Massenphänomen Papst
Flucht aus einer realen inhumanen Welt der Zwänge in religiöse Symbolik und moralische Geborgenheit.
Wir von den NachDenkSeiten fühlen uns nicht gerade dazu berufen, das Ableben und die Neuwahl eines Papstes zu kommentieren. Als Nichtkatholik will ich mich nicht in Glaubensfragen oder innerkirchliche Angelegenheiten der katholischen Kirche einmischen, ich habe mit der Kritik an der weltlichen Glaubenslehre des Neoliberalismus ein ausreichendes Betätigungsfeld. Als überzeugter Anhänger einer aufklärerischen Vernunft möchte ich mich auch zurückhalten, wenn es um Metaphysisches geht. Was mir allerdings seit dem öffentlich zelebrierten Sterben von Karol Woytila, mit den Trauerzeremonien und der Wahl eines neuen Papstes auffiel oder mich sogar beunruhigt, ist die Suggestion, ja vielfach geradezu die Hysterie, die diese Ereignisse offenbar weltweit und – wo ich das etwa im und um den Kölner Dom selbst beobachten konnten – sogar im als eher emotionslos geltenden Deutschland bei Millionen von Menschen und gerade auch bei Jüngeren auslösten. Wie gesagt, ich will niemand persönlich in seinen religiösen Gefühlen zu nahe treten. Nachdenklich hat mich aber das mir zu meiner Lebzeit so noch nicht begegnete Massenphänomen schon gemacht. Sicherlich in erheblichem Maße ist die außergewöhnliche öffentliche und individuelle Aufmerksamkeit auch der historisch einmaligen Medieninszenierung geschuldet.
Doch es war eben nicht nur ein Medien-„Event“. Die Medien wirken zwar als Selbstverstärker, sie können aber eine Berichterstattungswelle nicht so lange und so aufwühlend durchhalten, wenn sie nicht – zumindest auch – auf eine Disposition des Publikums und auf seine Bereitschaft stoßen, den medialen Inszenierungen sein Interesse zu schenken. Das Aufschaukeln von Medienaufbereitung und die Gefolgschaft des Publikums ist immer auch gegenseitig.
Die Auseinandersetzung mit dem Tod eines Menschen kann die „Globalisierung des Gefühls“ (so Norbert Bolz in der taz) nicht allein erklären. Viele andere berühmte, ja sogar beliebtere Menschen sind gestorben, und die Medien berichteten darüber ohne eine derartige öffentliche Anteilnahme auszulösen.
Dass nicht nur der Tod von Johannes Paul II., sondern auch die – wenig überraschende – Wahl von Kardinal Ratzinger als seinem Nachfolger Seiten über Seiten in den Zeitungen füllt und zahllose Menschen und keineswegs nur Katholiken auf Plätze und in Kirchen treibt, muss meines Erachtens nach auch eine zeitgeistige Erklärung haben.
Bei meinem persönlichen Erklärungsversuch, will ich mich gar nicht so sehr mit der kirchlichen und weltlichen Interpretation der Rolle von Karol Woytila beschäftigen und dass er in vielerlei Hinsicht ein besonderer Papst war, soll unbestritten bleiben – aber das war Johannes XXIII. auch, er war in gewissem Sinne sogar eher auf der Höhe der Zeit.
Kaum jemand bestreitet, dass Johannes Paul II. jedenfalls in Glaubens- und Kirchenfragen ein konservativer Papst war und niemand kann bestreiten, dass Kardinal Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation gerade zu ein Gralshüter einer konservativen Glaubenslehre war, der – jedenfalls Jugendlichen der westlichen Zivilisation etwa mit seinen Sexuallehren eher auf ihrem Gewissen lag. Obwohl also viele Menschen und darunter viele Katholiken mit der katholischen Kirche und ihren Lehren Schwierigkeiten hatten, haben sie in erklärungsbedürftiger Weise Anteil an den zurückliegenden Ereignissen genommen.
Mir scheint das nicht rational, sondern allenfalls spirituell verstehbar. Mein Interpretationszugang ergibt sich aus der Frage, wie kommt es, dass in einer Zeit wo die Religionsgemeinschaften massenhaft Mitglieder verlieren und wo die Kirchen immer leerer werden, gerade exponierte Vertreter von strengen Glaubenslehren, einer weltabgewandten Frömmigkeit und von (als überholt geltenden) moralischen Werte so viel Zulauf erfahren? Ich will das weder vergleichen noch zu weit treiben, aber auch George W. Bush hat mit seinen „moral values“, obwohl eine Mehrheit seine praktische Politik ablehnte, die Mehrheit hinter sich gebracht. Mir scheint jedenfalls, dass es ein ausgeprägtes Bedürfnis vieler Menschen nach moralischer Orientierung, ja nach einer Heilslehre gibt, mag die Ausrichtung auch irrational sein, ja sogar persönlich noch nicht einmal für verbindlich gehalten werden.
