Während einer Tagung vom vergangenen 28.Juli der sich im kommenden Oktober zur Wiederwahl präsentierenden uruguayischen Regierungspartei Frente Amplio (Breites Bündnis) überraschte der zum Nationalhelden erhobene Ex-Tupamaro-Guerillero und Ex-Präsident José Pepe Mujica die Öffentlichkeit mit scharfen Worten an die Adresse der venezolanischen Regierung Nicolás Maduro. „In Venezuela gibt es nichts anderes als eine Diktatur”, erklärte der zu den führenden und erlauchtesten Köpfen der lateinamerikanischen Linken zählende Politiker. Mujicas Worte wurden von Universal Radio News ausgestrahlt und im Handumdrehen nahezu viral von internationalen Medien und sozialen Netzwerken verbreitet. Von Frederico Füllgraf.
„Es ist eine Diktatur, ja. In der Lage, in der sich Venezuela befindet, gibt es nichts anderes als eine Diktatur. Doch Saudi-Arabien ist mit einem absolutistischen König ebenso eine Diktatur, und eine Diktatur beherrscht Malaysia, wo täglich 25 Menschen getötet werden. Und was ist mit der Volksrepublik China?”, provozierte Mujica Parteifreunde und erstaunte Medien. Die Aufreizung war indes nicht bombastisch. Seit Ende 2018 hatte der linke Mujica gedämpfte Signale der Kritik am Regierungsstil Maduros ausgesendet und sich Anfang 2019 auch als internationaler Unterhändler für den innervenezolanischen Dialog angeboten.
Beobachter sinnierten, Mujicas Worte seien als Wink mit dem Zaunpfahl an eher konservativ orientierte Wähler zu deuten. Das mag stimmen, sollte aber nicht als Verzweiflungsakt verstanden werden, rangiert Frente Amplio nach jüngsten Umfragen mit 35,5 Prozent immerhin auf Platz 1 der Wählerpräferenz und satten 13 Prozent vor ihrem konservativen Herausforderer, der Nationalen Partei (22,6 Prozent).
Dass Daniel Martínez, der Präsidentschaftskandidat des Frente Amplio, sich Mujicas Meinung über die Regierung Maduro anschloss und über Twitter verbreitete, deutet vielmehr an, dass sich die Partei schrittweise den Ansichten ihres einst defenestrierten Mitglieds und gegenwärtigen Generalsekretärs der Organisation der Amerikanischen Staaten (OAS), Luis Almagro, annähert. Die Ironie dabei ist, dass Almagro aus der Partei ausgeschlossen wurde, nachdem er Erklärungen für eine mögliche Intervention in Venezuela abgegeben hatte.
Der schräge UN-Bericht von Hochkommissarin Michelle Bachelet
Die Venezuela-Wende in der linken Frente Amplio erfolgte jedoch wenige Wochen nach Bekanntgabe des Berichts von UN-Sonderkommissarin Michelle Bachelet zur Lage der Menschenrechte in Venezuela und ist als Distanzierung der uruguayischen Linken von der Regierung Maduro zu deuten; eine Distanzierung, der sich neuerdings auch Boliviens Präsident und enger Freund von Hugo Chávez, Evo Morales, anschloss. Die Abkehr, die auch beachtliche Teile der brasilianischen PT erfasst, kann allerdings als momentaner Verzicht der lateinamerikanischen Mitte-Links-Parteien auf eine offene Konfrontation mit der destruktiven Außenpolitik Donald Trumps hin zum politischen Zentrum gedeutet werden. Das wäre der Kurs Michelle Bachelets.
Der Bericht beschreibt in 83 Artikeln die zweifellos alarmierende politische, soziale und wirtschaftliche Lage Venezuelas unter der Regierung Nicolás Maduro, die in 8 Szenarien mit entsprechenden Empfehlungen und Auflagen zusammengefasst werden können. So stellt das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte fest, dass:
- Die Maduro-Regierung gegen das Grundrecht auf Nahrungsmittelversorgung verstößt, gegen das Recht auf Nahrung
- Die Gesundheitsversorgung gravierend versagt
- Die internationalen Sanktionen gegen Venezuela nicht die Ursache für die Benachteiligungen seiner Bevölkerung sind
- Gegen die bürgerlichen und politischen Grundrechte der Informations- und Meinungsfreiheit verstoßen wird
- Mit detaillierten Informationen selektive Unterdrückung und Verfolgung aus politischen Gründen dokumentiert werden konnte
- Die Staatsanwaltschaft ihre unabhängige Untersuchungspflicht regelmäßig verletzt
- Die Migration mit über 4 Millionen Flüchtlingen sich zum Drama ausgewachsen hat
- Die indigene Bevölkerung Misshandlungen ausgesetzt ist.
Mit diesem Befund wird die Regierung Nicolás Maduro dazu aufgefordert, unverzüglich Maßnahmen zu ergreifen, um den Zugang zu Nahrungsmitteln und Gesundheit zu gewährleisten; Repressionen, Folter und außergerichtliche Hinrichtungen einzustellen; alle willkürlich ihrer Freiheit beraubte Personen freizulassen; unverzügliche, wirksame, gründliche, unabhängige, unparteiische und transparente Ermittlungen in Bezug auf Menschenrechtsverletzungen, einschließlich des Todes von Ureinwohnern, durchzuführen und die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen; die Sicherheits-Spezialkommandos (FAES) aufzulösen und allen Menschen, einschließlich Kindern, das Recht auf Identität und Dokumentation zuzusichern.
