Für die meisten deutschen Leitartikler ist klar, dass die Nominierung Ursula von der Leyens für das höchste Amt der EU ein „veritabler“, „riesiger“ oder gar „triumphaler“ Sieg für Angela Merkel sei. Doch das ist falsch. Nicht Merkel, sondern Macron ist der große Sieger. Sollte von der Leyen im Europaparlament durchfallen, stünde Merkel sogar mit komplett leeren Taschen da, während Macron seine wichtigsten Ziele durchgeboxt hat. Von Jens Berger.
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Bei der Diskussion über das unwürdige Geschacher um den Posten des Kommissionspräsidenten wird oft vergessen, dass diese Personalie nur ein Punkt in einem umfassenden Personalpaket ist, auf das sich die Staats- und Regierungschefs am Mittwoch verständigt haben. Mindestens genauso wichtig ist jedoch die Frage, wer dem im Herbst scheidenden EZB-Präsidenten Mario Draghi im Amt folgt. Auch wenn die EZB auf dem Papier „unabhängig“ ist, hat der oberste europäische Notenbankpräsident doch eine weitreichende Richtlinienkompetenz und durch die Ausweitung der Befugnisse der EZB auf den Ankauf von Staats- und Unternehmensanleihen in der Ära Draghi auch ganz reale Macht. Die EZB entscheidet durch den Entschluss, ob sie bestimmte Staatsanleihen stützt oder den freien Märkten „zum Fraß vorwirft“, die Zukunft ganzer Staaten. Und das ohne parlamentarische Kontrolle. Wichtig auch: Die EZB stellt für die EU-Kommission das mächtigste Disziplinierungsinstrument dar. Alleine die Drohung, bestimmte Staatsanleihen nicht mehr zu stützen und damit die Refinanzierung der betreffenden Staaten im schlimmsten Falle unbezahlbar zu machen, ist ein sehr mächtiges Schwert; ein Schwert jedoch, das seinem „Herren“ auch gehorchen muss. Und eben hier wird es spannend.
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Ginge es nach Angela Merkel und den Anhängern des Monetarismus deutscher Schule (Austeritätspolitik, schwarze Null, Preisstabilität als einziges Ziel), wäre der heutige Bundesbankchef Jens Weidmann die ideale Besetzung für den EZB-Posten. Merkels erklärtes Ziel war daher auch, Jens Weidmann zum kommenden EZB-Präsidenten zu machen. Bei den unter der deutschen Geldpolitik leidenden „Südländern“ Frankreich, Italien, Spanien, Portugal und Griechenland gilt Weidmann jedoch als Inkarnation des arroganten deutschen „Übermenschen“, der mit seiner Ideologie andere Völker ins Unheil treibt. Ihr Ziel war es, Weidmann mit allen Mitteln zu verhindern. Gemäß der Kräfteverteilung und des Proporzes innerhalb der EU galt es als ausgemacht, dass sowohl die „deutsche“ als auch die „französische/südländische“ Seite jeweils eines dieser beiden Schlüsselressorts bekommt. Würde Merkel sich mit Weidmann durchsetzen, hätte Macron sozusagen „Zugriff“ auf das Amt des Kommissionspräsidenten. Dies ist übrigens der eigentliche Grund, warum Macron das „Spitzenkandidaten-Prinzip“ von Anfang an abgelehnt hat.
Merkel konnte sich jedoch bei der Frage, wer der nächste EZB-Präsident wird, nicht durchsetzen. Stattdessen einigte man sich auf die Französin Christine Lagarde, die zwar ganz sicher keine progressive Traumbesetzung für dieses Amt ist, aber im Vergleich zum „Erzfalken“ Weidmann die deutlich bessere Wahl darstellt. Lagarde wird sicherlich die undogmatische Politik Mario Draghis fortsetzen. Damit können die „Südländer“ rund um Frankreich sehr gut leben. 1:0 für Frankreich. Nun hätte Angela Merkel eigentlich den „Zugriff“ auf das Amt des Kommissionspräsidenten gehabt; allein, sie hatte keinen passenden Kandidaten. So war es am Polen Tusk und am Franzosen Macron, eine deutsche Kandidatin für das Spitzenamt auszuwählen, mit der vor allem sie beide gut leben können.
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Ursula von der Leyen ist eine militärpolitische Hardlinerin, die die antirussischen Reflexe der Balten und Polen perfekt bedient. Für die rechtskonservative und proamerikanische polnische Regierung stellt sie somit eine echte Wunschkandidatin dar. Und auch Macron kann mit von der Leyen sehr gut leben; weniger weil sie so toll französisch spricht, sondern weil sie sein Konzept einer Militarisierung der EU unter deutsch-französischer Führung voll und ganz unterstützt. Macron will eine „wahre europäische Armee“, von der Leyen eine „Armee der Europäer“. Da haben sich zwei gesucht und gefunden. Und auch auf anderen politischen Feldern haben die beiden Anhänger marktliberaler Politik viele Gemeinsamkeiten. Von der Leyen hat zwar einen deutschen Pass, ist aber dennoch eine Kandidatin vom Wunschzettel Marcons. Auf den Feldern, auf denen es einen klaren Dissens zwischen Macron und von der Leyen gibt – also vor allem bei der Finanz- und Wirtschaftspolitik – wären einer Kommissionspräsidentin von der Leyen ohnehin die Hände gebunden, da sie ohne das „Schwert“ der EZB nur eingeschränkte Machtbefugnisse hat.
Die Doppelspitze Lagarde/von der Leyen ist also Macrons Traumergebnis. Dass er sie auch durchbekommen hat, ist ein diplomatisches und taktisches Meisterwerk. Wäre die Personalie von der Leyen und die dahinterstehende Politik nicht derart desaströs für Europa, könnte man glatt den Hut vor ihm ziehen. Ganz anders sieht es für Merkel aus. Schon die Verhinderung von Weidmann ist für sie eine deftige Niederlage. Sicherlich kann sie mit der Personalie von der Leyen auch ganz gut leben, aber ein „Gewinn“ ist dies ganz sicher nicht. Hinzu kommt, dass von der Leyen ja noch vom Europaparlament bestätigt werden muss. Fällt sie durch, gehen die Staats- und Regierungschefs zurück auf Los … der Rest des Personalpakets bleibt jedoch erhalten. Dann hieße es womöglich gar 2:0 für Macron.
Titelbild: Alexandros Michailidis/shutterstock.com