Glenn Greenwald und die Enthüllungen über Richter Sérgio Moro

Frederico Füllgraf
Ein Artikel von Frederico Füllgraf

Ein Journalist gegen Kriminelle in Talaren – Teil 1: Der Richter lügt.
Das seit 1. Januar 2019 an der Macht befindliche brasilianische Bolsonaro-Regime stolpert von einer Turbulenz in die nächste. In der Öffentlichkeit, auch der internationalen, zunehmend diskreditiert, wird sein Sturz offenbar nur noch vom militärischem Bunker verhindert, der die Machtübernahme von langer Hand vorbereitete und großes Abschreckungspotenzial gegen das gesamte demokratische Spektrum – von Mitte-Rechts bis Links – zu besitzen scheint. Ein Bericht von Frederico Füllgraf.

In weniger als 6 Monaten Amtszeit entließ Jair Bolsonaro insgesamt 19 Spitzenfunktionäre, darunter 4 Minister. Doch selbst der harte Kern der Militärs zeigt Auflösungserscheinungen. Die jüngste Fortsetzung geschah am vergangenen 13. Juni mit der Entlassung von Bolsonaros Regierungs-Geschäftsführer, General Santos Cruz, der das Regime in aller Öffentlichkeit und unverblümt als “eine Show des Schwachsinns” bezeichnete.

Hintergrund der Ende-Juni-Krise bildet das am vergangenen 9. Juni als Fortsetzungsreihe vom US-amerikanischen Nachrichtenportal The Intercept gestartete Mega-Leak über die Machenschaften des ehemaligen Richters und jetzt amtierenden Justizministers Sérgio Moro, worüber die NachDenkSeiten umfangreich am 11. Juni berichteten.

Wie bereits bekannt veröffentlichte The Intercept Brazil am Sonntag, den 9. Juni, drei exklusive Berichte, aus denen hervorgeht, dass Sergio Moro sich nicht nur mit Staatsanwälten der Einsatzgruppe Lava Jato (“Autowaschanlage”) abstimmte, um Lula da Silva hinter Gitter zu sperren, sondern ihnen auch Instruktionen erteilte. Ein Vorgehen, das das vom Pulitzer-Preisträger Glenn Greenwald geleitete Nachrichtenportal als „höchst kontroverse, politisierte und rechtlich zweifelhafte Arbeitsweise” bezeichnete. Mit Zugriff auf wahrscheinlich gehackte Gespräche in der Textübertragungsplattform Telegram, die Intercept von anonymer Quelle zugespielt wurden, lassen die Berichte eine lupenreine, dokumentierte Verschwörung erkennen.

Rechtsradikale Gegenoffensive: „Greenwald deportieren!”

Als nun die demokratische Opposition im Parlament Greenwald als Zeugen vorlud und die Einrichtung einer Parlamentarischen Untersuchungskommission über das weltweit verurteilte, parteipolitische und gesetzwidrige Vorgehen Moros ankündigte, gab Bolsonaros Justizminister am vergangenen 18. Juni eine zweistündige Stellungnahme vor dem brasilianischen Senat ab, in der er nicht nur sämtliche Vorwürfe zurückwies, sondern das Intercept-Leak – in Brasilien als #VazaJato popularisiert – als „kriminellen Anschlag zur Diskreditierung der Korruptionsbekämpfung” umbog und Greenwald samt Intercept-Kollegen die Verhaftung androhte. Wenige Stunden nach Moros Auftritt rangierte jedoch das Hashtag #moromentiu (Moro hat gelogen) als führender Trending Topic auf Twitter.

Die Angriffswelle auf Greenwald begann kurz nach der Veröffentlichung der ersten drei Reportagen der Intercept-Serie mit einer konzertierten Aktion auf Twitter und der Forderung #DeportaGlennGreenwald (Weist Greenwald aus!). Die nachweislich von den Bolsonaro-Söhnen mitgesteuerten Angriffe und Falschmeldungen nahmen auch den mit Greenwald verheirateten Abgeordneten David Miranda ins Visier. Die Abgeordneten der Bolsonaro-Minderheitspartei PSL Hector Freire, Charlles Evangelista und Paulo Eduardo Martins verteilten in ihren sozialen Netzwerken Fotomontagen von Greenwald mit der falschen Behauptung, Miranda sei im Vereinigten Königreich des Terrorismus angeklagt und wegen Verbrechen gegen die Sicherheit verurteilt worden.

Als Gegenreaktion verurteilte die brasilianische Vereinigung Investigativer Journalisten (Abraji) in einer Stellungnahme aufs Schärfste die erneute Fake-News-Welle samt Androhungen von Repressalien gegen The Intercept, Greenwald, seine Familie und seine Kollegen; „insbesondere jene, die von offiziellen Vertretern ausgehen“, erklärte die Vereinigung mit einem Denkzettel an Justizminister Moro. Ironie der Amtshandlung: Anstatt den schwer belasteten Justizminister zu entlassen, verlieh ihm Bolsonaro den „Verdienstorden der Marine für gewonnene Seeschlachten“.

Mit der Medaille auf der Brust und Dementis vor dem Senat setzte sich Sérgio Moro in die USA ab; angeblich zu Konferenz-Auftritten. Nicht zu Unrecht spekulieren allerdings unabhängige Publikationen in Brasilien, Moro sei von der US-Regierung mit dem Ziel gerufen worden, um Instruktionen für „adäquate Schadensbegrenzung“ zu erhalten. In Begleitung Bolsonaros hatte der Richter bereits im vergangenen März der CIA-Zentrale in Langley einen ungewöhnlichen Besuch abgestattet, über dessen Anlass und Gesprächsinhalte Moro Erklärungen verweigerte.