Der unseriöse UN-Bericht
Wie Tobias Riegel in seinem Bericht bereits zu bedenken gab, ist die Entstehungsgeschichte des UN-Berichts Bachelets von einiger Schrägheit gekennzeichnet.
Erstens verzerrt der UN-Bericht den venezolanischen Kontext. Venezuela rangierte nämlich 2018 an der Spitze der Rangliste der gewalttätigsten Länder Lateinamerikas. Das südamerikanische Land wies 2018 eine Rate von 81,4 Morden je 100.000 Einwohner auf – eine makabre Zahl, die Venezuela als gewalttätigstes Land der Region, selbst vor El Salvador und Honduras, einstuft. Die insgesamt 23.047 Toten wurden von der venezolanischen Beobachtungsstelle für Gewalt erhoben, die mit acht Universitäten kooperiert. Der Bericht vermischt also die sogenannte „gewöhnliche“ mit der politisch motivierten Gewaltausübung.
Zweitens verschweigt der Bericht die Menschenrechtsverbrechen der Opposition. Allein seit April 2017 wurden mehr als 25 Menschen bei gewaltsamen Aktionen der Opposition bei lebendigem Leib verbrannt und tausende erlitten schwere Verletzungen.
Dabei handelt es sich um eine Verbrechens-Kategorie, die die Vereinten Nationen als „Hassverbrechen“ bezeichnen, nämlich „eine entmenschlichende Straftat, weil der Täter der Ansicht ist, dass sein Opfer aufgrund seiner Hautfarbe, seiner sexuellen Orientierung, seines Geschlechts, seiner Geschlechtsidentität, seiner Herkunft, seiner ethnischen Zugehörigkeit, seines Familienstands und seiner Geburt, körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung, sozialem Status, Religion, Alter, religiöser oder politischer Überzeugungen keinen menschlichen Wert hat“, so das UN-Büro des Sonderberaters für Verhütung von Völkermord.
Die venezolanische Regierung kritisierte, dass in dem Bericht die erzielten Erfolge und Fortschritte in der Menschenrechts-Politik ausgelassen, die negativen Positionen von Präsident Nicolás Maduro stärker berücksichtigt, ferner die im Bereich der Grundrechte und der sozialen Fürsorge erzielten Erfolge und Fortschritte in vollem Umfang ausgelassen wurden. Ebenso verschweigt der Bericht 75 Prozent der Investitionen, die der venezolanische Staat für den Sozialbereich im Staatshaushalt bereitgestellt hat. Die Informationen darüber waren Bachelet in einem ausführlichen Bericht von Bildungsminister Aristóbulo Isturiz überreicht worden.
In verschiedenen Passagen des Berichts heißt es, die venezolanische Regierung habe die “humanitäre Krise” anerkannt, was falsch ist, da die Regierung nachweisen konnte, dass in Wirklichkeit die Wirtschaftsblockade für die venezolanische Situation verantwortlich ist. Laut beklagte die Regierung Maduro, dass der Bachelet-Bericht die Auswirkungen der von der US-Regierung verübten Wirtschaftsblockade auf den Lebensstandard des venezolanischen Volkes nicht berücksichtigt, obwohl dies ein relevanter Bestandteil in einer Ansprache Bachelets selbst während ihres dreitägigen Besuchs in Caracas war.
Der Bericht wimmelt vor Ungenauigkeiten und Ungereimtheiten, von denen die Regierung Maduro insgesamt 74 Aussagen beanstandete. So zum Beispiel zum Thema Informations- und Meinungsfreiheit. Der UN-Bericht zitiert mehrere Angriffe auf Medien und Journalisten und bemängelt Vielfalt und Pluralismus. Dass die Regierung Maduro es mit der Pressefreiheit in den jüngsten Jahren nicht genau nahm und mit Journalisten nicht gerade zimperlich umging, ist hinlänglich bekannt und muss nachdrücklich an den Pranger gestellt werden.
Doch zu behaupten, in Venezuela herrsche die „Zensur“ und eine „Diktatur“, ist angesichts der fast monopolartigen Dominanz konservativer Medien, und dass inzwischen seit 2018 mindestens 32 neue Rundfunkkonzessionen und eine Fernsehkonzession erteilt sowie 12 Rundfunk- und Fernsehkonzessionen verlängert wurden, bestenfalls ein Hirngespinst; realiter eine Tatsachenverdrehung.
Der Ex-Präsidentin Chiles und Mitglied der Sozialistischen Partei, Michelle Bachelet, kann man nicht dunkle Machenschaften mit der militanten und gewalttätigen Opposition Venezuelas unterstellen. Während ihrer zweiten Amtszeit (2014-2017) weigerte sie sich zum Beispiel, Lilian Tintori, Ehefrau des rechtsradikalen Gewalttäters Leopoldo López, im Moneda-Palast zu empfangen. Was Bachelet jedoch mit Mujica und Martínez vereint, wäre eventuell ihre Ambition, 2021 zum dritten Mal als Präsidentschaftskandidatin aufzutreten. Was u.a. die Schieflage ihres Berichts erklärt. Nämlich die Besänftigung des politischen Zentrums, das zuletzt mehrheitlich die chilenische Reaktion gewählt hat.
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