Seit der Affäre um die Rettungsschiffe „Sea Watch 3“ und „Alan Kurdi“ ist die Flüchtlingsdebatte wieder zurück. Und wieder einmal geht es nur um die Symptome. Dabei waren wir doch schon viel weiter. Sogar die Kanzlerin hatte doch schon verkündet, dass nun die Bekämpfung der Fluchtursachen höchste Priorität haben müsse. Das war vor vier Jahren. Seitdem wurde dieser Satz tausende Male wiederholt. Doch passiert ist nichts. Anstatt der Fluchtursachen werden die Flüchtlinge bekämpft. Das politische Versagen in dieser Frage ist genau so erschreckend wie die Vergesslichkeit von Politik und Medien. Von Jens Berger.
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Vor wenigen Wochen veröffentlichte das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR seinen neuen Jahresbericht. Erstmals sind mehr als 70 Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung und Konflikten. Alle zwei Sekunden wird ein Mensch zum Flüchtling. Alleine im Jahr 2018 verließen 2,8 Millionen Menschen ihr Heimatland als Flüchtlinge oder Asylbewerber.
Als das Thema vor vier Jahren die Nachrichten beherrschte, formulierten die NachDenkSeiten die drei wichtigsten Punkte, um die Fluchtursachen nachhaltig zu unterbinden.
- Eine aktive Friedens- und Friedenssicherungspolitik
- Das Verbot von Waffenlieferungen in Krisenregionen
- Der Aufbau einer gerechteren Welthandelsordnung, der Abbau von Exportsubventionen im Norden und das Zugeständnis an den Süden, dass man dort die heimischen Märkte durch Zölle und Handelsbarrieren schützen darf
Lassen Sie uns doch einmal rekapitulieren, was sich auf diesem Gebiet getan hat und ob die europäische Politik ihrer Verantwortung gerecht wurde.
- Eine aktive Friedens- und Friedenssicherungspolitik
Die wichtigste Ursache für Flucht und Vertreibung ist der Krieg. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um „klassische“ Kriege zwischen zwei oder mehreren Staaten, um Bürgerkriege oder sogenannte asymmetrische Konflikte handelt. Die meisten Flüchtlinge, die in der EU Schutz suchen, kommen nach wie vor aus den Ländern Syrien, Afghanistan und Irak – drei Ländern, die dank direkter und indirekter Beteiligung des Westens – und hier natürlich allen voran den USA – im Krieg versanken. Eine Politik, die ernsthaft die Fluchtursachen bekämpfen will, muss daher eine Politik sein, die Kriege verhindert, den Frieden sichert und dabei auch und vor allem die USA als internationalen Kriegstreiber Nummer Eins kritisch ins Visier nimmt. Gab es da in den letzten drei Jahren Fortschritte?
Nein, das genaue Gegenteil ist der Fall. Zynisch könnte man eher sagen, dass Syrien (6,6 Millionen Vertriebene), Afghanistan (2,8 Millionen) und der Irak (3,1 Millionen) bereits weitestgehend entvölkert sind und andere Krisenherde wie Jemen (2,5 Millionen Vertriebene), Kongo (5,1 Millionen), Äthiopien (3,5 Millionen), Süd-Sudan (2,3 Millionen), Sudan (3,0 Millionen), Myanmar (860.000) und Kolumbien (9,0 Millionen) so weit von Europa entfernt sind, dass deren Flüchtlinge und Vertriebene hier nicht als echtes Problem wahrgenommen werden.
Die Zahl der in Europa ankommenden Flüchtlinge ist klar rückläufig. In der ersten Hälfte dieses Jahres erreichten nur noch rund 40.000 Flüchtlinge Europa – davon fast 33.000 auf dem Seeweg über das Mittelmeer, auf dem im gleichen Zeitraum 681 Flüchtlinge ertrunken sind. Derweil sitzen Hunderttausende Flüchtlinge mit dem Ziel Europa in Lagern in den Maghreb-Ländern und der Sahelzone fest, die drauf und dran ist, sich zu einem Pulverfass zu entwickeln. „Die gesamte Region steht vor großen grenzüberschreitenden Herausforderungen, von Klimawandel und Dürre über wachsende Unsicherheit, gewalttätigen Extremismus bis hin zum Schmuggel von Menschen, Waffen und Drogen“, warnte vor wenigen Wochen UN-Generalsekretär António Guterres.
