Nach der Absage des Europäischen Gerichtshofs an die deutsche „Ausländermaut“ rüsten sich die verhinderten Betreiber für die Klageschlacht gegen die BRD. Die Regressforderungen könnten Hunderte Millionen Euro schwer sein, nachdem bisher schon über 50 Millionen Euro für das Projekt verbrannt worden sind. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss soll jetzt Licht ins Dunkel der Machenschaften des Bundesverkehrsministers und seiner Getreuen bringen. Das verspricht allerhand Erhellendes über Rechentricks, Rechtsbeugung und Rechthaberei. Wollte man böse sein, könnte man das korrupt nennen. Für die handelnden Akteure läuft so etwas unter Politik. Von Ralf Wurzbacher.
Was wollte Andreas Scheuer (CSU) mit seiner „Ausländermaut“ nicht alles bewirken: Für „Gerechtigkeit“ auf Deutschlands Autobahnen sorgen, höhere Staatseinnahmen generieren, den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur vorantreiben, politische Handlungsfähigkeit beweisen, die bayerische Volksseele besänftigen, beim Wähler punkten und noch viel mehr. Und was wird bei der Sache herauskommen? Weniger als gar nichts. Bekanntlich hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) das Herzensanliegen des Bundesverkehrsministers gestoppt und den deutschen Sonderweg einer Straßennutzungsgebühr für Nichtdeutsche durchkreuzt. Das allein wäre bestens und ein versöhnlicher Schlusspunkt hinter einem selten dämlichen Projekt gewesen.
Aber das dicke Ende steht noch aus. Weil die verhinderten Betreiber sich um ihre Profite betrogen fühlen, bereiten sie eine Schadensersatzklage vor, die nach Lage der Dinge ein gewaltiges Loch in die Staatskasse reißen wird. So rechnet etwa der FDP-Bundestagsabgeordnete Oliver Luksic damit, dass die vermasselte PKW-Maut bis zu 500 Millionen Euro kosten wird. Bis dato wurden schon über 50 Millionen Euro für Berater und Gutachter verbrannt. Und wozu das alles? Für nichts und wieder nichts – sofern man nicht in der Chefetage von CTS Eventim und Kapsch TrafficCom sitzt. Dort war man nämlich so „vorsichtig“, die Verträge über die Mauterhebung schon lange im Vorfeld des Luxemburger Richterspruchs abzuschließen und darin für den Fall eines negativen Entscheids großzügige Entschädigungsregelungen zu implementieren. Und Scheuer war „nachsichtig“ genug, dabei mitzumachen.
Wie für den Steuerzahler könnte die Angelegenheit vielleicht auch für Scheuer selbst teuer werden. FDP, die Grünen und die Linkspartei werden aller Voraussicht nach einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur Aufklärung der Umstände einsetzen, unter welchen das Gesetzesvorhaben auf den Weg gebracht worden und gescheitert ist, und dazu, welche Rolle dabei im Speziellen der Minister gespielt hat. Grüne und Liberale kündigten schon zu früherer Gelegenheit an, den Schritt gehen zu wollen. Am Montagabend sprach sich dann auch Die LINKE im Bundestag vom Grundsatz her dafür aus. Das sei erforderlich, „damit dieser Wahnsinn, der dort geschehen ist, wirklich das Licht der Öffentlichkeit erblickt“, erklärte Fraktionschef Dietmar Bartsch.
Die zur Bestellung des Gremiums notwendigen 25 Prozent der Abgeordnetensitze bringen die drei Fraktionen locker zusammen, womit der Unternehmung nichts mehr im Wege stehen sollte. Nun wird es darum gehen müssen, einen Untersuchungsauftrag zu formulieren und festzulegen, welche Sachverhalte konkret zu durchleuchten sind. In der Medienberichterstattung der zurückliegenden Wochen und Monate wurde bereits eine ganze Reihe an Widersprüchen, Ungereimtheiten und Merkwürdigkeiten aufgeworfen, zu denen sich Scheuer erklären muss. Im Folgenden werden die strittigen Punkte sowie die Hintergründe aufgezeigt.
