Fünf Jahre nach der Maidan-Revolution haben die Ukrainer die Revolutionäre von 2014 satt. Wahlsieger ist eine neue Partei mit rechtsliberalem Programm und ohne ausgeprägte antirussische Rhetorik. Von Ulrich Heyden.
Das Rennen bei den außerordentlichen Parlamentswahlen in der Ukraine am Sonntag machte – wie erwartet – die erst vor kurzem von Präsident Wolodymyr Selenski gegründete Partei „Diener des Volkes“. Sie erhielt 42,57 Prozent der bisher ausgezählten Stimmen.
Nach der bisherigen Stimmenauszählung kann Selenski mit seiner Partei durchregieren. „Diener des Volkes“ verfügt in der Werchowna Rada über 247 der 450 Abgeordnetenmandate. 122 der Mandate errang „Diener des Volkes“ über die Parteiliste, 125 über Direktmandate.
Selenski und seine Mannschaft von jungen Leuten, die ihre Erfahrungen vorwiegend im Medien- und Showgeschäft gemacht haben, krempelten die politische Landschaft der Ukraine mit Unterstützung von Oligarch Igor Kolomoiski komplett um.
Die Angst kritischer Beobachter, aus der sozialen Katastrophe in der Ukraine würden irgendwann zwangsläufig die Rechtsradikalen Nutzen ziehen und mit einem neuen Maidan ihre Ordnung in der Ukraine errichten, ist (bisher) nicht Wirklichkeit geworden.
Präsident Selenski hat durch die Wahlen am Sonntag eine Mehrheit im Parlament
Regulär hätten die Parlamentswahlen erst im Oktober stattfinden sollen, aber Selenski setzte durch, dass die Wahlen vorgezogen werden, denn in der Werchowna Rada fand er keine Mehrheit für seine Politik, die sich gegen korrupte Seilschaften in Politik und Verwaltung richtet.
Eine solche Politik ist eigentlich auch im Interesse westlicher Konzerne und Investoren. Doch der Westen – insbesondere der Anti-Trump-Flügel – traut Selenski noch nicht. Seine im Wahlkampf angeschlagene Friedens-Rethorik finden vor allem deutsche Fernseh-Kommentatoren fragwürdig.
Zu einer Politisierung der Menschen hat die Kandidatur Selenskis und die Gründung seiner Partei „Diener des Volkes“ nicht geführt. Die Wahlbeteiligung am Sonntag war mit 49,84 Prozent niedriger als bei den Parlamentswahlen 2014, als noch 52,42 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgaben.
Jelena Bondarenko, die im südukrainischen Nikolajew-Gebiet ein Direktmandat für den Russland-freundlichen „Oppositionsblock“ erringen wollte, aber scheiterte, schreibt auf Facebook: „Die traditionelle Wahltechnologie funktioniert nicht mehr. Die Abstimmung wird immer mehr zu einer emotionalen Wahl. Der Verstand der Wähler wird immer mehr verachtet. Ohne die Propaganda des Fernsehens gibt es keine Chancen (für Kandidaten, U.H.) Die Verantwortung für seine Wahl schiebt der Wähler auf alle Möglichen, nur nicht auf sich selbst. Verantwortliche Politiker sind fast Brontosaurier. Sie überleben nur durch ein Wunder. Und nicht alle.“ Die „denkenden Wähler“ – so Bondarenko – litten darunter, dass sie „von der Dummheit einer aktiven Minderheit“ (gemeint sind Selenski, Poroschenko u.a.) abhängen. Die „denkenden Wähler“ seien „apathisch und passiv, weil sie verlieren.“
„Heldin der Ukraine“ Sawtschenko bekommt nur acht Stimmen
Die Ukrainer – enttäuscht von Verarmung und Krieg – waren nicht mehr bereit, ihre Stimme für bekannte Politiker und Parteien abzugeben. Selbst die von Petro Poroschenko nach ihrer Haft in Russland als „Heldin der Ukraine“ ausgezeichnete Kampfpilotin Nadjeschda Sawtschenko wurde von den Wählern bestraft. Sie bekam in einem Wahlkreis im „Gebiet Donezk“, der nördlich der „Volksrepublik Donezk“ liegt und von der Ukraine kontrolliert wird, nur acht (!) Stimmen.
Sawtschenko war 2018 wegen eines angeblichen Staatsstreich-Versuchs in Kiew für ein Jahr in Haft gekommen. Mit ihren politischen Schwenks – mal ukrainisch-nationalistisch, mal pro-separatistisch – verspielte sie sich jegliches Ansehen.
Mehrere Parteien wurden für die Wahl am Sonntag extra neu gegründet. Bei aller Modernität griffen die Wahl-Technologen von Selenski auch auf Erprobtes zurück. Den Parteinamen „Diener des Volkes“ (Слуга народа) klaute man sich bei Stalin, der den Slogan 1937 in einer Rede zu den Wahlen zum Obersten Sowjet benutzte. Damals hielt der Slogan Eingang in die sowjetische Propaganda, wie Plakate aus der Zeit bezeugen.