Ich sehe darin eine Art Weltflucht, eine Flucht aus einer orientierungslos gewordenen Welt der Zwänge in eine normative Geborgenheit, in eine moralische Identifikation. Eine Geborgenheit vor wirklichen oder eingeredeten Zwängen der realen Welt, in der man sich nicht mehr emotional aufgehoben fühlt und an der man mit den Kräften der menschlichen Vernunft nicht mehr mitgestalten oder sich einzurichten zu können glaubt. Ist es nicht ein ganz allgemeines Phänomen, dass Zukunftsängste Einfallstore für Metaphysisches, für Irrationales oder – religiös oder politisch ausgedrückt – für Glaubenslehren sind?
Und leben wir nicht in einer Welt, in der den Menschen täglich eingeredet wird, den Zwängen der Globalisierung ausgeliefert zu sein. In der ein angeblich gesetzmäßiger Ökonomismus nicht nur die Sphäre der Wirtschaft, sondern auch des Sozialen und Kulturellen durchdringt. In der die Individuen zunehmend nur noch als verdinglichte Kostenfaktoren gelten, in der alle Regeln des Zusammenlebens dereguliert werden sollen. Die Interpreten des Zeitgeistes verlangen von jedem, dass er leistungsstark und belastbar, flexibel und vielseitig einsetzbar, anschluss- und anpassungsfähig, team- und kooperationsbegabt, selbstverantwortlich und unternehmerisch, mobil und mehrsprachig, optimistisch und hoch motiviert, kommunikativ und sozial kompetent sein muss und darüber hinaus ein Leben lang lernbereit. Kurz, verlangt wird der „flexible Mensch“ – wie Richard Sennet das nannte. Wer diese Anpassungsleistung nicht schafft oder sich verweigert, wird an den Rand gedrängt, abgehängt oder allein gelassen.
Auffällig ist, dass die meisten, der abverlangten Eigenschaften, in einem passiven Bezug stehen. Wer in Zukunft Gewinner sein will, soll flexibel sein – flexibel gegenüber welchen Zwängen? Anschluss- und anpassungsfähig, an was? Vielseitig einsetzbar, für wen? Kooperationsfähig, mit wem? Mobil, wofür? Es ist geradezu ein Leben im Passiv, das uns da als Zukunftsentwurf an die Wand gemalt wird.
Altbundespräsident Rau kritisierte solche Gesellschaftsbilder zu Recht: „Der Einzelne würde zu einem, der sich anpasst und der sich möglichst gut einpasst. Dann ist kein Platz mehr für selbständiges und freies Denken, für aktives Gestalten, Verantwortung für andere zu übernehmen oder für den Dienst an der Gesellschaft scheint in solchen Zukunftsentwürfen nicht mehr viel Platz zu sein.“ Die Menschen scheinen aber ohne Hoffnung auf Befreiung von inhumanen, „objektiven“ Zwängen nicht leben zu können oder zu wollen. Und wenn ihre Hoffnungen in der realen Welt permanent enttäuscht werden, schöpfen sie Trost oder Zuversicht aus der Sehnsucht nach einer moralischen Welt, nach einer Welt des Spirituellen oder Irrationalen. Ein Objekt dieser emotionalen Besetzung, scheinen mir derzeit weniger die Kirche als Institution, als vielmehr ihre Symbolfiguren der Religiosität, die Päpste zu sein – eben „Wir sind Papst“ (BILD). Das liegt natürlich auch daran, dass es derzeit kaum „diesseitige“ Alternativangebote gibt, auf die sich die Hoffnungen Vieler projizieren könnten.
Wenn sich das Massenphänomen um Tod und Neueinsetzung des Papstes, jedenfalls auch damit erklären ließe, steht es mir nicht zu, das Verhalten dieser Menschen in ihrer Papstbegeisterung zu kritisieren, aber es ängstigt mich.
Was wäre, wenn plötzlich andere Projektionsflächen für solche Ohnmachtgefühle auftauchten, Projektionsflächen, die nicht – wie das die katholische Kirche bei aller religiöser Rückwärtsgewandtheit immer noch tut – die individuelle Moralität, sondern einen kollektiven Wahn ansprächen und daraus eine politisches Massenhysterie erwüchse und – darauf gestützt – politische Macht entstünde?