- Handelseinig ohne Rechtssicherheit
Der Hauptvorwurf gegen Scheuer lautet: Warum wurde er mit dem Betreiberkonsortium aus CTS Eventim (Deutschland) und Kapsch Traffic-Com (Österreich) handelseinig, ohne den entscheidenden Richterspruch aus Luxemburg abzuwarten? Nur dieses Vorgehen beweist ein Maximum an Fahrlässigkeit und genügte für sich allein, den Minister seines Amtes zu entheben und ihn wegen Untreue zu belangen. Zwar hatte der Generalanwalt beim EuGH das Modell einer lediglich ausländischen Fahrzeughaltern aufzuerlegenden Fernstraßennutzungsgebühr, die für Deutsche mit der Kfz-Steuer zu verrechnen ist, im Frühjahr für rechtens erklärt. Dies wurde medial als sicherer Fingerzeig gehandelt, dass der Gerichtshof die Klage Österreichs abweisen und am Ende grünes Licht für das Vorhaben geben wird.
Allerdings erfolgte das Votum des Generalanwalts Anfang Februar, als die Verträge schon gemacht waren. Zudem waren sich auch in der Folge längst nicht alle Experten darin einig, dass der EuGH der Empfehlung folgen wird. Scheuer konnte sich also keineswegs sicher sein – schon gar nicht beim Vertragsabschluss fünf Wochen davor –, seine Pläne durchzubringen. Das gilt nicht minder für seine Vertragspartner, die deshalb auch Vorkehrungen für das Worst-Case-Szenario trafen. Wie aus den auf Druck der Opposition inzwischen veröffentlichten Verträgen hervorgeht, sind den Betreibern für den Fall einer Kündigung aus „ordnungspolitischen Gründen“ hohe Vergeltungen zugedacht – nämlich der entgangene Gewinn über die gesamte restliche Vertragslaufzeit bis 2032. Nach einem von der FDP in Auftrag gegebenen Rechtsgutachten sei diese so „weitreichende“ Kompensation als „unüblich einzustufen und erscheint unangemessen“, auch weil das Risiko in einem solchen Fall allein beim Bund lag. Stattdessen hätte es „eine Vielzahl anderer Regelungsmechanismen gegeben, um zu einer angemesseneren Risiko- und Kostenverteilung zu kommen“.
- Vertragsabschluss bei Nacht und Nebel
Der EuGH hatte die deutsche Pkw-Maut am 18. Juni als rechtswidrig verworfen, ein knappes halbes Jahr, nachdem die beiden Hauptkontrakte in einer Art Nacht- und Nebelaktion unterzeichnet wurden. Die Beteiligten sollen den Deal am 30. Dezember 2018 bei einem siebenstündigen Notartermin besiegelt haben. Die Zeit drängte, denn zwei Tage später hätte es einer erneuten Zustimmung des Bundestages bedurft. Die vom Parlament per Haushaltsplan 2018 erteilte Verpflichtungsermächtigung zur Finanzierung des Betreibervertrags wäre zum Jahresende ausgelaufen.
Scheuer begründet die Eile damit, dass sonst der Starttermin zur Mauterhebung gefährdet gewesen wäre und damit womöglich das gesamte Projekt auf unbestimmte Zeit hätte verschoben werden müssen. Das ist nach Lage der Dinge nur die halbe Wahrheit. Daneben ging es wohl darum, dass bei einer erneuten Befassung des Parlaments die Umstände ans Licht gekommen wären, unter denen das Gesamtvolumen der Vereinbarung mit Eventim und Kapsch quasi über Nacht um über eine Milliarde auf nur noch rund zwei Milliarden Euro geschrumpft war. Während der Haushaltsausschuss lediglich eine Summe von höchstens 2,08 Milliarden Euro für die Umsetzung der Pkw-Maut bewilligt hatte, belief sich das im Oktober vom Konsortium vorgelegte Angebot auf über drei Milliarden Euro.
