Seit Wochen von Meinungsforschungs-Agenturen und konservativen Medien als „klares Patt“ suggeriert, bestätigte umgekehrt der spektakuläre Ausgang der argentinischen Vorwahlen vom Sonntag, den 11. August, den Verweis der NachDenkSeiten vom vergangenen 5. August auf seriöse Erhebungen der Wählerpräferenzen in Argentinien. Der Wahlsieg der peronistischen Frente de Todos (Die Front Aller) ihres Präsidentschaftskandidaten, des Juristen Alberto Fernández, sowie der Mehrheit der peronistischen Anwärter um die 23 Gouverneursämter – von denen die Partei Cambiemos (Machen wir´s anders) des bis kommenden Oktober amtierenden Präsidenten Mauricio Macri lediglich zwei Provinzen ergatterte – war zu erwarten. Von Frederico Füllgraf.
Anders ausgedrückt: Dass Macri Verluste einstecken würde, war seit Monaten sozusagen eine „Chronik des angekündigten Desasters“. Dass er jedoch der Formel Alberto Fernández/Cristina Fernández de Kirchner mit mehr als 15 Prozentpunkten (47,7 zu 32,0 Prozent) unterliegen würde, das wagten selbst pro-peronistische Meinungsforscher nicht vorauszusagen. Hält sich der gegenwärtige Trend konstant, könnten Fernández & Fernández die Präsidentschaftswahl vom kommenden 27. Oktober bereits im ersten Wahlgang entscheiden.
Dass die sogenannten „offenen, gleichzeitigen und obligatorischen Primärwahlen (PASO)“ zwei Monate vor der entscheidenden Wahl bereits eine Art „Generalabrechnung“ mit dem Macrismus und seiner ruinösen Wirtschafts- und Sozialpolitik signalisieren, macht die selten hohe Wahlbeteiligung deutlich: Sie betrug 75 Prozent der 33.841.837 Wahlberechtigten.
Spektakulär auch der Sieg des jungen ehemaligen Wirtschaftsministers von Macris Vorgängerin Cristina Kirchner, Axel Kicillof, der die zur Wiederwahl angetretene und höchst umstrittene Gouverneurin der Provinz Buenos Aires, María Eugenia Vidal, mit beeindruckenden 49 Prozent gegen 32 Prozent der Stimmen schlug und damit die Rückgewinnung der Mehrheit der 23 Landesprovinzen durch die Peronisten und ihren Schlachtruf „Volveremos – wir kehren zurück!“ einläutete.
„Rache der Märkte“
Kaum war jedoch das Wahlergebnis bekannt, schoss der Dollar-Wechselkurs von 46 auf 57,30 Pesos in nie dagewesene, stratosphärische Höhen. „Das Wahlergebnis war ein rotes Tuch für die Märkte. Die Wetten der letzten Woche mit argentinischen Anleihen und Aktien erwiesen sich als schlechte Idee für Investmentfonds. Am Montag wurde ein Verlust von bis zu 60 Prozent für inländische Vermögenswerte an Devisen berechnet. Argentiniens Ausfallversicherung verdoppelte ihren Wert, der Rückgang der Anleihen in Fremdwährung überstieg 30 Prozent und das sogenannte Länderrisiko der in den USA beheimateten Ratingagenturen erreichte mit 1.467 Punkten den höchsten Stand der vergangenen 10 Jahre.
In den Supermärkten griff die Preistreiberei um sich und Wirtschaftsexperten beeilten sich, eine „düstere Prognose für das, was kommt“ aufzustellen. Sie sagen voraus, „die Krise könne sich spiralenförmig ausbreiten und mit engem Spielraum der neuen Regierung erhebliche Kopfschmerzen bereiten. Mit anderen Worten: Um der Sabotage der Märkte zu begegnen, sei ein politisches Abkommen mit den Konservativen und ihrem Banken- und Finanzkapital erforderlich.