Besonders dramatisch könnte sich ein möglicher Iran-Krieg auf die Flüchtlingsströme nach Europa auswirken. Immerhin hat Iran 81 Millionen Einwohner. Eine Politik, die Fluchtursachen bekämpfen will, müsste vor allem hier ansetzen und die USA und Saudi-Arabien mit allen nur erdenklichen Mitteln von einer weiteren Eskalation abbringen. Doch davon ist nichts zu spüren. Man belässt es bei oberflächlichen diplomatischen Noten und vermeidet ernsthafte Kritik an der Kriegspolitik der USA wie der Teufel das Weihwasser.
Und auch im Krisengebiet Sahelzone spielt die Bundesregierung mit dem Feuer und setzt vor Ort voll und ganz auf Militär, Aufrüstung und „Terrorismusbekämpfung“, anstatt dem militanten Widerstand in diesen Ländern durch eine massive zivile Aufbauarbeit den Nährboden zu entziehen. So besteht die sehr reale Gefahr, dass militärische Konflikte und eine fortgesetzte politische und wirtschaftliche Instabilität Millionen Menschen zur Flucht über die Mittelmeerfluchtroute gen Europa treiben.
- Das Verbot von Waffenlieferungen in Krisenregionen
Wenn Menschen weltweit in Krisengebieten vertrieben werden, dann geschieht dies häufig auch mit deutschen Waffen. Ein Verbot von Waffenlieferungen in Krisenregionen wäre somit ein nötiger Bestandteil einer ernsthaften Bekämpfung der Fluchtursachen. Von einem Verbot von Waffenlieferungen will die Bundesregierung jedoch nichts wissen. Im Gegenteil. Alleine in der ersten Hälfte dieses Jahres lieferte Deutschland Waffen im Wert von mehr als einer Milliarde Euro alleine an die Kriegsparteien des Jemen-Kriegs. Offiziell gibt es zwar Ausfuhrbeschränkungen, die jedoch in den letzten sechs Monaten ganze 122 Mal durch gesonderte Exportgenehmigungen außer Kraft gesetzt wurden.
Es gibt kaum eine Region, in die Deutschland keine Kriegswaffen liefert. Algerien, Ägypten, Kolumbien, Irak, Israel, Jordanien, Oman, Katar, Saudi-Arabien, die Türkei und die Vereinigten Arabischen Emirate gehörten laut SIPRI-Datenbank zu den Empfängerländern. Vorgeschobene Rüstungsexportrichtlinien sind dabei nichts anderes als Papiertiger. Auch künftig werden Menschen mit deutschen Waffen vertrieben werden und dann als Flüchtlinge vor unserer Tür stehen. Die Fluchtursache Waffenlieferungen wurde nicht entschärft.
- Der Aufbau einer gerechteren Welthandelsordnung und der Abbau von Exportsubventionen im Norden und das Zugeständnis an den Süden, dass man dort die heimischen Märkte durch Zölle und Handelsbarrieren schützen darf
Neben Krieg und Gewalt gehören ökonomische Motive zu den wichtigsten Fluchtursachen. Es sind vor allem meist junge und männliche Flüchtlinge aus Schwarzafrika, die in ihrer Heimat keine Chance auf einen halbwegs ordentlichen Job haben oder sich und ihre Familien nicht alleine ernähren können. Diese Migranten treibt es dann oft ins „gelobte Land“ Europa. Wer diese Fluchtursache wirkungsvoll bekämpfen will, muss gegensteuern und den afrikanischen Staaten eine Chance geben, aufzuholen, um den Menschen dort eine realistische Chance auf eine Zukunft zu geben. Wie das gehen könnte, haben wir im August 2015 und im Juli 2018 bereits skizziert. Neu sind diese Probleme also nicht. Und hat sich in den letzten vier Jahren irgendetwas an den ökonomischen Regeln für die ärmsten Länder der Welt verbessert?
Nein, im Gegenteil. Zu den katastrophalen Folgen europäischer und amerikanischer Politik kommen nämlich nun immer stärker die negativen Auswirkungen des chinesischen Expansionsdrangs auf Afrika hinzu. Aber man muss gar nicht mit dem erhobenen Zeigefinger in Richtung China blicken. Auch die EU und allen voran Deutschland haben die letzten vier Jahre komplett verschenkt und die ökonomische Situation für Afrika eher verschlimmert.