Es „ergibt sich ein fehlender Betrag von ca. 1,067 Milliarden Euro“, konstatierten die Beamten des Verkehrsministeriums in einem Papier vom November 2018 für den zuständigen Staatssekretär. Es zeichne sich ab, dass „die bisher im Haushalt hinterlegte Verpflichtungsermächtigung nicht ausreichend ist, um einen Vertragsschluss mit dem Bieter zu vollziehen“. In dem als „Verschlusssache“ gekennzeichneten Schreiben werden schließlich Wege aufgezeigt, wie man den Bundestag und das Finanzministerium um zusätzliches Geld bitten könnte. Der CSU-Minister wählte einen anderen Weg, indem er das Gebot durch sehr „kreative“ Rechenoperationen auf den allerletzten Drücker auf das nötige Maß zurechtstutzen ließ (vgl. Punkt 3).
Darüber hätte nach Auffassung der Opposition allerdings das Parlament unterrichtet werden müssen. „Minister Scheuer behauptet, es hätte keine wesentliche Veränderung im Verfahren gegeben. Eine Änderung von über einer Milliarde Euro ist aber selbstverständlich genau das, und damit vergaberechtlich hoch problematisch“, äußerte sich etwa der verkehrspolitische Sprecher der FDP, Oliver Luksic. „Bei einer solchen Entwicklung hätte außerdem der Haushälter, der Bundestag, informiert werden müssen, was nicht geschah.“ Scheuer habe „das Parlament und die Öffentlichkeit über die wahren Kosten gezielt belogen“, beklagte der Grünen-Haushaltspolitiker Sven-Christian Kindler. „Am Ende wäre die Pkw-Maut noch massiv teurer als die bisher bekannten Kosten von zwei Milliarden Euro geworden.“
Die Grünen-Fraktion geht noch weiter und wirft dem Minister Verfassungsbruch vor. Nach einem Gutachten zweier Rechtsexperten der Hamburger Helmut-Schmidt-Universität hätte es wegen der in den Verträgen festgelegten Entschädigungskonditionen noch einmal zwingend der Zustimmung des Bundestags bedurft. In der Expertise der Professoren Ulrich Hufeld und Florian Wagner-von Papp heißt es, das Ministerium habe mit dem Vertrag „ein Risiko ohne haushaltsrechtliche Deckung übernommen“. Laut Wagner-von Papp setzt die fragliche Klausel den „Brutto-Unternehmenswert“ als Schadenersatz an, womit die gesamte Vergütung und der gesamte Gewinn über die reguläre Laufzeit von zwölf Jahren fällig würde. Es sei „kaum nachvollziehbar“, dass der Bund sich auf dieses „Garantieversprechen“ eingelassen habe.
- Aus drei Milliarden werden zwei
Bemerkenswert ist, wie das anfangs mit über einer Milliarde Euro über dem Haushaltsrahmen liegende Angebot von Eventim und Kapsch plötzlich auf die gewünschte Größe schrumpfte. Unter anderem haben sich die Beteiligten auf „variable Vergütungen“ geeinigt. Hierbei geht es um Geld für die Behandlung von Ausnahmen, Härtefällen und Widersprüchen in Zusammenhang mit der Maut-Erhebung. Der hierfür ursprünglich vorgesehene Betrag wurde von 500.000 Euro auf 250.000 Euro gesenkt. Weiterhin hat man laut einem Ministeriumsvermerk mit einem Mal Einsparpotenziale durch „die fortschreitende Digitalisierung der Arbeitsabläufe“ ausgemacht, insbesondere „im Bereich an Abgabenpflichtige zu versendende Schreiben“. Obendrein kalkulierte man eine mögliche Umsatzsteuerbefreiung anfallender Portokosten ein.
