Kaum gewählt und noch nicht im Amt befriedigt von der Leyen ihre Kalten Krieger. Sie fordert eine harte Haltung gegenüber Russland und behauptet erneut, die Russen würden keine Schwächen verzeihen. Wir haben auf den NachDenkSeiten schon darauf hingewiesen, dass dies sachlich und sprachlich ein Rückfall in die Fünfzigerjahre des letzten Jahrhunderts darstellt. Zur Begründung wird das Übliche erzählt: Die Russen hätten die Krim annektiert und führten Krieg in der Ostukraine. Sie seien schuld an der neuen Konfrontation. Kein Sterbenswörtchen davon, dass Russland sich durch eine Fülle von Provokationen brüskiert fühlen musste. Albrecht Müller.
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Da ist vieles zusammengekommen, was der Westen heute gerne verschweigt:
- Die Ausdehnung der NATO bis an die russische Grenze. Das widersprach dem Geist und den Verabredungen der Wende von 1990.
- Der völkerrechtswidrige und mit Uranmunition geführte Krieg der NATO gegen Jugoslawien.
- Der Versuch, die Ukraine einschließlich der Krim und damit de facto der russischen Marinebasis in Sewastopol in die EU und NATO zu integrieren.
- Der mit 5 Milliarden $ betriebene Regime Change in der Ukraine.
- Der Putsch von 2014 gegen den gewählten Präsidenten der Ukraine.
Dieses und vieles mehr, was vor der “Annexion” der Krim lag, wird nicht berichtet und wird in die Beurteilung nicht einbezogen. Es wird auch nicht ausreichend von der Abstimmung auf der Krim berichtet und auch nicht vom mörderischen Anschlag auf das Gewerkschaftshaus in Odessa. Die Geschichte wird verkürzt erzählt, um die gewünschte Meinungsbildung zu erreichen.
Diese Manipulation ist ausgesprochen wirksam. Das zeigt ein weiterer Artikel der Welt zur Reaktion auf das Interview von der Leyens mit der Welt. Dem aus der Verkürzung der Geschichte abgeleiteten Urteil – die Russen sind aggressiv – folgen im Westen Politikerinnen und Politiker verschiedener Couleur, so zum Beispiel der Sozialdemokrat und Staatsminister im Auswärtigen Amt Michael Roth und der Grüne Manuel Sarrazin, der für die Grünen im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages sitzt, Sarrazin wörtlich: „Die Politik des Kreml ist eine schwerwiegende und nach dem Zweiten Weltkrieg beispiellose Verletzung der europäischen Friedensordnung, der Einhalt geboten werden muss“.
Interessant ist auch die weitgehende Deckungsgleichheit der Argumentation von von der Leyen und Kramp-Karrenbauer. Siehe hier. Sie verbreiten den gleichen Schrott – Verzeihung – einschließlich des Lamentos über den angeblichen Cyber-Krieg.
Die Parallelität und Deckungsgleichheit der beiden weiblichen christdemokratischen Führungspersonen ist auch sichtbar bei den Forderungen nach mehr Geld für die Rüstung und bei der Nähe zu den USA. Es ist zu erwarten, dass beide Frauen den Versuch, Europa zu einer unabhängigen Militärmacht auszubauen, nicht mitmachen. Das könnte man sogar positiv würdigen, wenn es nicht damit verbunden wäre, demütig alles mitzumachen, was die USA direkt oder über die NATO fordern und tun.
Wir müssen nüchtern feststellen, dass sich die USA beim Personaltableau Kramp-Karrenbauer, von der Leyen, Merkel und auch bei anderen Personalbesetzungen bei der Europäischen Union, wie etwa beim Außenbeauftragten, durchgesetzt haben. So läuft die Steuerung der Politik in der Welt – über Steuerung der Sachdebatte und über die Steuerung der Personalauswahl.
Interessant ist auch, dass sich beide CDU-Frontfrauen wie auch die Spitzenperson Angela Merkel von der entspannungspolitischen Linie des Helmut Kohl verabschiedet haben. In der Union haben die kalten Krieger und Atlantiker eindeutig die Macht übernommen.
