Warum man Phrasen hinterfragen sollte – zum Beispiel „Haltung zeigen“
Phrasen wie „Haltung zeigen“ oder „Wir schaffen das“ kann man in der Politik jeden Tag hören. Der Journalist und Cicero-Redakteur Alexander Kissler meint: Solche Phrasen täuschen etwas vor, was nicht da ist: einen klugen Gedanken, eine tiefe Einsicht, eine hohe Moral. Deshalb hat er sich etliche Phrasen aus dem politischen Leben vorgenommen und ein ganzes Buch dazu geschrieben: „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“. Unser Autor Udo Brandes hat es für die NachDenkSeiten gelesen.
„Lispelnde, stotternde, zuckende Menschenkarikatur“
Was hinter den Phrasen so steckt
Eine Rezension von Udo Brandes
Wenn es eine politische Phrase gibt, die mir zutiefst zuwider ist, dann ist es die Phrase, man müsse jetzt „Haltung zeigen“. Eine Phrase, über die die ARD-Journalistin Anja Reschke (Leiterin Innenpolitik beim NDR, bekannt u. a. aus „Panorama“) gleich ein ganzes Buch geschrieben hat (Titel: „Haltung zeigen“). Und das die eigene Gesinnung zur überlegenen Moral macht. Deshalb fand ich die Idee von Alexander Kissler wunderbar, diese ganzen Politikphrasen einmal zu durchleuchten und zu analysieren. Und war neugierig auf sein Buch.
Kissler zitiert in der Einleitung zu seinem Buch den Ex-Chefredakteur des Handelsblattes und Herausgeber des „Morning-Briefings“, Gabor Steingart. Dieser liebt eine eindeutige, klare und sehr bildhafte Sprache, weshalb er des Öfteren schon angeeckt ist. Unter anderem bei Annegret Kramp-Karrenbauer, deren Schwächen er gnadenlos seziert. Steingart habe mal Folgendes geschrieben (eine präzise Quellenangabe fehlt):
„Andrea Nahles sagt ‚Erneuerung’ und meint doch nur wieder sich selbst. Horst Seehofer spricht von ‚gründlicher Analyse’ und übersetzt das mit ‚jetzt nicht’. Alle Wahlverlierer verlangen nach ‚Klarheit und Wahrheit’ und meinen damit die Vertuschung derselben. Wer ’Rücktritt’ sagt, hat ausschließlich den des Gegners im Sinn. Jeder erklärt jeden zum ‚Populisten’ und will damit doch nur den Andersdenkenden diffamieren“ (S. 9).
Ich denke, dieses Zitat bringt gut auf den Punkt, was das Problem mit politischen Phrasen ist. Schauen wir also mal, was Kissler zu meiner „Lieblingsphrase“ „Haltung zeigen“ zu sagen hat. Zunächst beschreibt er, dass die Phrase „Haltung zeigen“ schon einmal in der deutschen Geschichte auftauchte. Nämlich in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft. Er zitiert aus der Schrift eines Pfarrers aus Aachen (Dr. Friedrich Grünagel), die den Titel „Haltung statt Hetze“ trug. Der Autor Grünagel plädierte darin für eine protestantische Reichskirche und kritisierte die „Hetze“ der Bekennenden Kirche gegen die „Deutschen Christen“. Wer „die neue Staatsführung wie den Satan hasse“, so heißt es darin, versündige sich am Protestantismus. Darum müsse gelten: „Haltung statt fanatische Hetze!“ Kissler kommentiert dieses Beispiel wie folgt:
„Keine Frage: Hier wurde die Haltung der neuen Herren gelobpreist und Kritik an diesen als Hetze diffamiert. (….) Auch in diese Richtung (für das Naziregime und gegen die Bekennende Kirche; UB) ließ sich das heute so beliebte Begriffspaar von der Haltung und ihrem Gegenteil verwenden. Der moralische Druck, den es aufbaut, ist hinreichend groß, um Einwände verschiedenster Art zum Verstummen zu bringen. Natürlich lässt sich dieser damalige Gebrauch nicht jenen vorwerfen, die heute in gegenteiliger Absicht auf die begriffliche Alternative zurückgreifen, um gegen Rassismus und Chauvinismus öffentlich aufzubegehren. Die theoretisch unbegrenzte Einsetzbarkeit sollte indes zur Vorsicht mahnen bei allzu großem Triumphgefühl nach allzu leicht errungenem Einverständnis“ (S. 174).