Ein Angebot im Handumdrehen um ein sattes Drittel zu kürzen, ist an sich schon eine Kuriosität. Kein Unternehmer mit halbwegs intaktem Geschäftssinn ließe sich auf so etwas ein, hätte er nicht handfeste Garantien dafür, am Ende doch seinen Schnitt zu machen. Schon deshalb liegt der Verdacht nahe, dass hier getrickst und verschleiert wurde. Was die Angelegenheit erst richtig undurchsichtig macht, ist allerdings der Faktor Toll Collect. Die Gesellschaft befindet sich seit ihrer Rückverstaatlichung vor einem Jahr in öffentlichem Besitz und treibt für den Bund die Lkw-Maut auf hiesigen Bundesstraßen und Autobahnen ein. Trotzdem kam es der Bundesregierung nie in den Sinn, die Pkw-Maut in die Regie von Toll Collect zu überführen, obwohl sich dabei auf eine intakte und nach anfänglichen Geburtswehen mittlerweile bewährte Infrastruktur zurückgreifen ließe – etwa das flächendeckende Netz an automatischen Kontrollbrücken und -säulen.
Zuletzt kam Toll Collect dann aber doch plötzlich ins Spiel, als sich nämlich die Verantwortlichen genötigt sahen, das Vertragsvolumen zu kappen. Demnach wurde den Betreibern zugesichert, zur Erhebung der Pkw-Abgabe die Lkw-Maut-Terminals mitnutzen zu dürfen – zu vergünstigten Konditionen. So seien erhebliche Synergieeffekte zu realisieren, verlautete es aus dem Ministerium. Dahinter steckt ein erstaunlicher Sinneswandel. Denn als es um die finale Entscheidung ging, ob das System zur Erhebung der Pkw-Maut besser in privater oder staatlicher Hand aufgehoben wäre, krähte in der Koalition kein Hahn nach Toll Collect.
- Geschönte Gutachten
Was in der laufenden Diskussion um Scheuers voreiligen Vertragsabschluss und drohende Schadensersatzleistungen praktisch untergeht, ist die grundsätzliche Frage, ob ein Privatbetreiber überhaupt hätte zum Zug kommen dürfen. Die „Berliner Zeitung” brachte in der Vorwoche ans Licht, wie das entscheidende Wirtschaftlichkeitsgutachten auf ziemlich wundersame Weise zugunsten eines Privatbetreibers optierte. Dabei sollen die Zahlen zum Nachteil des Staatsmodells „frisiert“ worden sein, um das Betreibermodell als das kostengünstigere erscheinen zu lassen. Hintergrund ist der, dass die Haushaltsordnung verlangt, der wirtschaftlichsten Beschaffungsvariante den Zuschlag zu geben.
Die Zeitung verweist auf zwei Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen der Beratungsgesellschaft Pricewaterhouse Cooper (PwC) ein vorläufiges (vWU) vom 30. Juni 2017 und ein abschließendes (aWU) vom 24. Mai 2019 („Stand Dezember 2018“). Beide Dokumente liegen den NachDenkSeiten vor. Wie sich bei Durchsicht der Zahlen zeigt, sind im Zuge der Neuberechnung Ausgabenposten beim Staatsmodell geradezu explodiert, die bei der ersten Kalkulation noch deutlich niedriger angesetzt waren. Insbesondere gilt dies für den Punkt „Informationscenter“, wofür 2017 noch Ausgaben von 226 Millionen Euro (real netto) veranschlagt waren. Ein Jahr später belief sich die Summe dann auf über 350 Millionen Euro. Begründet wird dies mit „Erfahrungswerten“, die auf „der Umstellung der Verwaltung der Kraftfahrzeugsteuer von den Finanzbehörden auf die Zollverwaltung ab dem Jahr 2014“ beruhen. Erfahrungswerte ab 2014? Hätten die nicht auch schon 2017 bekannt sein können?
Ähnlich in die Höhe geschossen sind die „Sachkosten Druck & Versand und Transaktionen“, von einst 147 Millionen Euro auf 230 Millionen Euro. Bloß mit diesen beiden Stellschrauben verteuerte sich das Staatsmodell um 207 Millionen Euro. Ohne diesen Preisauftrieb hätte das Betreibermodell den Kürzeren gezogen, schließlich wird dessen barwertiger Vorteil in der Endabrechnung mit knapp 85 Millionen Euro oder 3,8 Prozent beziffert. Der Grünen-Abgeordnete Kindler schreibt dazu in einer Auswertung: „Hätten die Gutachter einen anderen Portokosten-Großkundenrabatt unterstellt, dann hätte das Betreibermodell keine Vorteilhaftigkeit erzielt.“ Es liege der Verdacht nahe, „dass die Bundesregierung sich ihre Wirtschaftlichkeitsuntersuchung schönrechnen ließ“.
