Am 1. September jährt sich der deutsche Überfall auf Polen und damit der Beginn des Zweiten Weltkriegs zum 80. Mal. Aus diesem Anlass hat uns Wolfgang Bittner einen Auszug aus seinem Roman „Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen“ zur Verfügung gestellt. Die zitierten Passagen erzählen zwar vom Nachkriegsdeutschland – sie beschreiben aber direkte Auswirkungen des Weltkriegs, die sich in Fantasien über „Hitlers Superwaffen“, in Ressentiments und im Unvermögen offenbarten, die Wiederbewaffnung zu verhindern. Von Wolfgang Bittner.
Wenn die Erwachsenen hinter dem Haus sitzen und sich unterhalten, hört der Junge gerne zu. Obwohl er vieles nicht begreift, ist doch interessant, was da alles zur Sprache kommt. Der Onkel erzählt von den Kanadiern, die als Angehörige des britischen Commonwealth am Krieg teilgenommen haben, aber die arroganten Engländer nicht ausstehen können, wie er sagt. „Dabei hätten die Tommys den Krieg ohne Unterstützung der USA haushoch verloren, diese Großmäuler, die sich aufspielen.“
Zu den Amerikanern hat er ein ambivalentes Verhältnis. Einerseits bewundert er sie, findet sie tüchtig: „Die packen zu, alles groß und viel bei denen. Ich mag ihre Musik, Boogie-Woogie, Jazz, Blues, Countrysongs. Oder ihre Filme, nicht so ein Gesülze wie bei uns. Oder die Romane von Faulkner, Steinbeck, Cooper, Hemingway, Jack London; gerade habe ich einen Autor namens Henry Miller entdeckt – nichts für biedere Bürger.“ Er gerät ins Schwärmen. „Andererseits“, schränkt er ein, „haben sie die ganze neue Technik, einschließlich der Entwicklung der Atombombe und Raketenwaffe, mit der sie auftrumpfen, deutschen Wissenschaftlern zu verdanken. Albert Einstein und James Franck sind ja schon vor dem Krieg in die USA gegangen, notgedrungen, sie waren bekanntlich Juden. Sofort nach Kriegsende haben die Amis dann, ebenso wie die Russen, Hunderte von Wissenschaftlern samt ihren Familien übernommen, egal ob die Nazis waren oder nicht. Da spielte die Kriegsschuld keine Rolle. Und die Anlagen des deutschen Uranprojektes bei den Kaiser-Wilhelm-Instituten für Physik und für Chemie haben sie gleich mitgenommen, wie auch die Produktionsstätten für die Überschallflugzeuge und Raketen oder die Elektrolabors von Siemens und anderen Firmen.“
Das sieht der Vater genauso: „Hitler hat nicht nur geprahlt, er hatte tatsächlich ‚Wunderwaffen‘ in Vorbereitung. Zum Glück konnte er sie nicht einsetzen.“
Sein Bruder stimmt ihm zu. „So traurig es ist, dass wir den Krieg verloren haben – wenn Hitler die Atombombe gehabt hätte, wäre nicht nur Deutschland, sondern die ganze Welt vor die Hunde gegangen.“
„Gut, dass ihr doch noch zur Besinnung gekommen seid“, wirft die Mutter ein, aber das wird als Provokation empfunden und zieht eine lange Diskussion nach sich. Der Junge freut sich, dass der Vater nach langer Zeit wieder aus sich herauskommt.
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Im Radio werden Reden übertragen, die Kanzler Konrad Adenauer, Innenminister Gustav Heinemann oder Wirtschaftsminister Ludwig Erhard für die Christdemokraten im Deutschen Bundestag halten. Nachdem Kurt Schumacher gestorben ist, antworten ihnen der Oppositionsführer Erich Ollenhauer, der Jurist Carlo Schmidt oder – mit beißendem Spott – der knarzige ehemalige Kommunist Herbert Wehner. Aus Berlin meldet sich der Abgeordnete Willy Brandt zu Wort, aus Bonn der bayerische Politiker Franz Josef Strauß, von Adenauer zum Minister für besondere Aufgaben bestellt. Der vom BND und der CIA geschätzte Hans Globke, Mitverfasser und Kommentator der Nürnberger Rassegesetze, wird Chef des Kanzleramts.