Ich denke, Kissler hat Recht, was klar wird, wenn man die Formel „Haltung zeigen“ mal etwas anders ausdrückt: Nämlich mit dem Wort „Gesinnung“. Das ist meines Erachtens der Punkt: Es geht um „Gesinnung zeigen“. Also nicht darum, zu denken und zu begründen und inhaltlich zu argumentieren, sondern zu glauben und auszuschließen. Auszuschließen aus einer Gesinnungsgemeinschaft. Und die eigene Gesinnung als moralisch höherstehende aufzuwerten.
Hinter der angeblich so demokratisch-menschenfreundlichen Einstellung der Haltungsfreunde steckt im Übrigen nicht selten ein gerütteltes Maß genau der Mentalität, die in diesem Milieu so gerne angeklagt wird. Etwa wenn die Journalistin Mely Kiyak, die wie Anja Reschke ebenfalls ein Buch über das „Haltung zeigen“ geschrieben hat („Haltung. Ein Essay gegen das Lautsein“), Thilo Sarrazin eine „lispelnde, stotternde, zuckende Menschenkarikatur“ nennt. Kann man noch menschenverachtender über andere Menschen schreiben? Dieses Zitat zeugt von einer unglaublichen Scheinheiligkeit in dem Milieu, das sich selbst gern als linksliberal bezeichnet – aber de facto weder links noch liberal ist. Denn einem wirklich linksliberal eingestellten Menschen wäre so eine menschenverachtende Äußerung niemals über die Lippen gekommen. Kisslers Kritik kann ich deshalb voll zustimmen. Er schreibt:
„Die Haltungsforderung ist die Eintrittskarte in die jeweilige Haltungsgruppe, das VIP-Abzeichen am Revers derer, die dazugehören. Der Haltungsmensch ist der gute Mensch mit der richtigen Ansicht. Weltanschauliche Differenz wird zur Moralstraftat. Haltung freilich verfehlt ihr Maß, fungiert sie nur als Meinungsabwehr und Begriffszauber besserverdienender Gutbürger. Haltung ist auch immer der Einsatz, den es kostet, am richtig Erkannten selbst dann festzuhalten, wenn damit keine Ansehens- und Machtgewinne verbunden sind. (…) Haltung hat die Frau, die am Arbeitsplatz eine Kollegin verteidigt, obwohl sie nicht wissen kann, ob der Chef ihr Engagement billigt; hat der Mann, der im Kreis der Kumpels einem Freund beispringt, der allen auf die Nerven geht, aber einen klugen Gedanken geäußert hat. (…) Sie alle haben nie die eigene Meinung als Haltung verkauft. Und niemanden als sich selbst auf diese ihre Meinung verpflichtet. Haltung, die nichts kostet, kann man sich schenken“ (S. 177-178).
Mir ist dazu noch ein Beispiel für die billige Form des „Haltung-zeigens“ eingefallen: Der Gratismut des Marius Müller-Westernhagen. Er gab 2018 seine Echopreise zurück, weil damit die Rapper Kollegah und Farid Bang ausgezeichnet worden waren. Was einen Sturm der Entrüstung auslöste, weil ihre Texte als antisemitisch kritisiert wurden. Viele Künstler gaben deshalb ihre Echopreise aus den Jahren zuvor zurück. Und irgendwann tat dies dann auch öffentlichkeitswirksam Marius Müller-Westernhagen. Ich konnte darin allerdings keine besonders ehrbare Haltung erkennen. Denn ich finde: Wer genau dann, wenn es opportun ist, „Haltung zeigt“ und dies in der Öffentlichkeit zelebriert, dessen Haltung verdient eher die Bezeichnung „opportunistisch“. Westernhagen hätte ja auch in aller Stille seine Preise zurückgeben können. Aber es geht beim „Haltung zeigen“ eben darum, Ansehensprofite zu kassieren.
