Das 75. Jubiläum der Landung der Alliierten wurde für massive Meinungsmache genutzt: Der westliche Beitrag zu Hitlers Sturz wurde medial aufgebauscht und instrumentalisiert. Russland war gar nicht eingeladen. Eine durchschaubare Inszenierung. Von Tobias Riegel.
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Europa wurde vor allem durch die Nationen der Sowjetunion vom Nazi-Terror befreit. Das negiert nicht das Zutun der Alliierten zu Hitlers Niederlage, deren Beitrag auch gewürdigt werden muss. Wie aber die westlichen Politiker und Medien den Anteil westlicher Nationen an der Befreiung Europas aufbauschen und für Propaganda nutzen, ist skandalös. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte diese politische und mediale Meinungsmache gerade beim Gedenken zum 75. Jahrestag der Landung der Alliierten in der Normandie: Es war ein Gipfel der Geschichtsklitterung, der Verdrehung und der Selbstbeweihräucherung. Russland als Nachfolger der Hauptakteure beim Kampf gegen Hitler war gar nicht eingeladen. Viele Medien haben sich beim Thema einen Freibrief ausgestellt: Wissenschaft spielt keine Rolle mehr.
Propaganda wirkt: Der Mythos von den US-amerikanischen Befreiern
So entstehen Mythen und Fake-News: Im Mai 1945 waren laut Umfragen noch 57 Prozent der Franzosen überzeugt: Die Hauptlast beim Niederringen von Nazideutschland hat die Sowjetunion getragen. Nur 20 Prozent der Befragten schlug diese Hauptleistung damals den USA zu. Im Jahr 2015 hatte sich dieses Verhältnis umgedreht. Nun dachten 54 Prozent der befragten Franzosen, der deutsche Faschismus sei vor allem durch die USA besiegt worden – nur noch 23 Prozent sahen die Leistungen und Opfer der Sowjetunion. Diese Entwicklung ist Ergebnis einer langfristigen Meinungsmache – einen Mosaikstein dieser Propaganda konnte man aktuell beim Gedenken zum 75. Jahrestag der Landung der Alliierten in der Normandie beobachten, zum sogenannten D-Day.
Geschichtsklitterung: „Der Untergang von Nazi-Deutschland begann 1944“
Ohne die großen Opfer der Sowjetbürger im Vorfeld wäre die Landung in der Normandie nicht möglich gewesen. Neben der Negierung des sowjetischen Hauptanteils am Sieg gegen Hitler wird beim D-Day-Gedenken zudem die militärische Bedeutung des Tages und der Landung maßlos übertrieben. So erklärt der „Spiegel“,: „Vom 6. Juni 1944 an landeten sie im Rahmen der ‚Operation Overlord‘ an den Stränden der Normandie,(…). Es war der Anfang von Hitlers Ende.“ Die „Süddeutsche Zeitung“ behauptet: „Der Untergang von Nazi-Deutschland begann am 6. Juni 1944 – dem Beginn der alliierten Invasion im besetzten Frankreich“.
Die „Zeit“ sagt zum D-Day: „Der Tag, der die Wende brachte“. Und die „Tagesschau“ meint: „Die größte Landungsoperation der Militärgeschichte hatte entscheidende Bedeutung für den weiteren Verlauf des Zweiten Weltkrieges.“ Und sogar Papst Franziskus bezeichnete den D-Day aktuell als “entscheidend im Kampf gegen die Barbarei der Nazis“. In manchem Artikel findet sich zwar ein Nebensatz zum sowjetischen Beitrag – insgesamt ist es aber völlig unangemessen.
Der D-Day als „Wendepunkt“: Was sagen die Historiker?
Der D-Day als „Anfang von Hitlers Ende“? Wissenschaftler sehen das anders. So betont etwa der Historiker Peter Lieb aktuell:
„Heutzutage wissen wir, der Krieg war vorher schon für die Deutschen verloren. Da waren Stalingrad und die hohen Verluste im Osten. Die Deutschen verloren an der Ostfront seit 1941 pro Tag 2000 Mann – durch Tod, schwere Verwundungen oder Gefangenschaft.“
Darauf weist auch ein Artikel bei „RT“ hin:
„Der Großteil der Divisionen der Wehrmacht kämpfte an der Ostfront, vier von fünf gefallenen deutschen Soldaten starben im Osten. In entgegengesetzter Richtung trugen bei der Verteidigung ihrer Heimat und letztendlich der Befreiung Europas die Völker der Sowjetunion die Hauptlast des Krieges, was sich auch an der Zahl ihrer Todesopfer zeigt, der militärischen wie der zivilen.“
Sollte Europa vor Stalin „gerettet“ werden?
Lieb und viele andere Forscher stützen also eine andre These als die nun massiv verbreitete vom „Wendepunkt D-Day“. Demnach war die Landung der Alliierten weniger eine Befreiung von den Nazis – das hätte die Sowjetunion mutmaßlich alleine geschafft. Vielmehr ging es darum, Westeuropa vor dem sowjetischen Sieg zu „retten“. Dazu vermeldet der „Deutschlandfunk“:
„Der Historiker Peter Lieb schreibt der Landung der Alliierten in der Normandie 1944 weniger eine militärische Bedeutung zu, dafür aber eine politische. Durch diese militärische Operation sei verhindert worden, dass West- und Mitteleuropa in die Hände Stalins gefallen wären.“
Die Nichteinladung Russlands: Für viele Medien normal
Ganz konnte der Beitrag der Sowjetunion nicht aus den Zeremonien herausgehalten werden, wie der „Spiegel“ beschreibt. So habe etwa ein Redner die Erklärung der Teheraner Konferenz, die Churchill, Roosevelt und Stalin 1943 verfasst hatten, zitiert. Darin drückten die Alliierten ihre Entschlossenheit aus, “dass unsere Nationen im Krieg und in dem Frieden, der folgen wird, zusammenarbeiten werden“.