- Wen interessiert Toll Collect
Zur Klarstellung: Auch die Expertise von 2017 priorisiert einen Privatbetrieb, damals sogar mit einem Vorsprung von sieben Prozent. Allerdings rechnete PwC ergänzend zwei „Realisierungsvarianten“ durch. Die erste unterstellt, dass der Betreiber eigene Kontrolleinrichtungen installiert, die zweite berücksichtigt Synergien durch Mitnutzung der Lkw-Maut-Kontrollbrücken. In beiden Fällen soll abermals das Privatmodell die Nase vorn haben. Der Kostenvorteil bei Mitnutzung der vorhandenen Infrastruktur beträgt jedoch gegenüber der ersten Variante immerhin jährlich 34 Millionen Euro bei staatlichem Betrieb und 42 Millionen Euro bei privatem. Daraus ergäben sich über die Gesamtlaufzeit Einsparungen von über 500 Millionen Euro.
Jetzt kommt der entscheidende Punkt: Der Faktor Toll Collect (Mitnutzung von Kontrollbrücken) wird in der 2018er-Untersuchung komplett ausgeblendet. Lediglich an einer Stelle liest man, „es wird angenommen, dass im Rahmen der Erhebung (…) ein Teil der bestehenden Zahlstellen“ mitgenutzt werden könnte. Das wird aber an keiner Stelle vertieft oder kostenwirksam beziffert, während das frühere Gutachten die ganze Bandbreite an Synergieeffekten noch gesondert und bis ins Detail durchkalkuliert hatte. Toll Collect taucht nur noch ein zweites Mal auf – als „TC“ im Abkürzungsverzeichnis. Selbst unter den „weiteren Systembeteiligten“ wird Toll Collect nicht namentlich geführt, zumal es über diese heißt, dass sie „in Hinblick auf die aWU der Erhebung von keiner oder untergeordneter Rolle sind“ und deshalb nicht auf diese eingegangen werde.
Das Versteckspiel mit Toll Collect kann man fahrlässig nennen oder durchtrieben. Und auch der Grünen-Abgeordnete Kindler kann sich nur wundern: „Das überrascht insofern, als Toll Collect (…) natürlich einen sehr hohen Gegenwert in das Projekt eingebracht hätte und dieser auch hätte ausgewiesen werden müssen.“ Zur Erinnerung: Toll Collect ist zu 100 Prozent in Bundesbesitz, nachdem der Betreibervertrag mit den alten Gesellschaftern Deutsche Telekom, einer Daimler-Tochter sowie der französischen Vinci-Gruppe zum 31. August 2018 ausgelaufen war. Hier hätten weitreichende Synergien genutzt werden können, die den Betrieb der Pkw-Maut in staatlicher Obhut sehr viel günstiger gemacht hätten, während ein privater Betreiber für die Mitnutzung der Infrastruktur viel Geld hätte zahlen müssen.
Die „Berliner Zeitung“ zitierte aus einem Gutachten der Wirtschaftsprüfer von KPMG, das als „persönlich und streng vertraulich“ eingestuft und auf den 9. Januar 2019 datiert sei. Darin steht geschrieben: „Bei einer Übertragung der Leistungen auf Toll Collect wird auf Basis einer groben Abschätzung von einem Synergiepotential von 50 % ausgegangen, d.h. durch Synergieeffekte können die für eine Mitnutzung geeigneten Leistungen durch Toll Collect für 50 % der Kosten, die bei der Infrastrukturabgabe anfallen, erbracht werden.“ Damit würde sich der ermittelte Vorteil des Betreibermodells pulverisieren und das Staatsmodell um Längen enteilen – hätte man Toll Collect bei der Vergabe nicht schlicht ignoriert. Die „Berliner Zeitung“ hakte deswegen beim Bundesverkehrsministerium (BMVI) nach – und erntete nichts als Schweigen.
