Ein aktuelles „Doku“-Drama des ZDF – „Stunden der Entscheidung: Angela Merkel und die Flüchtlinge“ – schneidert der Regierung Legenden auf den Leib, es ist eine Homestory für die Mächtigen: Die Vorgänge von 2015 werden verzerrt und verkitscht. Damit reproduziert der Sender beispielhaft die seit Jahren beklagten Defizite in der Medienlandschaft. Von Tobias Riegel.
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Das aktuelle „Doku“-Drama „Stunden der Entscheidung: Angela Merkel und die Flüchtlinge“ des ZDF vom Mittwochabend ist ein erneuter Tiefpunkt des deutschen Journalismus. Der Beitrag vereint Distanzlosigkeit, Verzerrungen, Kitsch, Pathos und Heuchelei. Zudem kommt der ZDF-Film über die Entscheidung der Bundesregierung vom 4. September 2015, die in Ungarn festsitzenden Flüchtlinge aufzunehmen, praktisch ohne Kritik an den Mächtigen und den damals Verantwortlichen aus. Der aufreizende Grundton: „Wir sind die Guten“.
Dieser Grundton äußert sich in einer Verunklarung der juristischen Grundlagen („Dublin III“), in Heuchelei gegenüber der ungarischen Regierung und in einer aufreizenden Distanzlosigkeit der Filmemacher gegenüber der damaligen Bundesregierung unter Angela Merkel. Zudem wird nur höchst unangemessen thematisiert, welche Kriege es waren, die die Menschen überhaupt haben flüchten lassen: Es waren zuallererst die westlichen Kriege gegen Afghanistan, Syrien und den Irak.
Die „Grenzöffnung“ war richtig – fatal war das folgende Staatsversagen
Statt Fakten zu präsentieren, werden den Zuschauern Pseudo-Einblicke, Pseudo-Nähe und Pseudo-Realität vorgegaukelt – in einer unseriösen Mischung aus Originalaufnahmen und gespielten Szenen. Das Grundproblem des Genres „Doku-Drama“ stellt sich auch hier: Man weiß nicht mehr – was ist ausgedacht, was ist verbürgt? Denn die angebliche Doku interpretiert und dichtet dazu – immer ist dies positiv für die damals Verantwortlichen.
Zunächst soll hier betont werden, dass nach Meinung des Autors die „Grenzöffnung“ von 2015 prinzipiell richtig war. Umso fataler war aber das Management danach. Durch das Ausbleiben einer großen staatlichen Initiative zur Abfederung der Flüchtlingskrise wurde aus dem „Wir schaffen das“ schnell ein „Ihr schafft das schon“. Und die erlebte Steilvorlage für die AfD.
Keine „linke“ und keine „rechte“ Kritik an der Regierung
Im Film wird sowohl die „linke“ als auch die „rechte“ Kritik am Regierungshandeln von 2015 ausgespart. Dieses Aussparen fast jeglicher Kritik erzeugt den Eindruck der Feigheit und der Unsicherheit gegenüber den eigenen Deutungen und Argumenten. So hätte man von „links“ etwa das zerstörerische Verhalten Deutschlands innerhalb der EU bezüglich Migration viel stärker thematisieren müssen. Jens Berger hat diese deutsche Heuchelei schon 2015 in diesem Artikel auf den Punkt gebracht:
„Die momentan oberflächlich nur schwer zu verstehende Flüchtlingspolitik Ungarns entspricht eins zu eins den europäischen Gesetzen. Den Gesetzen, die vor allem Deutschland über Jahre hinweg gefordert und schlussendlich auch durchgesetzt hat. (…) 1997 trat in der EU das sogenannte Dubliner Übereinkommen in Kraft, das im Grundsatz besagt, dass ein Asylbewerber in dem EU-Land Asyl beantragen muss, in dem er als erstes EU-Boden betreten hat. Wenn man sich einmal die Landkarte anschaut, kann man sich schon denken, welches Land damals das größte Interesse an ‚Dublin‘ hatte – das zentral gelegene Deutschland, das sich auf diese Art und Weise juristisch vor größeren Mengen an Flüchtlingen drücken konnte, die schon damals naturgemäß vor allem in den Staaten mit EU-Außengrenzen, allen voran Italien und Griechenland, zum ersten Mal europäischen Boden betraten.“
Wie Deutschlands Rolle weißgewaschen wird
Demnach ist es den EU-Staaten durch Dublin III untersagt, Flüchtlinge ohne vorherige erkennungsdienstliche Behandlung und Aufnahme in das europäische Zentralregister in andere EU-Staaten weiterreisen zu lassen. Sämtliche Forderungen des Europäischen Parlaments nach einer solidarischen Aufteilung der Flüchtlinge und der damit verbundenen finanziellen Lasten wurden stets von Deutschland abgeblockt.
Diese Tatsachen werden vom ZDF nicht angemessen in den Vordergrund gestellt – kein Wunder: Dann hätte sich der Film ja auch nicht mehr in der erlebten Form über „die Ungarn“ erheben können, wenn man vermittelt hätte, dass die ungarische Regierung hier streng genommen gesetzestreuer handelte als Deutschland. Man könnte diese Gesetze kritisieren, doch dem stand ja vor allem Deutschland im Weg.
„Muss die Politik nicht bereit sein, auch schlimme Bilder auszuhalten?“
Im Film erklingt auch nicht angemessen die „rechte“ Kritik an den Vorgängen von 2015. Wieder wird dadurch das Feld der Kritik an der Migrationspolitik dem falschen Personal überlassen. Eine der ganz wenigen Stimmen, die Merkel im Film entgegentreten dürfen, ist der rhetorisch unbegabte Ex-BND-Chef Gerhard Schindler. Aber Schindler stellt immerhin eine richtige Frage: „Muss die Politik nicht bereit sein, auch schlimme Bilder auszuhalten?“ Man kann diese wichtige Frage verneinen – doch sie muss gestellt und dann auch offen und ohne Emotionalisierung debattiert werden.