„Wir schaffen das“ – Merkels Rhetorik der Schicksalhaftigkeit und Machtlosigkeit
Auch Merkels berühmte Phrase „Wir schaffen das“ wird von Kissler aufs Korn genommen. Zu Recht weist er darauf hin, dass Merkel ihre Verantwortlichkeit für die Migrationskrise rhetorisch verschleiert, indem sie immer wieder von einer „Situation“ spricht – so als ob es keine handelnden Akteure gäbe, die etwas verursachen. Hier ein Beispiel aus der Talkshow „Anne Will“ vom 7. Oktober 2015, in der Merkel ihren berühmten Satz „Wir schaffen das“ wiederholte und rechtfertigte:
„Wir schaffen das. Da bin ich ganz fest von überzeugt. (….) Aber richtig ist, dass wir eine Situation haben, keine Politik, sondern eine Situation. Und die muss politisch bewältigt werden, wo unsere Außengrenzen nicht richtig geschützt sind zwischen Griechenland und der Türkei und zwischen Italien und Libyien. (….) Es liegt ja nicht in meiner Macht. Es liegt überhaupt in der Macht keines Menschen aus Deutschland, wie viele zu uns kommen. (….) Es hat ja keinen Sinn so zu tun, als hätten wir das in der Hand, wie viele Flüchtlinge morgen kommen“ (S. 45-46, S. 47-48).
Kissler kommentiert dies treffend:
„Schicksal als Situation betrachtet, verengt die Handlungsspielräume des Politischen auf einen winzigen Korridor. Nur für diesen erklärt Angela Merkel sich zuständig. (….) Der Machtmensch redet sich klein zum Objekt der Sachzwänge, zum Spielball der Launen des Schicksals. So exkulpiert (exkulpieren = sich von Schuld freisprechen; UB) er sich im Voraus von den Folgens seines Tuns, des wenigen Tuns, das ihm blieb“ (S. 48).
„Es gibt eine Situation. Für diese Situation bin ich nicht verantwortlich. Aber wir müssen sie bewältigen. Und die gute Nachricht ist: Ich kann euch Mut machen. Denn ich bin sicher: Wir schaffen das.“ Das ist die argumentative Logik, von Angela Merkel. Und Kissler kritisiert zutreffend, dass sie damit das Politische – den politischen Kampf darum, wie gesellschaftliche Verhältnisse gestaltet werden (sollen), – rhetorisch auflöst in ein Nichts. Ein Nichts, in dem es nichts zu gestalten gibt, sondern nur zu reagieren auf objektive Sachzwänge. Was Kissler aber nicht sagt: Dass dies die typisch neoliberale Rhetorik ist. Denn in der neoliberalen Logik ist auch der Markt und mit ihm der Wettbewerb und die Globalisierung unser aller Schicksal, und nichts, was politisch hergestellt wurde.
Um dafür mal eine bei den Liberalen beliebte Vokabel zu benutzen (In vollem Bewusstsein dessen, dass es sich dabei um einen neoliberalen Kampfbegriff handelt. Aber warum nicht die Waffen der Neoliberalen gegen sie selbst ausrichten?): Es ist ein übler, neoliberaler Schicksals-Populismus, den Merkel als Politik darstellt. Und es zeigt sich darin ein antidemokratisches Denken, das sich auch noch in anderen politischen Parolen von Merkel wiederfindet: Nämlich in der Formulierung „Das ist alternativlos“ (die auch von Kissler noch abgehandelt wird) und dem berühmten Wort von der “marktkonformen Demokratie“.