- Rettung um jeden Preis
Wie schon oben thematisiert, sollte Toll Collect dann doch seinen Auftritt bekommen. Nicht, um damit nachträglich das Betreibermodell bei der Vergabe auszustechen. Im Gegenteil: Um das Betreibermodell und das gesamte Projekt „Ausländermaut“ vorm Scheitern zu bewahren. Zum Jahresausgang 2018 war das Staatsunternehmen urplötzlich wieder gut und wichtig genug, seine Synergien einzubringen, um so das Gebot von Eventim und Kapsch in die richtige Form zu bringen, also um über eine Milliarde Euro zu kastrieren. Das ist zwar ein glasklares Eingeständnis, dass bei der Vergabe gemauschelt wurde, weil dabei ja Toll Collect übergangen wurde – aber wem fällt das schon auf. Und womöglich wäre es auch nicht aufgefallen, hätte die Pkw-Maut den höchstrichterlichen Segen erhalten.
Es kam anders und nun hat Scheuer gleich zwei Klötze am Bein: eine Mautaffäre, die ihn den Job kosten könnte, und einen Staatsbetrieb wider Willen. Denn eigentlich wollte er Toll Collect längst wieder in die Hände von Privatinvestoren gelegt haben. Die Verstaatlichung vom Sommer 2018 war seinerzeit ausdrücklich als Übergangslösung gedacht, bis ein neuer Kontrakt in Sack und Tüten ist. Als Termin für die Rückprivatisierung war der 1. Januar 2019 avisiert. Ein ARD-Journalist wollte damals vom Minister wissen, ob es nicht sinnvoller wäre, den Betrieb dauerhaft in öffentlicher Hand zu belassen. Worauf ihn der Gefragte anherrschte: „Sagen Sie mal, wo leben Sie denn?“
Als dann ein halbes Jahr später der Verbleib von Toll Collect in Staatshand verkündet wurde, war die Verwirrung groß: Hat sich hier ein Privatisierungsfetischist eines Besseren besonnen? Die Antwort lieferte damals ein Bericht des Handelsblatts (im Internet hinter der Paywall). Demnach zielte die Operation einzig darauf, die Pkw-Maut zu retten, weil eben nur durch Einbindung von Toll Collect der Kostenrahmen einzuhalten war. Da es keine Mitbewerber gab, hätte andernfalls die Ausschreibung ohne Resultat abgebrochen werden müssen und der gewünschte Starttermin zum 1. Oktober 2020 wäre nicht zu halten gewesen.
Um die Gefahr zu bannen, seien im Rahmen von „Aufklärungsgesprächen“ zwischen Kapsch Traffic-Com, Eventim und Vertretern des Bundes „Aufgaben und damit Risiken und Kosten“ übertragen worden. Dazu gehörte etwa, dass Toll Collect seine Kontrollbrücken zur Verfügung stelle, ferner seine Ticketautomaten an Tankstellen und Grenzübergängen sowie zugleich die Risiken trage, wenn die Geräte ausfallen sollten. Das „riskante Manöver“ sei nur möglich gewesen, weil Toll Collect unter staatlicher Direktive bleibe. So sparte man sich zudem eine um die neuen Aufgaben ergänzte Ausschreibung, was einmal mehr den Zeitplan gesprengt hätte.
- Rosenkrieg
In den Stunden nach dem EuGH-Spruch am 18. Juni ging alles hoppladihopp. Kaum hatten die Richter ihr Urteil gefällt, kündigte das BMVI noch am selben Tag die Verträge mit den verhinderten Betreibern. Begründet wird dies nicht allein mit dem Luxemburger Entscheid, der die Geschäftsgrundlage in Luft auflöste. Im Verkehrsausschuss tischte Scheuer eine Woche später weitere Erklärungen auf. Demnach habe er schon am Vortag des Urteils festgestellt, dass Fristen nicht eingehalten worden seien. Außerdem hätte das Konsortium noch nach Kündigung der Kontrakte Aufträge an Subunternehmen vergeben. Und schließlich hätten sich Eventim und Kapsch mit schlechten Leistungen in Misskredit gebracht.