Die Kürzung einer Geschichte wie im konkreten Fall des Umgangs mit Russland auf die Ereignisse, die einem in den Kram passen, ist eine der am häufigsten eingesetzten Methoden der Manipulation.
Vergesslichkeit und mangelnde historische Kenntnisse sind die Voraussetzung dafür, auf die Verkürzung einer Geschichte hereinzufallen.
Die Verkürzung einer Geschichte wie beispielsweise jener des Verhältnisses zwischen dem Westen und Russland ist auch deshalb möglich, weil viele Menschen nicht mehr präsent haben, was in den letzten Jahrzehnten passiert ist. Das gilt sogar für einen so kurzen Zeitraum wie die Zeit zwischen 1989 und heute, also für nur 30 Jahre. Wenn es um längere Zeiträume geht, dann ist die mangelnde Präsenz sehr verständlich.
Die Vergesslichkeit und die mangelnden Kenntnisse kommen der Absicht zur Verkürzung einer Betrachtung entgegen, die man bei manchen Zeitgenossinnen und -genossen, ohne bösartig zu sein, unterstellen kann.
Die Vergesslichkeit des Publikums und die Manipulationsabsicht der Akteure spielen hier zusammen.
Die Geschichte unseres Landes entspricht beim Thema Krieg und Frieden, Konfrontation und Entspannung, Feindbildaufbau und Versöhnung einem Auf und Ab.
Die erste Phase war geprägt von der Kriegserfahrung und einer eingängigen Formel: Nie wieder Krieg! Auch kein Militär. Wertend wäre anzufügen: ein großer Fortschritt, ein Auf.
Die zweite Phase war gekennzeichnet von der Debatte um die sogenannte Wiederbewaffnung, vom Kalten Krieg, von der Politik der Stärke und dem Konzept der Abschreckung.
Die dritte Phase war geprägt von der Entspannungspolitik, vom Sich-vertragen, von Verträgen, von der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, vom Konzept der Gemeinsamen Sicherheit und gekrönt vom Mauerfall. Das ist jetzt 30 Jahre her und wird im November 2019 gefeiert. In dieser Phase entstand die Hoffnung auf Abrüstung und auch auf das Ende beider Militärblöcke, nicht nur des Warschauer Paktes, auch der NATO – siehe das SPD-Grundsatzprogramm vom 20. Dezember 1989 im Anhang. Für die Rüstungsindustrie waren diese Hoffnungen und Pläne eine Art Super-Gau, der größte anzunehmende Unfall.
Die vierte Phase war dann und ist geprägt von der Ausdehnung der NATO, vom Kosovo-Krieg, von der Konfrontation an einer neuen nach Osten verschobenen Trennlinie Europas. Vom neuen Feindbildaufbau und vom neuen Kalten Krieg. Und von Aufrüstung, wie die Beschlüsse der NATO und die aktuelle Debatte zeigen.
Für alle diese Bewegungen stehen in den etablierten Parteien einige namhafte Personen. Die Welt bewegte sich
- bei der CDU von Kohl zu Merkel, von der Leyen und Kramp-Karrenbauer,
- bei der SPD von Brandt, Bahr und Schmidt zu Steinmeier und Maas,
- bei der FDP von Genscher zu Lindner und Alexander Graf Lambsdorff,
- bei den Grünen von den alten friedensbewegten Kämpfern zu Joschka Fischer, Fücks, Marieluise Beck, Bütikofer usw.
Die Verkürzung der Geschichten und der Geschichte wird von einer beachtlichen Bereitschaft zum Vergessen auch bei jenen begünstigt, die eigentlich dafür geschaffen sind, relevante Erinnerungen an die gesamte Geschichte zu erbringen:
- bei den politischen Parteien,
- bei den Medien,
- bei den Historikern und Politologen.
Sie rufen nicht dazwischen, sie schlagen nicht Alarm. Insgesamt eine “großartige” Welt der Anpassung und der Angepassten.
Anhang: Berliner Grundsatzprogramm der SPD vom 20. Dezember 1989
Titelbild: (Auszug aus dem Berliner Grundsatzprogramm der SPD vom 20. Dezember 1989)