16,5 Prozent für Russland-freundliche Parteien
Zweitstärkste Partei bei den Parlamentswahlen wurde mit 13,03 Prozent die im Oktober 2018 gegründete Russland-freundliche „Oppositionsplattform – Für das Leben“. Diese neue Partei ist eine Abspaltung des 2014 gegründeten Oppositionsblocks, der bei den Wahlen am Sonntag 3,2 Prozent der Stimmen erhielt. Die Russland-freundlichen Parteien „Oppositionsblock“ und „Oppositionsplattform – Für das Leben“ bekamen am Sonntag zusammen 16,5 Prozent der Stimmen. Das sind sieben Prozent mehr als der „Oppositionsblock“ bei den Parlamentswahlen 2014 bekam.
Trotz täglicher Anti-Russland-Hetze in ukrainischen Medien ist es nicht gelungen, die Bevölkerung auf einen aggressiven Kurs gegen Russland einzustimmen. Die „Diener des Volkes“ betonen ihre Verbundenheit mit EU und Nato, verzichten aber auf anti-russische Rhetorik, wie sie seit 2014 von der „Volkfront“ des damaligen Ministerpräsidenten Arseni Jazenjuk und dem „Block Petro Poroschenko“ gepflegt wurden. Die „Volksfront“ trat zu den diesjährigen Parlamentswahlen nicht mehr an.
Die radikal-antirussische Linie der „Volksfront“ führt jetzt Petro Poroschenko mit seiner neugegründeten Partei „Europäische Solidarität“ weiter. Die Partei bekam am Sonntag 8,48 Prozent der Stimmen. Bemerkenswert ist: Die Ukrainer, die im westlichen Ausland leben und in Botschaften der Ukraine abstimmten, wählten vorwiegend die Partei von Poroschenko.
Zu den fünf Parteien, welche die Fünf-Prozent-Hürde überwanden und die in die Werchowna Rada einziehen, gehört auch „Vaterland“, die Partei von „Gasprinzessin“ Julia Timoschenko, die nach der Orangenen Revolution 2005 zweimal Ministerpräsidentin wurde.
Der Rock-Sänger Swjatoslaw Vakartschuk holte mit der neugegründeten Partei „Stimme“ 6,26 Prozent der Stimmen. Selenski will nicht ausschließen, dass Rocksänger Vakartschuk Ministerpräsident wird, sucht aber für diesen Posten eine Person mit „wirtschaftlicher Kompetenz“ und es ist unwahrscheinlich, dass Vakartschuk dieses Kriterium erfüllt.
Regierungskritischer Video-Blogger erreicht Achtungserfolg
Mehrere Parteien schafften nicht den Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde. Der bekannte Video-Blogger Anatoli Schari, der im westlichen Ausland lebt und durch seine Enthüllungen über Präsident Petro Poroschenko bekannt wurde, bekam mit seiner neugegründeten „Partei Schari“ 141.000 Stimmen beziehungsweise 2,29 Prozent. Schari wertete das Ergebnis als Erfolg, weil seine Partei im ukrainischen Fernsehen Auftrittsverbot hatte. Immerhin: Die „Partei Schari“ erhielt mehr Stimmen als die Partei des amtierenden ukrainischen Ministerpräsidenten, „Ukrainische Strategie Grojsman“, für die 2,18 Prozent der Wähler stimmten.
Die ultranationalistische Partei Swoboda, die führend an der Maidan-Revolution beteiligt war, erhielt 143.000 Stimmen beziehungsweise 2,31 Prozent.
Was steht im Wahlprogramm der „Diener des Volkes“?
Erst am 9. Juli legten die „Diener des Volkes“ ihr Wahlprogramm vor. Das Programm ist frei von anti-russischer Rhetorik. Es ist im Geist liberaler Philosophie geschrieben und mit viel Populismus gewürzt.
- Für Richter sollen „Anständigkeit und Professionalität“ die „wichtigsten Kriterien“ sein.
- Abgeordnete, „die das Vertrauen der Wähler verloren haben“, sollen ihre Immunität verlieren können.
- Die „Anti-Korruptions-Organe“ sollen eine „reale Unabhängigkeit“ haben.
- Die Verteidigungsausgaben sollen auf eine Höhe von fünf Prozent des Bruttoinlandprodukts steigen.
- Die Streitkräfte sollen „nach Nato-Standards“ reformiert, die „Zusammenarbeit mit der EU und der Nato“ ausgebaut werden.
- Im Wirtschafts- und Finanzbereich will man die Regeln für das, was als strafrechtlich relevant gilt, „reduzieren“.
- Die Wirtschaft soll „demonopolisiert“ werden.
- Alle Kinder der Ukraine sollen über einen „Wirtschaftspass des Ukrainers“ an den Gewinnen beteiligt werden, die bei der Ausbeutung von Naturressourcen erwirtschaftet werden. Welche Ressourcen das genau sind, wurde nicht gesagt.
