Der SPIEGEL und seine „Billionen-Bombe“

Der SPIEGEL und seine „Billionen-Bombe“

Der SPIEGEL und seine „Billionen-Bombe“

Jens Berger
Ein Artikel von: Jens Berger

Glaubt man der aktuellen Ausgabe des SPIEGEL (hier die kostenfreie Kurzversion), stellen die Kredite, die China an Entwicklungsländer vergeben hat, eine „Billionen-Bombe“ dar. Von „Schuldknechtschaft“ und einer Gefahr für das Finanzsystem ist da die Rede. Es geht angeblich um sechs Billionen Dollar. Doch diese Berechnung ist hoch manipulativ und grenzt schon fast an „Fake News“. Insgesamt taugt der Artikel vor allem als Fallbeispiel, wie sehr „doppelte Standards“ bereits das Denken deutscher Journalisten vernebelt haben. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Die Sechs-Billionen-Dollar-Manipulation

Auf sechs Billionen US-Dollar beläuft sich inzwischen das Auslandsvermögen Chinas. Aber wohin das Geld zu welchen Konditionen geflossen ist und welche Risiken dadurch für die Empfängerländer entstehen, weiß außerhalb des Pekinger Regierungsviertels so gut wie niemand.
SPIEGEL 27/2019

Wenn „so gut wie niemand“ etwas über die sechs Billionen Dollar wüsste, die das Ausland China schuldet, wären diese Forderungen wohl das wertvollste Mysterium seit dem Verschwinden des Schatzes der Nibelungen. Doch es besteht zum Glück kein Grund zur Panik. Den größten Posten dieser Forderungen stellen Staatsanleihen der USA dar. Zur Zeit beträgt dieser Posten rund 1.400 Mrd. US$. An zweiter Stelle kommen Staatsanleihen der Eurozone, die rund 850 Mrd. US$ ausmachen – darunter nimmt Deutschland übrigens mit 370 Mrd. US$ den Spitzenplatz ein. Hinzu kommen japanische Staatsanleihen (210 Mrd. US$), britische Staatsanleihen (190 Mrd. US$) und Anleihen zahlreicher kleinerer Länder. Insgesamt summieren sich die von der chinesischen Zentralbank gehaltenen Staatsanleihen auf rund drei Billionen US$ und es ist – anders als der SPIEGEL unterstellt – genau bekannt, zu welchen Konditionen diese Schuldentitel ausgegeben wurden. Interessant ist, dass im SPIEGEL-Artikel an keiner Stelle überhaupt die Rede davon ist, dass der Löwenanteil der chinesischen Auslandsforderungen an die großen Wirtschaftsräume USA, Eurozone und Japan gerichtet ist und es sich dabei zu einem großen Teil um simple Staatsanleihen handelt.

Hinzu kommt ein weiterer Punkt, der dazu führt, dass die chinesischen Zahlen imposanter wirken, als sie eigentlich sind. Und hier kommen die Forscher des IfW Kiel, der LMU München und die berühmt-berüchtigte Harvard-Ökonomin Carmen Reinhart ins Spiel, die für die „wissenschaftliche Arbeit“ verantwortlich zeichnen, auf die der SPIEGEL sich bezieht. China ist bekanntermaßen ein staatskapitalistisches System, in dem die Unternehmen der Schlüsselsektoren – und hier vor allem die großen Banken – in Staatsbesitz sind und daher statistisch zum Staatssektor gezählt werden. Wenn die Deutsche Bank, die HSBC oder die Citibank Auslandsforderungen haben, so zählen diese Forderungen statistisch zu den Forderungen – je nach Spezifikation der Studie – des Unternehmens- oder Finanzsektors. Die Forderungen der großen chinesischen Banken werden jedoch statistisch zum Staatssektor addiert.

Würde man einmal die volkswirtschaftlichen Forderungen vergleichen, käme man auf ein erstaunliches Ergebnis. Deutschland weist nämlich Brutto-Auslandsforderungen in Höhe von 8,4 Billionen Euro aus und liegt damit sogar noch vor dem viel größeren China an Platz Eins. An dieser Stelle sei jedoch angemerkt, dass die Zahlen von Reinhart und Co., die mit viel Mystik um angebliche „versteckte Schulden“ (hidden debts) ergänzt wurden, sogar viel zu niedrig gegriffen sind. Nach chinesischen Quellen betragen die Brutto-Auslandsforderungen sogar 7,32 Billionen Dollar. Bei all diesen Zahlen handelt es sich wohlgemerkt um die Brutto-Positionen. Bei den interessanteren Netto-Positionen führt Japan mit einem Forderungssaldo i.H.v. 3,2 Billionen Dollar vor Deutschland mit 2,35 Billionen Dollar und schließlich China mit 2,13 Billionen Dollar. Dass dies genau die Staaten sind, die stetig die größten Exportüberschüsse vorweisen, ist natürlich kein Zufall. Aber haben Sie schon mal gelesen, dass Japan oder Deutschland die Welt in eine „Schuldknechtschaft“ treiben oder „finanziell in Geiselhaft nehmen“? Natürlich nicht. Deutsche Bilanzüberschüsse sind gut und unsere Forderungen gegenüber dem Ausland sind offenbar nach SPIEGEL-Argumentation der „gerechte Lohn für unseren Fleiß“. Wenn China Forderungen gegenüber dem Ausland aufbaut, so ist dies eine Gefahr für die Stabilität der Weltwirtschaft und es droht eine neue Schuldenkrise. Das sind doppelte Standards, wie man sie sich nicht „besser“ ausdenken kann.

