen der AfD verbunden werden, wie das auch Hirte praktiziert.

Der „Raubzug der Treuhand“ werde zusätzlich auf die „Fehler“ Einzelner reduziert, was man als die wahre Geschichtsklitterung bezeichnen muss. Enttäuschend ist im Zusammenhang mit dem Wende-Untersuchungsausschuss einmal mehr das abwartende bzw. ablehnende Verhalten von SPD und Grünen, wie die NachDenkSeiten kürzlich hier beschrieben haben.

Keine Versöhnung ohne Aufarbeitung

Ohne Aufarbeitung keine Versöhnung. Wie zentral eine gründliche Beschäftigung mit den durch „Treuhand“ und westdeutsche Propaganda hervorgerufenen Verwundungen ist, zeigt unter vielen anderen Indikatoren eine Studie, die das „Neue Deutschland“ zitiert:

„’Abwicklung’, ‚Ausverkauf‘, ‚Betrug‘. Das waren die Begriffe, die 500 Befragte laut einer Studie von Wissenschaftlern der Ruhr-Universität Bochum am häufigsten verwendeten, um ihre Erinnerungen an die Privatisierungsbehörde zu beschreiben, unter deren Verwaltung die DDR-Volkswirtschaft abgewickelt wurde. In der Studie »Wahrnehmung und Bewertung der Arbeit der Treuhandanstalt« aus dem Jahr 2017 ist resümierend von einem negativen Gründungsmythos des wiedervereinigten Landes die Rede.“

Noch immer gilt: „Die DDR ist schuld“

Doch bis heute reduziert sogar der „Ostbeauftragte“ die reale Ungleichheit auf ein Gefühl: Es gebe nach wie vor viele Bürger, die „meinten“, dass der Osten kollektiv und individuell benachteiligt werde, so Hirte. Das liegt laut Hirte aber nicht an einer verfehlten Politik seit 1989 – nein, die DDR ist schuld:

„Das resultiert daraus, dass die Ostdeutschen das Pech hatten, 40 Jahre auf der falschen Seite der Geschichte gestanden zu haben.“

Der Fraktionschef der LINKEN, Dietmar Bartsch, bezeichnete dagegen die „Treuhand“ kürzlich in einer Rede als eine gesellschaftliche Wunde, die bis heute klaffe. Bartsch ist einer der wenigen Politiker, die aktuell konsequent auf eine echte Analyse der Wende-Jahre pochen. Und nicht nur die Rückschau ist laut Bartsch unbefriedigend, auch die angemessene Beschreibung der Gegenwart werde in dem aktuellen Bericht einmal mehr verweigert, wie er Medien sagte:

Die „Lobhudelei“ des Ostbeauftragten

“Mit dem neuen Ostbeauftragten verkommt der Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit zu einer einzigen Lobhudelei. (…) Natürlich ist viel geleistet worden, von Ost- und Westdeutschen. Aber dass nach 30 Jahren Ostdeutsche weiterhin länger arbeiten müssen und dafür weniger Geld bekommen, ist einer von vielen nicht akzeptablen Fakten.“

Und auch Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) kommt dieser Tage darauf, dass 30 Jahre Ungleichbehandlung „Unmut“ erzeugen könnte:

„Für Unmut sorgt vor allem, dass wir 30 Jahre nach der Deutschen Einheit immer noch keine gleichen Löhne und keine gleichen Renten haben.“

Dieser Unmut drängt nun mit großer und teils zerstörerischer Energie an die Oberfläche, auch weil die Medienkampagnen an Kraft eingebüßt haben: Die widersprüchliche mediale Mischung aus Heiligsprechung („friedliche Revolutionäre“) und Diffamierung („Jammer-Ossis“) hat ihre Wirkung abgenutzt. Es ist ohnehin erstaunlich, wie lange im Zusammenhang mit dem Ende der DDR das Offensichtliche unter einer politisch-medialen Decke gehalten werden konnte. Dieses Vorgehen muss man als ein Meisterstück der langfristigen Propaganda bezeichnen, an der sich alle relevanten Medien und zahlreiche Politiker beteiligt haben.