Macris verratenes Wahlversprechen und die Folgen
Wie die mexikanische Kolumnistin in Buenos Aires, Cecilia González, richtig beschrieb, entpuppte sich ein demagogisch angekündigtes, jedoch in vier Regierungsjahren niemals eingehaltenes Wahlversprechen zur Achillesferse von Macris Wiederwahl-Plänen. Während der Präsidentschaftskampagne von 2016 hatte der damalige Kandidat den Mund mit dem Versprechen von „null Armut“ vollgenommen. „Wenn ich nach Beendigung meiner Präsidentschaft die Armut nicht gesenkt habe, bin ich gescheitert“, besänftigte er seine Wähler mit dem Brustton des Heilsbringers. Im Verlauf seiner katastrophalen Administration versuchte er sich von Zeit zu Zeit zu korrigieren. Es habe sich um kein Versprechen, sondern lediglich um ein „Streben” gehandelt …
Vier Jahre später lebt die Hälfte der argentinischen Kinder in Armut. Allein im Jahr 2018 wurden in Argentinien 2,6 Millionen neue Arme registriert. „Eines der sichtbarsten Anzeichen der Armutszunahme ist die ausufernde Anzahl Obdachloser, die auf den Straßen von Buenos Aires schlafen … Argentinier, die noch einen Lebensraum besitzen, kommen jedoch kaum über die Runden und leiden unter wöchentlichen Preiserhöhungen für Nahrungsmittel und Dienstleistungen. Die angeblich ´nur´ 23 Prozent hohe Inflation hört nicht auf zu steigen”, beklagt González in ihrer Chronik.
Arrogant und lernunfähig lehnt Mauricio Macri es ab, Verantwortung zu übernehmen und die richtigen Konsequenzen aus seinem Versagen zu ziehen. Als sei es eine dritte Variation des „empowered cynicism“, folgte er dem lächerlichen Beispiel seiner konservativen bis faschistischen Kollegen – Chiles Präsident Sebastián Piñera und Brasiliens Jair Bolsonaro, die mit ablenkender Freudscher Projektion jeweils ihre Vorgänger für ihre eigene Unfähigkeit verantwortlich machen – und forderte tatsächlich auf einer Pressekonferenz am Montag, dem 12. August, eine „Selbstkritik“ der in den Vorwahlen siegreichen Peronisten.
Deren Präsidentschaftskandidaten Alberto Fernández schob er die raubbauartige Explosion des Dollar-Wechselkurses und die Preissteigerungen in die Schuhe. Mehr noch: Er säte bösartigen Alarmismus mit Hinblick auf seinen potenziellen Nachfolger. „Falls der Kirchnerismus (der Peronismus unter Führung Cristina Fernández de Kirchner) siegen sollte, ist dies nur ein Test dessen, was passieren kann. Es ist enorm, was passieren kann!”, versuchte der 2015 zum Präsidenten gewählte Multimillionär die Bevölkerung aufzuwiegeln.
Macris erste Auftritte nach seiner phänomenalen Vorwahl-Niederlage signalisieren jedoch nur zwecklose Versuche seines Aufbäumens. „Nicht nur die verarmten Bevölkerungskreise, die sich mit Cristina Kirchners Figur identifizierten, jedoch in den vergangenen Jahren noch ärmer wurden als je zuvor, gaben ihre Unterstützung auf … Auch die Mittelschichten scheinen Macri verlassen zu haben“, ergründete Argentiniens renommierte Professorin Beatriz Sarlo.
Als letzten Verzweiflungsakt, mit dem er innerhalb von zwei Monaten mehr als 15 Prozent der abgewanderten Wähler zurückgewinnen und seine unwahrscheinliche Wiederwahl sichern will, kündigte Macri ein Paket wirtschafts- und sozialpolitischer Notmaßnahmen an, die den von Fernández für den 1. Dezember 2019 angekündigten Sofortmaßnahmen den Wind aus den Segeln nehmen sollen. Hugo Moyano, Vorsitzender der einflussreichen Gewerkschaft der Transportarbeiter, erklärte in einem Gespräch mit dem peronistischen Portal El Destape, „diese Maßnahmen bedeuten nichts, sie sind ein Sandwich und eine Cola, die die Lage der notleidenden argentinischen Familien nicht lösen werden”.
