Mario Draghis letzter großer Auftritt zeigt die Ratlosigkeit, in der sich die EZB befindet. Eine leichte Erhöhung der Strafzinsen für nicht genutzte Gelder der Banken ist ein hilfloser geldpolitischer Schritt, der angesichts der drohenden Rezession bestenfalls als Luftnummer zu bewerten ist. Aber was hätte die EZB auch machen sollen? Die geldpolitischen Instrumente der Zentralbanken wirken ganz offensichtlich nicht mehr. Es wäre an der Zeit, umzudenken und andere Stellschrauben zu bemühen. Diese Stellschrauben kann jedoch nicht die EZB bedienen. Nun ist der Staat gefragt, der in die Bresche springen muss und durch ein Ende des Dogmas der Schwarzen Null und der Austeritätspolitik die Volkswirtschaft wieder auf Kurs bringt. Ein Kommentar von Jens Berger.
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Die althergebrachten Weisheiten der Zinspolitik stoßen an ihre Grenzen
Zinspolitik funktioniert – wenn man mal alle volkswirtschaftlichen Feinheiten für einen Moment ausspart – eigentlich nach einer simplen Logik. Unternehmen wollen investieren. Dafür benötigen sie in der Regel Fremdkapital, das sie meist über Kredite von den Banken erhalten. Je niedriger die Zinsen, desto eher rechnet sich eine Investition und desto mehr Kredite werden aufgenommen. Je mehr Investitionen vorgenommen werden, desto besser entwickelt sich die Konjunktur. Zinssenkungen der Zentralbank führen in diesem Lehrbuchbeispiel zu einer steigenden Konjunktur. Wächst die Konjunktur zu stark – Ökonomen sprechen dann von einer Überhitzung – kann die Zentralbank auf die Bremse treten, indem sie die Zinsen erhöht. Die Konjunktur der Eurozone schwächelt seit Jahren, die jüngsten Konjunkturprognosen sagen sogar eine baldige Rezession voraus. Nach althergebrachter Logik müsste die EZB also den Leitzins senken. Doch hier enden bereits die althergebrachten Weisheiten.
Und das liegt nicht daran, dass der Leitzins schon seit März 2016 bei 0,0% liegt – auch ein negativer Leitzins ist theoretisch und praktisch denkbar. Das eigentliche Problem sind eher die Rahmenbedingungen. Dazu lohnt sich ein Blick auf die drei Sektoren einer Volkswirtschaft.
Als erstes gibt es da die privaten Haushalte. Obgleich die Zinsen zur Zeit sowohl für Guthaben als auch für Kredite niedrig sind, nehmen sie immer weniger Kredite auf und sparen immer mehr. Die Sparquote der privaten Haushalte im Euroraum lag im ersten Quartal dieses Jahres bei 12,6% und steigt damit seit dem vierten Quartal 2016, als sie noch bei 11,6% lag, kontinuierlich. Diese Entwicklung ist übrigens global festzustellen. In den USA liegt die Sparquote beispielsweise zur Zeit bei acht Prozent und damit sechs Prozentpunkte höher als vor der Finanzkrise. Die Haushalte nutzen die niedrigen Zinsen – in der Summe – nicht, um durch Konsum oder Investitionen die Konjunktur anzukurbeln, sondern sind verunsichert und bauen stattdessen ihre Verschuldung ab. Dies ist genau der entgegengesetzte Effekt, den die Niedrigzinspolitik laut Lehrbuch auslösen sollte.
Ähnlich sieht es bei den Unternehmen aus. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten spart der Unternehmenssektor per Saldo mehr, als er ausgibt. Dies ist eine historische Anomalie, sollten die Unternehmen doch in einer normalen Volkswirtschaft vor allem bei niedrigen Zinsen investieren. Die Investitionsquoten steigen jedoch trotz niedriger Zinsen nicht schneller, sondern langsamer. Stiegen die Bruttoanlageinvestitionen 2016 in der Eurozone noch um 4,0%, werden sie in diesem Jahr nach Eurostat-Schätzungen nur noch um 2,3% steigen. Trotz niedriger Zinsen wollen oder können die Unternehmen nicht mehr investieren und fragen daher auch weniger Kredite nach und handeln damit ebenfalls genau entgegengesetzt zu den Lehrbuchweisheiten der Zinspolitik.