Kritik
Was ist nun von Kisslers Buch im Ganzen zu halten? Die Idee von ihm, Phrasen aus der politischen Debatte zu analysieren, ist hervorragend. Leider hat er sie aber nicht besonders gut umgesetzt. Auch wenn es einige sehr gute Passagen in dem Buch gibt, ist es doch eher ein schwerfälliger, nicht besonders gut zu lesender Text. Ich hätte mir wesentlich mehr klar formulierte Argumente und Gedankengänge gewünscht. Bisweilen kamen mir seine Beispiele und Argumente etwas herbeigezogen vor und zu wenig naheliegend. Gestört hat mich auch seine Bildungshuberei. Das Buch enthält unnötig viele, wirklich seltene Fremdwörter, die auch ein einigermaßen gebildeter Mensch nachschlagen muss (Fatum S. 45; drapiert S. 51; solipsistisch S. 51; Impromptu S. 55). Seine Sprache ist nicht klar und prägnant, sondern wirkt auf mich sehr umständlich. Man merkt: Hier schreibt ein konservativer Bildungsbürger, der mit seiner Bildung glänzen möchte. Dem politischen Anliegen, die Phrasen in der politischen Auseinandersetzung zu kritisieren und Menschen für deren Inhaltslosigkeit sensibel zu machen, schadet dies. Leider ist sich der Autor offenbar zu schade dafür, populär zu schreiben.
Ein weiterer Punkt der Kritik ist durch den politischen Standpunkt des Autors bedingt: Kissler ist ein Konservativer und kann oder will deshalb in seiner Kritik an der Migrationspolitik von Angela Merkel das Naheliegende nicht sehen: Dass in dieser Frage unterschiedliche Interessenlagen und unterschiedliche Betroffenheiten von zentraler Bedeutung sind. Damit ließe sich die Scheinheiligkeit der hochmoralischen „Haltungsfreunde“, die Gegnern der Einwanderung schnell Rassismus unterstellen, viel besser verdeutlichen. Denn es ist nun einmal so, dass die Kapital- oder Unternehmerseite ein großes Interesse an Einwanderung hat, weil so weiterhin niedrige Löhne durchgesetzt werden können. Und es ist leicht nachvollziehbar, dass umgekehrt Menschen, die Globalisierung und die Offene Gesellschaft nur als verwahrlosende Stadtteile, Armut, Kriminalität, Obdachlosigkeit und ständige Unsicherheit kennengelernt haben, kein Interesse an Einwanderung haben können. Weil sie dadurch neue Konkurrenten auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt und um sonstige Ressourcen bekommen. Deshalb: Wäre dies eine Amazon-Rezension, würde ich maximal drei von fünf möglichen Sternen vergeben.
Hier nun noch die Inhaltsangabe zum Buch:
Inhaltsangabe
- Einleitung „Fünfzehn Phrasen, denen widersprochen werden muss“
- Kapitel 1 „Heimat gibt es auch im Plural“
- Kapitel 2 „Vielfalt ist unserer Stärke“
- Kapitel 3 „Wir schaffen das“
- Kapitel 4 „Jeder verdient Respekt“
- Kapitel 5 „Religion ist Privatsache“
- Kapitel 6 „Europas Werte ertrinken im Mittelmeer“
- Kapitel 7 „Willkommenskultur ist der beste Schutz vor Terror“
- Kapitel 8 „Solidarität ist keine Einbahnstraße“
- Kapitel 9 „Unser Reichtum ist die Armut der anderen“
- Kapitel 10 „Menschlichkeit kennt keine Obergrenze“
- Kapitel 11 „Angst hat man vor dem, was man nicht kennt“
- Kapitel 12 „Gewalt ist keine Lösung“
- Kapitel 13 „Haltung zeigen“
- Kapitel 14 „Das ist alternativlos“
- Kapitel 15 „Wir müssen zur Sacharbeit zurückkehren“
Alexander Kissler: Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss, Gütersloher Verlagshaus 2019, 18,00 Euro