Der frühere Vorsitzende des gewerkschaftlichen Dachverbandes CGT fügte hinzu, Macris Reaktion zeige, „im Grunde (wolle) der Präsident gehen“ und die Regierung befinde sich bereits auf dem Rückzug. Moyanos Worte waren allerdings eine Provokation: Die Gewerkschaften haben nämlich Macri nach seiner Wahlniederlage nahegelegt, er solle sofort seinen Hut nehmen und gar nicht auf seine absehbare zweite Niederlage bei den Präsidentschafts-Hauptwahlen warten.
„Von den opportunistischen Wahlkampf-Sofortmaßnahmen mal ganz abgesehen, scheinen sowohl die großen internationalen Investoren als auch die Argentinier das Vertrauen in Macri und seine Chancen auf eine Wiederwahl verloren zu haben“, kommentierte selbst die spanische El País und schlussfolgerte: „Die Märkte tun so, als hätte Alberto Fernández bereits die Präsidentschaft gewonnen und die liberale Ära der letzten vier Jahre beendet, um sich auf eine Zeit größerer Geldkontrollen und mehr Protektionismus vorzubereiten. Sie fürchten aber auch, was in den Monaten vor der Staffelübergabe passieren könnte. Die Anleger verkaufen weiterhin Pesos und Aktien, dessen globaler Index um mehr als vier Prozent sank … Selbstverständlich trug der weltweite negative finanzielle Kontext zur Verschlechterung der argentinischen Indikatoren bei“.
Fernández im Visier der “Märkte”
In einem Interview vom 29. Juli kritisierte Alberto Fernández Macris Wirtschafts- und Sozialpolitik mit den Worten, „der Konsum wurde ausgeschaltet und die Wirtschaft umgebracht”. Und warnte vor dem neoliberalen Hinriss: „die exorbitanten Zinsraten verhindern die Entwicklung Argentiniens”. Als soziale Rettungsmaßnahme plant der Kandidat der Peronisten, Millionen Arbeiter und verelendete Rentner vor der extremen Armut zu schützen: „Am 10. Dezember werde ich ihre Gehälter und Renten aufstocken”. Die Erhöhung solle 20 Prozent erreichen. Es gäbe auch keinen anderen Weg, als die Wirtschaft wieder produktiv und nicht spekulativ anzukurbeln, die Warenproduktion zu erhöhen und den Konsum anzuregen; Sofortmaßnahmen aus dem Drehbuch der erfolgreichen Armutsbekämpfung des Brasilianers Luiz Inácio Lula da Silva aus dem Jahr 2003.
Indes, wer kann diesem Drehbuch einen Strich durch die Rechnung machen? Die Finanzmärkte selbstverständlich. „Trotz aller Zweifel, die er auf dem Finanzmarkt hervorruft, gilt Alberto Fernández mit seinem aufsehenerregenden Vorsprung für die Wall Street bereits als virtueller Präsident Argentiniens“, kommentieren Medien des argentinischen Finanzmarktes.
In Widerspruch zu umgekehrt lautenden und von der konservativen Tageszeitung Clarín kolportierten Versionen hat der virtuelle Präsident bereits erklärt, er werde die von Macri verursachten Staatsschulden abzahlen. Doch das reicht den sogenannten „Märkten“ nicht. Sie bohren nach „Hinweisen” für die nächsten Schritte von Fernández ab dem 1. Dezember, um die Dollar-Explosion und den Zusammenbruch von Anleihen und Aktien einzudämmen. Also drängen Investmentbanker und Fondsverwalter auf Treffen mit dem Präsidentschaftskandidaten. Er solle „bestehende Befürchtungen“ zerstreuen.
Diego Ferro, Ex-Manager von Greylock Capital, brachte die Unverfrorenheit der Banker auf den Punkt. Fernández müsse notgedrungen „ernsthafte Haushaltsanpassungen (also noch mehr Einschnitte in die Staatsausgaben für Sozialpolitik) vornehmen, um die Glaubwürdigkeit der Märkte zu gewinnen”. Für Ferro könnte Fernández trotz seiner „geringen Kreditwürdigkeit im guten Sinne überraschen”. Im Klartext: „Argentinien ist zu jetzigen Preisen billig. Es gibt nicht viele Möglichkeiten, Populismus zu betreiben, weil es keine Finanzierung gibt” – Punkt.
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