Den aktuellen Umgang mit Russland skandalisiert das Magazin jedoch nicht, sondern beschreibt ihn, als handele es sich bei den gedemütigten Russen um unentschuldigt fehlende Schüler: „Vertreter aus Russland jedoch fehlten in Portsmouth, dafür wandten sich die Staats- und Regierungschefs aus Frankreich, Großbritannien und den USA in kurzen Beiträgen ans Publikum.“ Immerhin wird das Fehlen Russlands hier überhaupt erwähnt. Viele große Medien verschweigen diesen Fakt – ganz so, als sei er „normal“.
Sergej Lawrow spricht Klartext
Nicht schweigen möchte zu der massiven Geschichtsfälschung der russische Außenminister Sergej Lawrow, der in einem aktuellen Artikel und auf der Webseite des russischen Außenministeriums erklärt:
„Es werden falsche Geschichtsinterpretationen in das westliche Bildungssystem eingeführt, mit Mystifizierungen und pseudohistorischen Theorien, die das Kunststück unserer Vorfahren schmälern sollen. Den jungen Leuten wird gesagt, dass der Hauptverdienst für den Sieg über den Nationalsozialismus und die Befreiung Europas nicht den sowjetischen Truppen, sondern dem Westen zukommt – durch die Landung in der Normandie, die weniger als ein Jahr vor der Niederlage des Nationalsozialismus stattgefunden hat.“
Es ist interessant, dass dieses Zitat ausgerechnet in der „Bild“-Zeitung zu finden ist – dadurch leistet das Blatt mehr Aufklärung als die meisten anderen großen deutschen Medien. Aber die „Bild“ bleibt auch die „Bild“, die zum D-Day außerdem schreibt, es sei der Tag, „als Amerikaner, Briten und Kanadier Hitlers Atlantikwall in der Normandie erstürmten und das unterworfene Europa Meter um Meter wieder freikämpften“. Julian Reichelt versteigt sich auch zur Aussage: „Mit diesem ‚längsten Tag‘ vor 75 Jahren begann die Befreiung der noch lebenden Juden in den deutschen Konzentrationslagern.“
Russland als Verfemter – Deutschland als „Alliierter“
Vor fünf Jahren war Russland noch beim Gedenken dabei. Der diesjährige Umgang mit Russland und dem Gedenken symbolisiert nicht nur die Abkühlung zwischen den Ländern, sondern auch die abnehmenden Skrupel des Westens, wenn es um die Instrumentalisierung und die Verdrehung der Geschichte geht.
Eine Randnotiz verdeutlicht die bizarre Situation: In einem (mittlerweile gelöschten) Tweet der britischen Königsfamilie wurde Deutschland als Alliierter bezeichnet. Hier wurde also die Kanzlerin als Abgesandte des Nachfolge-Staates des Nazi-Regimes mit großem Zuvorkommen behandelt – während die Sowjet-Nationen, die die Hauptlast trugen, gedemütigt wurden. Man stelle sich eine vergleichbar irre Kombination umgekehrt von Russland ausgehend vor und die darauf folgende Berichterstattung.
Die gesamte Präsentation zum D-Day kann als erbärmlich und durchschaubar bezeichnet werden. Das antirussische Auftreten hat aber nicht nur etwas herzloses. Ihm haftet auch eine „großen Nationen“ nicht angemessen erscheinende Knickerigkeit an. Zudem lässt die Durchschaubarkeit der historischen Fälschungen den Eindruck von Dreistigkeit entstehen: Für wie dumm werden hier die Medienkonsumenten eigentlich gehalten?
Die D-Day-Mythen in der Kulturpropaganda
Flankiert werden die Medien-Mythen zum D-Day schon lange von Kulturpropaganda. So haben auch Hollywoodfilme stark zur Legende von den Hitler niederringenden US-Soldaten beigetragen. Das beschreibt aktuell die „Neue Zürcher Zeitung“ und die „Deutsche Welle“ analysiert diese Pro-US-Propaganda kritisch:
„In Filmen etwa würden die Soldaten anderer Nationen – wenn überhaupt – Nebenrollen spielen: Briten seien tendenziell im Weg, Franzosen wären eventuell gut für etwas Lokalkolorit oder eine Liebesszene und Kanadier kämen eigentlich überhaupt nicht vor. Polen, Neuseeländer und Andere, die sich in die Schlacht um die Normandie warfen, erwähnt auch Gopnik nicht.“
Die Hingabe an den D-Day-Kitsch
Angesichts der jahrzehntelangen Indoktrination in den Medien und im Kino muss man sich also nicht wundern, dass sich auch 2019 noch erwachsene Menschen hemmungslos einem D-Day-Kitsch hingeben:
„Am Ende der Feierlichkeiten, nach 21 Salutschüssen aus Kanonen, die auf das Meer gerichtet waren, standen Trump und Macron gemeinsam mit ihren beiden Ehefrauen Melania Trump und Brigitte Macron auf einer Aussichtsplattform über den sattgrünen Hügeln über Omaha Beach und blickten auf das Meer, das türkisfarben in der Sonne glitzerte und so gar nichts mit der rauen See zu tun hatte, die sich genau an dieser Stelle vor 75 Jahren blutrot gefärbt hatte.“
Titelbild: Everett Historical / Shutterstock