Nötig wäre ein zollfreier und privilegierter Zugang zu den europäischen Märkten und die Möglichkeit, die eigenen Märkte zumindest zeitweise vor der übermächtigen Konkurrenz der hochproduktiven Konzerne des globalen Nordens zu schützen. Während sich der erste Punkt allgemein durchgesetzt hat, wird der zweite Punkt in das genaue Gegenteil umgekehrt. So koppelt Deutschland den eigentlich guten Plan, die zahllosen „Wirtschaftspartnerschaftsabkommen“ mit afrikanischen Staaten durch ein Freihandelsabkommen mit der gesamten AKP-Staatengruppe zu ersetzen, das den EU-Markt für sämtliche AKP-Staaten öffnet. Fatalerweise bestehen die deutschen Wirtschaftslobbyisten jedoch darauf, den EU-Markt nur dann zu öffnen, wenn die AKP-Staaten ihre Märkte für die EU ebenfalls öffnen. Dies ist der aktuelle Stand der Debatte. Doch ein solches Abkommen wäre ökonomischer Selbstmord und würde Millionen Wirtschaftsflüchtlinge produzieren, die dann ihre Chancen in Europa suchen müssten.
Vier Jahre sind ergebnislos verstrichen
Was wurde nicht alles geschrieben über einen „Masterplan Migration“ oder gar einen „Marshall-Plan für Afrika“. Geschehen ist in den letzten vier Jahren jedoch nichts. Sämtliche Fluchtursachen bestehen nach wie vor. Die ökonomischen, ethnischen und religiösen Spannungen in den Dauerkrisengebieten haben sogar noch zugenommen und es ist zu erwarten, dass die nächsten Flüchtlingswellen schon bald wieder vor Europas Toren stehen. Eine Dürre, ein Bürgerkrieg, ein weiterer völkerrechtswidriger Angriffskrieg der USA im Nahen oder Mittleren Osten, die Folgen des Klimawandels … und schon könnte sich die Situation von 2015 wiederholen.
Und es sind ja nicht nur die Fluchtursachen, bei denen sich nichts getan hat. Die EU hat auch immer noch keinen akzeptierten Verteilungsplan für die ankommenden Flüchtlinge und die Aufnahme und Erstversorgung wird immer noch alleine den südeuropäischen Grenzstaaten abverlangt. Auch hier sind vier Jahre verschenkt worden, ohne dass man konstruktiv an einer Lösung der Situation gearbeitet hat.
Ein Komplettversagen stellt auch die Friedenssicherung dar, die schlichtweg nicht stattfindet. Die USA führen immer noch weltweit ihre Vernichtungskriege und die Juniorpartner aus Europa machen bei diesen Verbrechen immer noch mit.
Doch anstatt sich endlich einmal ernsthaft mit den Fluchtursachen zu beschäftigen, geht es in der Debatte nach wie vor nur um Symptome wie die Frage, welche Häfen ein privates Rettungsschiff im Mittelmeer anlaufen darf. Dies sind bestenfalls Nebenkriegsschauplätze und Ablenkungsmanöver.
Solange Europa weiterhin weltweit Kriege führt oder seine „Bündnispartner“ aus den USA Kriege führen lässt, werden stetig neue Flüchtlinge produziert. Solange Europa den globalen Süden weiterhin über unfaire Handelsabkommen ausbeutet und nicht auf eine gerechtere Welthandelsordnung drängt, werden stetig neue Flüchtlinge produziert. Solange Europa nichts oder zu wenig gegen den Klimawandel tut, werden stetig neue Flüchtlinge produziert. Natürlich ist es aus humanitären Gründen notwendig, auch die Fragen der Seenotrettung im Mittelmeer zu diskutieren. Solange man aber eine Politik verfolgt, die stetig Flüchtlinge produziert, ist eine bloße Fokussierung auf die Symptome nur noch zynisch zu nennen. Doch dieser Zynismus ist traurige Realität. Und wenn sich bei der Bekämpfung der Fluchtursachen in den letzten vier Jahren nichts zum Besseren gewendet hat, wird sich auch künftig nichts tun.
Titelbild: Riccardo Mayer/shutterstock.com