Bliebe als letzter volkswirtschaftlicher Sektor der Staat. Doch auch der agiert genau andersherum, als es die Lehrbücher prognostizieren. Trotz teils negativer Zinsen auf Staatsanleihen bauen Staaten wie Deutschland sogar ihre Verschuldung nicht nur relativ, sondern sogar absolut ab, während andere Staaten durch die EU strenge Vorgaben bei der Neuverschuldung einhalten müssen. Die Staaten nutzen also das positive Zinsumfeld nicht für zusätzliche Investitionen, die die Konjunktur ankurbeln würden und springen nicht in die Bresche, um die Investitionszurückhaltung der Haushalte und Unternehmen auszugleichen.
Unter solch ungewöhnlichen Rahmenbedingungen ist die Zinspolitik in einer ausweglosen Situation. Und das betrifft sowohl die „klassische Zinspolitik“ deutscher Art als auch die „expansive Geldpolitik“, die EZB-Chef Mario Draghi verfolgt. Wenn Lehrbuchweisheiten an ihre Grenzen stoßen, wäre vielmehr ein umfassenderer Ansatz nötig, dessen Stellschrauben außerhalb der Zinspolitik zu suchen sind.
Die Schwarze Null muss weg, der Staat muss in die Bresche springen
Um der beschriebenen Sackgasse zu entkommen und die Handlungsunfähigkeit der Zentralbank zu umgehen, muss die Politik aktiv werden. Gerade im Hinblick auf die kommende Rezession ist es von oberster Priorität, dass der Staat sich vom Dogma der Schwarzen Null lossagt und endlich wieder Geld in die Hand nimmt. Dies hätte gleich zwei positive Effekte, die nicht nur die Konjunktur ankurbeln, sondern auch die Problematik entschärfen könnten, dass trotz oder wegen der historisch niedrigen Zinsen zu wenig Kredite nachgefragt werden, zu wenig investiert wird. Der Staat kann nämlich gezielt Investitionen lenken und so dafür sorgen, dass zumindest der Unternehmenssektor für diese Investitionen wieder verstärkt Kredite nachfragt.
Investitionen sind jedoch nur eine Stellschraube. Eine weitere Stellschraube sind die Ausgaben der privaten Haushalte. Vereinfacht gesagt: Wenn die Bürger wieder mehr Geld in der Tasche haben, werden sie auch mehr Geld ausgeben. Erhöhte Ausgaben der Privathaushalte erhöhen die gesamtwirtschaftliche Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen und sorgen auf diesem Wege dafür, dass die Unternehmen wieder investieren. Denn auch wenn der Zins noch so niedrig ist, investieren Unternehmen nur, wenn sie sich dadurch einen erhöhten Absatz versprechen und dies ist nur auf dem Umweg einer erhöhten Nachfrage zu realisieren.
Es ist kein Zufall, dass die von Deutschland vorgelebte und dem Rest der Eurozone aufgezwungene Austeritätspolitik die Volkswirtschaften in genau die Sackgasse geführt hat, aus die sie auch die Zinspolitik der Notenbank nicht mehr herausführen kann. Der einzig gangbare Ausweg ist somit ein Ende der Austeritätspolitik. Ansonsten wird die Niedrigzinsphase zu einem Dauerzustand. Denn nur wenn über alle Sektoren der Volkswirtschaft hinweg wieder mehr Geld nachgefragt als angeboten wird, können auch langfristig die Zinsen wieder steigen.
Leider sind diese eigentlich simplen Zusammenhänge in der Politik kaum ein Thema. So werden sich Politik und Medien auch nach dem jetzigen Zinsentscheid wohl wieder auf Nebenkriegsschauplätze wie die Frage der Strafzinsen für Kleinsparer begeben. Doch dies sind allenfalls Symptome einer Krankheit, die durch die Austeritätspolitik ausgelöst wurde. Und jeder Arzt weiß, dass es kein guter Ratschlag ist, beim offensichtlichen Versagen einer Medikation ganz einfach die Dosis zu erhöhen.
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