Der Richter lügt: die neuen Enthüllungen

Eine neues Leak mit Auszügen der zwischen 2015 und 2018 auf der Text-App Telegram geführten Gespräche zwischen Staatsanwälten und dem damaligen Richter Sérgio Moro offenbaren, dass die Fakten dem Moro-Auftritt vor der Senatskommission für Verfassung und Justiz radikal widersprechen. Sein Vorgehen ging so weit, dass er auf die Anwesenheit und Argumentationsweise von Staatsanwälten Einfluss nahm, die insbesondere in der Anklage gegen Altpräsident Lula auftreten sollten. Die neuen Belastungen gegen Moro wurden am Fronleichnamstag in einer gemeinsamen Veröffentlichung von The Intercept Brasil und dem Journalisten Reinaldo Azevedo in der Sendung “O É da Coisa” von Radio BandNews FM in São Paulo bekanntgegeben.

Der Eingriff des Magistraten mit Dienstvorschiften (sic!) an die Staatsanwaltschaft trug sich im Vorfeld des 17. Mai 2017 zu, als der angeklagte Ex-Präsident Lula zum ersten Mal vor dem Gericht in Curitiba aussagen musste. Lula gegenüber saß Sergio Moro – derjenige, der auf illegale Weise, jedoch in der Praxis die Einsatzgruppe Lava Jato zur angeblichen Korruptionsbekämpfung koordinierte.

„Nein, Staatsanwältin Laura Tessler war nicht anwesend”, kommentierte Journalist Azevedo. Unmittelbar hinter dem Richter saßen an ihrer Stelle ihre Kollegen Julius Noronha und Roberson Pozzobon. Der Senatsaufritt Moros war nach Azevedos Einschätzung ein Sammelsurium absurder Behauptungen und Unterlassungen. In einem Atemzug stellte er die Authentizität der Telegram-Botschaften in Frage, erklärte aber auch, an jenen Gesprächen sei eigentlich nichts auszusetzen.

Selbstverständlich ist daran eine Menge auszusetzen! Sie verfälschen nämlich den Ethik-Kodex der Justiz und bedeuten einen Angriff auf Absatz IV, Art. 254 der brasilianischen Strafprozessordnung. Der Vorgang ereignet sich in dem Moment, als der Richter aktiv in den Fortlauf der Ermittlungen und überhaupt in die Arbeitsroutine der Staatsanwaltschaft eingreift. Er kritisiert „lasche” Auftritte der jungen Staatsanwältin Laura Tessler – warnt mit „höchster Vorsicht!”, „sie sollte wohl eine Zusatzausbildung erhalten” – und legt dem geschäftsführenden Staatsanwalt Deltan Dallagnol in den Anhörungen Lulas eine energischere Anklagen-Vertretung für Tessler nahe.

Damit überschritt Moro sämtliche Befugnisse und Pflichten der unabhängigen und unvoreingenommenen Magistratur. Und wie nicht nur die Gesprächsfolge auf Telegram, sondern der daran anschließende Auftritt der Staatsanwaltschaft verdeutlicht, nahmen Dallagnol und seine Untergebenen Moros „Empfehlung” widerspruchslos als „Befehl” entgegen.

„Übrigens: Hat Moro etwa Lulas Anwalt Cristiano Zanin einen ähnlichen Rat erteilt?”, hinterfragte der wertkonservative, jedoch einwandfrei rechtsstaatlich argumentierende Journalist Azevedo. Die zu den Gerichtsverhandlungen verfügbaren Videos zeigen allerdings das Gegenteil: Mehr als häufig behandelte der Richter die Seite der Verteidigung mit boshafter Härte; so als ob die Verteidigung publikums- und medienwirksam desavouiert werden müsste.

Staatsanwältin Laura Tessler wurde zwar von den Korruptionsermittlungen nicht ausgeschlossen, doch an der Anhörung Lulas durfte sie nicht teilnehmen. Schließlich, wie Staatsanwalt Carlos Fernando dazu auf Telegram schrieb, „das können wir im Fall Lula nicht zulassen”. Moro hatte Dallagnol um strengste Geheimhaltung und sofortige Löschung der Telegram-Aufzeichnungen gebeten. Dallagnol löschte sie, doch ausgerechnet „Chef” Moro vergaß es und wurde geleakt.

Nun sind wieder „die Russen” dran! „Als ich 2017 vom russischen Eingriff in den amerikanischen Wahlkampf erfuhr und darauf hingewiesen wurde, dass Telegram eine russische App ist, habe ich seine Nutzung aufgegeben”, erklärte der Scharfrichter Lulas, Wahlunterstützer und Geburtshelfer Bolsonaros.

Das Fazit: Moro hat neue Beweise gegen sich selbst erbracht. Wie lang er dem geplanten Intercept-Leak – von dem noch keine 10 Prozent publik gemacht wurden – unbeschadet zu widerstehen vermag, hängt offenbar zusehends von einer Geheimabsprache zwischen brasilianischen Generälen und den US-Geheimdiensten ab.

PHOTO CREDIT (FEATURED IMAGE & BIOGRAPHY PIC): Jimmy Chalk

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