- Lehrer sollen mindestens das dreifache Minimaleinkommen bekommen. Das Minimaleinkommen in der Ukraine liegt heute bei 145 Euro im Monat. Ein Lehrer mit zwanzig Jahren Berufserfahrung verdient heute in der Ukraine 260 Euro im Monat.
Was in dem Programm von „Diener des Volkes“ fehlt, sind Maßnahmen zur Besteuerung der Oligarchen und zum Stopp der seit den 1990er Jahren andauernden Kapitalflucht in westliche Offshore-Zonen.
Soweit hat der Einfluss des „freien Westens“ die Ukraine nach der Maidan-Revolution also gebracht: Das Volk ist von der Politik so müde, dass es bereit ist, alles zu wählen, was „jung und unverbraucht“ ist. Das hinter „jung und unverbraucht“ Konzepte schlummern, nach denen die letzten Reste von sozialem Schutz fallen sollen, werden die Menschen wohl erst begreifen, wenn die neue ukrainische Regierung die Arbeit aufnimmt.
Die „Tagesschau“ warnt vor pro-russischer Partei in der Ukraine
Dass es in der Ukraine fünf Jahre nach dem Maidan und der „Säuberung“ von allem Sowjetischen und Russischen immer noch eine Russland-freundliche Partei gibt, die beachtliche Wahlergebnisse einfährt, ist für die „Tagesschau“ offenbar eine Zumutung. Dass Vertreter der ukrainischen „Oppositionsplattform“ in den letzten Monaten auch noch zu Treffen mit russischen Parlamentariern, mit Ministerpräsident Dmitri Medwedew und Präsident Wladimir Putin nach Moskau flogen, ist nach Meinung von „Tagesschau“-Redakteurin Silvia Stöber eine „Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Ukraine“.
Dass Angela Merkel Petro Poroschenko seit seiner Wahl zum ukrainischen Präsidenten 15 mal in Berlin empfangen hat und dass Guido Westerwelle 2014 auf dem Maidan Hände ukrainischer Oppositionspolitiker schüttelte, ist nach der Sichtweise der großen deutschen Medien natürlich keine Einmischung. Die Logik geht so: Der „freie Westen“ darf sich einmischen, da er für eine gute Sache streitet. Russland darf sich nicht einmischen, weil es autoritär ist und den Menschen ihre Freiheit nehmen will.
Doch „Tagesschau“-Redakteurin Stöber geht noch weiter. Sie äußert ihr Verständnis für ukrainische Nationalisten, die Kiewer Fernsehstationen belagern und die Absetzung „russischer Propaganda-Sendungen“ erzwingen. Diese Fernsehstationen ständen unter dem Einfluss von „Putin-Freund“ Viktor Medwetschuk, der auch die „Oppositionsplattform“ leitet, so die „Tagesschau“.
Verständnis für Gewaltakte ukrainischer Nationalisten gegen Medien
Was war vor den Kiewer Fernsehstationen wirklich passiert?
Der erste Vorfall: Aufgrund einer Belagerung vor dem Kiewer Fernsehkanal NewsOne setzte der Kanal eine Fernseh-Debatte ab, die gemeinsam mit dem russischen Kanal Rossija 24 unter dem Motto „Wir müssen reden“ ausgestrahlt werden sollte.
Der zweite Vorfall: Nachdem der Kiewer Fernsehkanal „112“ mit einer Granate beschossen worden war, wurde die geplante Ausstrahlung des neuen Films von Oskar-Preisträger Oliver Stone – „The Untold History of Ukraine“ – abgesetzt. In dem Film geht es unter anderem um die 100 Toten, die vermutlich von angeheuerten Scharfschützen auf dem Maidan 2014 erschossen wurden, um die Bedingungen für einen Staatsstreich zu schaffen. In dem Film kommen ausführlich Viktor Mewedtschuk und Wladimir Putin zu Wort.
Frau Stöber von der „Tagesschau“ schrieb zu diesen Gewaltakten gegen die Pressefreiheit: „Seine (Viktor Medwetschuks, U.H.) Aktivitäten sorgen für Protest, und dies nicht nur von Nationalisten, die in Kiew mehrfach demonstrierten.“ Dass die Nationalisten einen Granatwerfer gegen den Sender „112“ einsetzten, verschwieg Frau Stöber.
Die „Tagesschau“-Redakteurin bleibt ihrer Linie treu. Als der italienische Fernsehsender Canale 5 im November 2017 Interviews mit georgischen Scharfschützen sendete, die erklärten, dass sie im Februar 2014 auf dem Maidan im Einsatz waren, erklärte Tagesschau-Redakteurin Silvia Stöber, für die Behauptung eines “angeblichen georgisch-amerikanischen Komplotts” unter Beteiligung von Ausländern, auch eines Amerikaners, “fehlen die Belege”.
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