Die letzten drei Punkte erscheinen im Licht der Ereignisse konstruiert. Im Vorfeld deutete nichts darauf hin, dass der Deal noch hätte platzen können. Zwar soll es Probleme bei der Feinplanungsdokumentation des Betreibers gegeben haben, in einer Präsentation vom Mai 2019 hieß es jedoch seitens Scheuers Beamten, das „Gesamtprojekt liegt insgesamt noch im Plan“ – der Mautbetrieb zum 1. Oktober 2020 sei „nicht gefährdet“. Und noch zwei Wochen vor der Kündigung erkannte die vom Bund beauftragte Gutachterfirma P3 kein „kritisches Defizit, das gegen eine Fortsetzung des Projekts nach Plan spräche“.
Bleibt der Vorwurf, Unterauftragnehmer ungenehmigt beauftragt zu haben, um so, wie ein Anwalt des BMVI es ausdrückte, „nachträglich Ansprüche in erheblicher Höhe gegen den Auftraggeber zu kreieren“. Konkret soll das Konsortium sieben Verträge im Umfang von mindestens 576 Millionen Euro mit „konzernverbundenen Unterauftragnehmern auf Vergütung bzw. Entschädigung für den Fall der Kündigung des Betreibervertrages“ abgeschlossen haben und diese in der Nacht des 20. Juni, also zwei Tage nach dem Urteil, per Mail an das Ministerium gesendet haben.
Vom Umfang der bis zum Zeitpunkt der Kündigung eingeleiteten Transaktionen dürfte am Ende das Ausmaß an Regressforderungen abhängen. Ende der Vorwoche erhöhte der „Focus“ das fragliche Auftragsvolumen sogar auf 895 Millionen Euro. Diese Summe dementierte Scheuers Haus und stellte erneut in Abrede, die fraglichen Transaktionen im Vorfeld der Kündigung per Unterschrift genehmigt zu haben.Diese Version der Abläufe erscheint zumindest fragwürdig. Die „Berliner Zeitung“ hatte am vergangenen Mittwoch unter Verweis auf die veröffentlichten Verträge berichtet, dass die Bundesregierung über die Beteiligung von Tochterfirmen informiert war. Die einzelnen Posten seien „seit Sommer 2017 in einer Anlage explizit aufgeführt und auch über lange Zeiträume eingepreist“ gewesen. Der „Focus“ legte damit nach, dass das dem Ministerium unterstellte Kraftfahrtbundesamt (KBA) in einer E-Mail vom 2. Mai 2019 seine Zustimmung zu den Unterverträgen „im Interesse einer effizienten Projektarbeit und als Zeichen der vertrauensvollen Zusammenarbeit“ bestätigt habe.
- Privatisierungskomplott
Zu klären, wer hier lügt und wer nicht, wird eine der Aufgaben des Untersuchungsauschusses sein. Auf alle Fälle hat das Gezeter etwas von einer Schlammschlacht für die Galerie und Schwarzer-Peter-Spiel. Das lenkt von Wichtigerem ab. Wie die NachDenkSeiten anlässlich des EuGH-Urteils schrieben, sollte die Pkw-Maut lediglich eine Durchgangsetappe auf dem Weg zu einer Maut für alle Autofahrer sein, deutsche wie ausländische.
Kommt es so, und die Stimmen dafür werden immer lauter, wird es absehbar keine „Öko-Maut“ mit einer echten ökologischen Lenkungswirkung geben, sondern nur einen Futtertrog mehr zur Bereicherung von Privatinvestoren.Das gilt selbst dann, wenn die Geschäfte platzen. „Dankbarkeit bekommen Sie in der Politik sowieso nicht. Wir schauen, dass wir das bekommen, von dem wir glauben, dass es uns zusteht“, verkündete Kapsch-Boss Dieter Kapsch auf der jüngsten Aktionärsversammlung. Über die Forderungen will er sich in Schweigen hüllen, bis Ende September die Verträge auslaufen. Dann wird Kasse gemacht – alles andere wäre ja bescheuert.
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