Denn unter dieser Prämisse könnte man Merkels Handlung nicht als mutig, sondern als opportunistisch bezeichnen. Man könnte auch die urplötzliche Selbstdarstellung der Bundesregierung als Super-Humanisten auf Kosten einer selber dominant durchgesetzten europäischen Ordnung thematisieren.
„Linker“ Schutzschirm für Merkel
Man könnte auch fragen, ob Merkels Handlungen von 2015 die internationale Flüchtlingspolitik überhaupt humaner gemacht haben. Schließlich hat auch Merkel immer wieder betont, dass sich „dieser Vorgang niemals wiederholen darf“. Würde sie die Flüchtlinge also in vergleichbaren Situationen zukünftig mit Gewalt abwehren? Und wenn das so ist – welchen Wert hat dann die einmalige „Grenzöffnung“ noch? Wenn man von den im September 2015 direkt Betroffenen absieht und das Problem in größerem Rahmen betrachtet, so steht unterm Strich als Folge eine europäische Abschottungspolitik, der Türkei-Deal und die verbarrikadierte Balkanroute mit den entsprechenden Folgen für Hunderttausende Migranten. Das ist die Flüchtlingspolitik der Groko, die unter Realitätsverweigerung auch von „linker“ Seite verteidigt wurde, wenn man dadurch Sahra Wagenknecht in die rechte Ecke stellen konnte. Eine Politik, die im Übrigen die westlichen Kriege als Hauptmotor der Flüchtlingsbewegungen ignoriert.
Im Rausch des Moments können sich Journalisten schon mal davontragen lassen. Aber mit Abstand hätte man nun unbequeme Fragen stellen müssen, auf die das ZDF aber verzichtet: Welche Entwicklungen löste die Handlung von 2015 langfristig aus? Hätte der folgende Rechtsruck durch massiven staatlichen Eingriff verhindert werden können? Übertreffen die langfristigen negativen Folgen der „Grenzöffnung“ nicht die kurzfristigen Triumphe der Menschlichkeit – auch für die Flüchtlinge: Wenn sich etwa wegen des ungeschickten medialen und politischen Verhaltens nach der „Grenzöffnung“ die gesellschaftliche Stimmung radikal gegen die Flüchtlinge dreht? Schließlich war am 5. September klar: Die AfD hat nun – nach der EU-Kritik – ihren zweiten Gründungsmythos serviert bekommen: Die anscheinende Kapitulation des Staates vor der ungeregelten Migration.
Medialer Schutzschirm für Merkel
Und was ist der Wert einer medialen Berichterstattung, die sich gemäß den Wünschen der Macht urplötzlich dem „Willkommen“ verschreibt, im Gegensatz zu lange verfolgten anderen Standpunkten? Wie ist zu beurteilen, wenn fast alle Medien einen Schutzschirm um die Macht bilden – im Zuge dessen dann, wie gesagt, Merkel sogar von „linker“ Seite gegen berechtigte Kritik in Schutz genommen wurde? Das Versagen „linker“ Strukturen in jenen Wochen ist maßgeblich mit dem aktuellen Absturz der LINKEN verknüpft: Versagt wurde unter anderem, indem berechtigte Kritik am Umgang der Regierung mit der Krise als „rechts“ diffamiert wurde.
Aktuell demonstrieren die Reaktionen vieler großer Medien auf die ZDF-Produktion erneut ihre Distanzlosigkeit gegenüber den Vorgängen von 2015: indem die Distanzlosigkeit des Films gegenüber seinen politischen Protagonisten nicht kritisiert und dadurch indirekt fortgeführt wird: Der „Spiegel“ verklärt die dramatischen Stunden zum „Tag der Menschlichkeit“. Die „FAZ“ raunt bedeutungsschwanger: „Sie schrieben den 4. September 2015“ – und fragt ehrfürchtig: „Was war das für ein Tag, an dem Angela Merkel die Koordinaten der europäischen Flüchtlingspolitik veränderte?“ Die Zeitung nennt den Film gar einen „Einblick ins Arkanum der Macht“. Und auch laut der „taz“ wird im ZDF-Beitrag „ein historischer Tag“ behandelt, der Film sei ein „Lehrstück über Europas Gewissen“.
Migration: Wenn Journalisten ihre Berufsrolle verkennen
Die „Doku“ und die überwiegend positiven Kritiken in zahlreichen Medien sind nicht nur für sich genommen problematisch und unseriös. Zusammen bilden sie genau jene Mischung aus Verzerrungen und Emotionen, die spätestens seit 2015 kritisiert werden. Insofern ist der ZDF-Beitrag und die Reaktionen vieler großer Medien darauf auch eine erneute Manifestation der medialen Arbeitsverweigerung zum Thema Migration. Die Otto-Brenner-Stiftung hat 2017 dieses Medienphänomen in der Studie „Die ‚Flüchtlingskrise‘ in den Medien“ beschrieben:
„Die Studie zeigt auf, dass große Teile der Journalisten ihre Berufsrolle verkannt und die aufklärerische Funktion ihrer Medien vernachlässigt haben. Statt als neutrale Beobachter die Politik und deren Vollzugsorgane kritisch zu begleiten und nachzufragen, übernahm der Informationsjournalismus die Sicht, auch die Losungen der politischen Elite. Die Befunde belegen die große Entfremdung, die zwischen dem etablierten Journalismus und Teilen der Bevölkerung entstanden ist.“
Titelbild: Janossy Gergely / Shutterstock