Beim aktuellen Tempo wäre erst 2081 Gleichheit hergestellt

Der Medienpropaganda und der „Lobhudelei“ vieler Politiker setzt etwa Bartsch Fakten entgegen: Die ostdeutsche Wirtschaftskraft je Einwohner liegt laut Bundesregierung aktuell bei 75 Prozent des Westniveaus – im Bericht wird das bejubelt. Aber bereits 1995 lag diese Quote bei 65 Prozent. Die Wirtschaftskraft Ost wurde in einem knappen Vierteljahrhundert in Relation zum Westniveau um 10 Prozent gesteigert. In diesem Tempo würde die wirtschaftliche Einheit im Jahr 2081 vollendet werden. Fast 100 Jahre nach der Einheit. Der LINKEN-Politiker zählt weitere Ungerechtigkeiten auf, die in der aktuellen Berichterstattung weitgehend verschwiegen werden:

„Nur in 1,7 Prozent der Spitzenpositionen sitzen Ostdeutsche. Kein Rektor einer Universität kommt aus dem Osten, kein Bundesrichter. In den Bundesministerien kommen nur drei von 120 leitenden Beamten aus dem Osten. Von 217 Bundeseinrichtungen sind lediglich 23 im Osten angesiedelt. Von 109 Unternehmen, an denen der Bund beteiligt ist, haben fünf ihren Sitz in Ostdeutschland. Das ist alles föderal grob unfair! Wir fordern keine Extrawurst für den Osten, sondern einen Pakt für föderale Fairness.“

Die „Veränderungsmüdigkeit“ der Ostdeutschen

Dem Bericht der Bundesregierung zufolge haben die ostdeutschen Bundesländer in den vergangenen Jahren wirtschaftlich zwar aufgeholt, sind aber längst nicht gleichgezogen: „Die Wirtschaftskraft Ostdeutschlands ist von 43 Prozent im Jahr 1990 auf 75 Prozent des westdeutschen Niveaus im Jahr 2018 gestiegen“, heißt es in dem Papier, wie Medien berichten. Im Jahresbericht von vor einem Jahr habe es mit Blick auf 2017 noch geheißen, die Wirtschaftskraft verharre mit 73,2 Prozent in etwa auf dem Vorjahresniveau. Hirte bezeichnet die Unzufriedenheit vieler Ostdeutscher mit der Langsamkeit der Veränderung der realen Lebensverhältnisse übrigens als „Veränderungsmüdigkeit“.
Der gesamte Bericht findet sich hier.

Die Unterschiede in der wirtschaftlichen Leistungskraft hängen laut Jahresbericht vor allem mit strukturellen Faktoren zusammen. Dazu zählten „die Kleinteiligkeit der ostdeutschen Wirtschaft, ein Mangel an Konzernzentralen großer Unternehmen und die ländlich geprägte Siedlungsstruktur“. Die verfügbaren Einkommen seien zudem eigentlich „auf einem vergleichbaren Niveau mit dem Westen“, weil die Lebenshaltungskosten niedriger seien. Außerdem sei die Gesellschaft wegen der Abwanderung vieler junger Leute nach 1989/1990 älter als im Westen.

Mit Mauer-Gedenken gegen die ökonomische Ungleichheit?

Interessant sind auch die „Schlussfolgerungen des Kabinettausschusses ‚Neue Länder’“ aus dem Bericht – sie empfehlen zuallererst Symbolisches: „Gemeinsames Gedenken an Mauerfall und Deutsche Einheit“, „Aufarbeitung fortsetzen, Brücken der Verständigung bauen“ und „Bürgerschaftliches Engagement und Demokratie stärken“. Erst dann folgen (immerhin) zentrale Punkte wie „Gleichwertige Lebensverhältnisse schaffen, digitale Infrastruktur ausbauen“ oder „Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum sichern“.

Der aktuelle Bericht und viele Reaktionen darauf erscheinen als ein Akt der offensiven Realitätsverweigerung, wie etwa hier beschrieben wird: Dass die damaligen Massenentlassungen und andere Demütigungen bis in die Gegenwart hineinwirken, lässt sich nicht ignorieren. Die politisch-wirtschaftlichen Verletzungen wurden zusätzlich verschlimmert durch eine die Ostdeutschen herabsetzende Medien-Propaganda, die den Kahlschlag nach der Wende begleitet hatte und diesen bis in die Gegenwart in Schutz nimmt.

Die Verursacher stehlen sich aus der Verantwortung

Doch nicht nur Redakteure und profitierende Firmenlenker haben sich damals schuldig gemacht und weigern sich bis heute, die Verantwortung für von ihnen veranlasste Massenentlassungen bzw. Meinungsmache anzuerkennen. Auch die Politik hat jahrzehntelang fatale Weichen gestellt und falsche Signale gesendet. Alle Genannten haben gemein, dass sie die heutigen gesellschaftlichen Spaltungen nicht mit der von ihnen geprägten Geschichte seit 1989 in Verbindung bringen wollen. Dieser Geist spricht auch aus dem aktuellen Bericht der Regierung.

Titelbild: Adam James Booth/shutterstock.com

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