Wie kommt der SPIEGEL überhaupt auf diese Argumentation? Die gesamte SPIEGEL-Story dreht sich interessanterweise gar nicht um die als „Billionen-Bombe“ titulierten Auslandsforderungen Chinas, sondern um die Auslandskredite, die von den staatlichen chinesischen Außenhandels- bzw. Förderbanken China Development Bank, Exim Bank of China und der Asiatischen Infrastrukturinvestmentbank (AAIB) vergeben wurden. In Summe handelt es sich hierbei über alle Sektoren verteilt um Kredite in Höhe von 710 Milliarden Dollar – also keine „Billionen-Bombe“. In der zur Studie gehörenden Grafik markiert diese Position den kleinen roten Bereich.

Eine Erklärung für diese Diskrepanz könnte sein, dass Studienautorin Carmen Reinhart wieder einmal zu eifrig mit ihren Excel-Tabellen gespielt hat – war sie es doch, die zusammen mit ihrem Kollegen Kenneth Rogoff schon für die komplett unsinnige und dann auch noch fehlerhafte Berechnung der „zulässigen Staatsschuldenquote“ verantwortlich war. Aber worum geht es bei der Aufregung eigentlich zwischen den Zeilen?

Auf der Seidenstraße

Das Gros dieser Auslandskredite wurde im Rahmen des Projektes „One Belt, One Road“ vergeben – also der vielzitierten „Neuen Seidenstraße“, einem chinesischen Infrastruktur- und Freihandelsprogramm, in dessen Rahmen vor allem afrikanische und zentralasiatische Staaten von China mit vergleichsweise günstigen Krediten für Infrastrukturinvestitionen versorgt werden.

Aus purem Altruismus verleiht China natürlich kein Geld. Neben der Abhängigkeit vom Gläubiger ist hier vor allem der Marktzugang für chinesische Unternehmen als Problem zu nennen. Chinas Exportwirtschaft arbeitet bekanntermaßen hoch effizient und es steht zu befürchten, dass vor allem die afrikanischen Staaten durch einen freien Marktzugang für chinesische Produkte massive Wettbewerbsprobleme bekommen dürften.

Aber darin unterscheidet sich die „Neue Seidenstraße“ nicht vom westlichen Modell, bei dem über IWF und Weltbank Kredite vergeben werden, die ihrerseits an die Forderung der Öffnung der lokalen Märkte für westliche Unternehmen gekoppelt sind.

China und der Westen – wenn „gut“ und „böse“ verschwimmen

Es ist jedoch beileibe auch nicht so, dass sich China nun bei seinen Auslandskrediten löblich von IWF und Weltbank unterscheiden würde. Die Reihe der Negativbeispiele ist vor allem in Afrika lang. Egal ob es um Überfischung, Landgrabbing oder den Ausverkauf der Infrastruktur geht – China muss sich heute keinesfalls mehr hinter den „Economic Hitmen“ des Westens verstecken, sondern scheint dessen „Erfolgsmethode“ sogar zu kopieren.

Die Chinesen sind keine Engel. Wenn der SPIEGEL jedoch China als einzigen Buhmann ausmacht, ist dies schon sehr kurzsichtig. Dabei mag ein Blick auf den afrikanischen Staat Sambia helfen, der immer wieder als Beispiel für Chinas angebliche „Schuldknechtschaft“ genannt wird. Natürlich ist Sambia überschuldet und wird aus eigener Kraft seine Auslandsschulden wohl auch mittel- bis langfristig nicht bedienen können. Doch statt eines Schuldenerlasses haben die „Altgläubiger“ – allen voran der IWF – dem afrikanischen Staat eine neoliberale Politik aufgezwungen, durch die die Verschuldung nur noch weiter angestiegen ist. Die „Schuldknechtschaft“ ist also nicht neu. Es ist vielmehr so, dass Sambia von der westlichen in die chinesische Schuldknechtschaft gewechselt ist und China sich das letzte Tafelsilber als Sicherheit für die „Restrukturierung“ der Schulden überschreiben lässt. Das geht dem Westen natürlich zu weit und mit dem damit verbundenen Machtverlust mag man sich auch nicht abfinden. Ist es da ein Wunder, dass China plötzlich in den Medien als neuer Bösewicht auftaucht, der Afrika in die Schuldknechtschaft treiben will?

Ginge es denn tatsächlich um Afrika oder die armen asiatischen Entwicklungsländer, könnte man an dieser Stelle ja sogar noch ein Auge zudrücken. Aber das ist ja noch nicht einmal der Fall. Ländern wie Sambia wird ja kein Alternativangebot gemacht. Was diese Länder bräuchten, wären Infrastrukturprojekte und ein gleichzeitiger Schuldenerlass. Doch vom Westen bekommen sie weder das Eine, noch das Andere. China bietet eine Umschuldung und ist dafür bereit, Kredite ohne nennenswerte Auflagen zu vergeben. Am Ende steckt der Schuldner natürlich in einer Art Knechtschaft. Zynisch könnte man sagen: Beim Modell IWF ist der Staat am Ende pleite und hat gar nichts. Beim Modell China ist der Staat auch pleite, hat aber eine bessere Infrastruktur, die dann jedoch dem chinesischen Staat gehört.

An der gesamten Misere trägt der Westen jedoch mindestens eine genau so große Schuld wie China. Dies alles gäbe reichlich Stoff für eine lange, ausführliche und nach allen Seiten kritische SPIEGEL-Titelgeschichte. Doch die Zeiten, in denen der SPIEGEL aufklärenden Journalismus betrieb, sind offensichtlich schon lange vorbei. Anstatt aufzuklären und komplexe Sachverhalte kritisch zu hinterfragen, wird manipuliert, was das Zeug hält, und dann in der typischen Selbstgerechtigkeit des Wertewestens gebadet.

Titelbild: Oleg Elkov/shutterstock.com