Die vorübergehende Zurückhaltung ehemaliger hochrangiger Nazis ist vorbei. In dem laut Grundgesetz demokratischen und sozialen Rechtsstaat, geführt von Konrad Adenauer, haben viele aus der alten Garde wieder hohe Posten in Politik, Wirtschaft, Verwaltung, Justiz und Wissenschaft eingenommen. Am einflussreichsten ist der Ex-Generalmajor Reinhard Gehlen, der seit 1946 im Auftrag der USA den Geheimdienst „Organisation Gehlen“ mit Tausenden von Mitarbeitern leitet und bereit steht, einen Bundesnachrichtendienst zu gründen. Klaus Barbie, der „Schlächter von Lyon“, der in Frankreich in Abwesenheit zum Tode verurteilt wurde, genießt den Schutz der Briten und Amerikaner, die ihn als Agenten beschäftigen. Der „Arisierer“ und Adenauer-Vertraute Hermann Josef Abs ist von 1948 bis 1952 Vorstandsvorsitzender der Kreditanstalt für Wiederaufbau und tritt erneut in die Dienste der Deutschen Bank ein. Alfried Krupp von Bohlen und Halbach, vor 1945 Inhaber der Krupp AG und Wehrwirtschaftsführer, 1945 als Kriegsverbrecher verurteilt, ist ab 1951 wieder Inhaber der Krupp AG und im Aufsichtsrat verschiedener Unternehmen. Der Großindustrielle Günther Quandt wie auch sein Sohn und Vertreter Herbert Quandt blieben unbehelligt. Theodor Oberländer, Ex-Oberkriegsverwaltungsrat in der Besatzungsverwaltung in Polen, ist Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte. Heinz Reinefarth, der „Schlächter von Warschau“, ist Bürgermeister auf Sylt. Graf Georg Henckel von Donnersmarck, ab 1937 NSDAP-Mitglied, sitzt für die CSU im Bundestag. Der ehemalige Oberkriegsverwaltungsrat in der Besatzungsverwaltung in Polen, Hermann Conring, ist ab 1952 Landrat in Leer, seit 1953 niedersächsischer Landtagsabgeordneter. Tausende Nazijuristen, -diplomaten, -beamte und -wissenschaftler sind fast bruchlos wieder in Amt und Würden; zahlreiche hohe Wehrmachtsoffiziere stehen bereit für den Dienst in einer neuen Armee der Bundesrepublik.
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Unterdessen führt Bundeskanzler Konrad Adenauer Geheimverhandlungen über eine Wiederbewaffnung mit dem amerikanischen Hochkommissar John J. McCloy. Als Innenminister Gustav Heinemann aus der Zeitung davon erfährt, tritt er empört von seinem Amt zurück und erklärt, durch die Wiederbewaffnung an der Seite der Westmächte mache sich Deutschland zum künftigen Schlachtfeld bei einer möglichen militärischen Auseinandersetzung mit der Sowjetunion. Zusammen mit zahlreichen pazifistisch gesinnten Persönlichkeiten gründet er eine Gesamtdeutsche Volkspartei, die für strikte Neutralität Deutschlands zwischen der NATO und dem sogenannten Ostblock eintritt.
Drei Viertel der westdeutschen Bevölkerung lehnen einer Emnid-Umfrage zufolge die Wiederbewaffnung ab, Gewerkschafter, Sozialdemokraten, Kommunisten und einzelne Kirchenvertreter rufen zu Demonstrationen auf, insgesamt werden sechs Millionen Unterschriften gesammelt. Zu dieser machtvollen Friedensbewegung gehören neben Gustav Heinemann, dem Theologen Martin Niemöller und dem Philosophen Karl Jaspers die Nobelpreisträger Otto Hahn, Max Born, Werner Heisenberg und Albert Schweitzer.
Doch Adenauer spricht von der Verteidigung christlicher Werte des Abendlands und warnt vor Sklaverei und Ausbeutung durch das kommunistische Staatssystem. Als schlagenden Beweis für eine angebliche kommunistische Aggression führt er den Krieg im geteilten Korea an, wobei er Parallelen zu BRD und DDR beschwört. Trotz heftigster Proteste setzt er im Einvernehmen mit den Westmächten die nationale Wiederbewaffnung durch und stellt die Weichen für den Beitritt zur NATO.
Der Schriftsteller und Publizist Wolfgang Bittner lebt in Göttingen. Sein Roman „Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen“ ist im Zeitgeist Verlag erschienen. 2017 ist von ihm im Westend Verlag das Buch „Die Eroberung Europas durch die USA – eine Strategie der Destabilisierung, Eskalation und Militarisierung“ erschienen.
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