Die CDU hat ein wenig mit sich gerungen, wie sie denn auf das „Zerstörungsvideo“ eines YouTubers reagieren sollte. Zuerst hatte man den Social-Media-Star der CDU, Philipp Amthor, mit einem Gegenvideo beauftragt, die Veröffentlichung in letzter Minute aber gestoppt und entging damit ganz knapp der zu erwartenden Totalblamage. Doch hochgradig blamabel und bezeichnend für das Fremdeln mit dem, was die Kanzlerin selbst mal als „Neuland“ bezeichnet hat. Anstatt sich in dieses „Neuland“ zu begeben, verlagerte man das Feld der Auseinandersetzung lieber dahin, wo man auch gewinnen kann. Von André Tautenhahn und Jens Berger.
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Überhebliches Selbstverständnis
So ist der Generalsekretär der CDU, Paul Ziemiak, der sich erst noch abwertend zum Vorgang äußerte, inzwischen zu einem Stalker auf Twitter geworden, der seine Einladung zu einem persönlichen Treffen in warme Worte verpackt. So hat es schließlich auch die Kanzlerin gemacht, als sie sich mit dem YouTuber LeFloid – kennt den eigentlich noch jemand? – vor Jahren einmal traf, locker plauderte und somit nichts weiter zu befürchten hatte. Vorbereitung ist alles und die Argumente, die als Antwort auf das Zerstörungsvideo dienen sollen, liegen bereits als ausführliche schriftliche Stellungnahme vor. Dieses Dokument sollten Sie lesen. Es ist ein Beleg für den katastrophalen Zustand der politischen Diskussion. Schon die Vorbemerkung ist ein Offenbarungseid.
So führt die Zentrale im Konrad-Adenauer-Haus erst einmal die ehrenamtlich tätigen Parteimitglieder und Unterstützer ins Feld, um eine Betroffenheit zu simulieren, die es so gar nicht gibt. Es geht ja um die Entscheidungen, die die CDU als Teil der Regierung zu verantworten hat. Und da sind keine Kreistagsabgeordneten am Werk, sondern bezahlte Berufspolitiker, die mal eben ein Gegenvideo produzieren, es aber nicht senden, dafür behaupten:
“Wir haben ein klasse Produkt erarbeitet,…”
Wir werden seit Jahren häufiger als andere Parteien gewählt, weil wir den Mut und die Verpflichtung haben, auf komplexe Fragen auch gut durchdachte und angemessene Antworten zu geben.
Da ist es wieder, das überhebliche Selbstverständnis einer Mehrheitspartei, die vor allem vom Unvermögen der politischen Mitbewerber profitiert, die sich, wie die Mannschaften der Bundesliga auch, längst dafür entschieden haben, nur noch dabei zu sein, statt um den Titel mitzuspielen. Doch es ist falsch, dass die CDU auf komplexe Fragen gut durchdachte und angemessene Antworten böte. Das zeigt die Stellungnahme, die tatsächlich vor Verkürzungen und Irreführungen nur so strotzt, also das Gegenteil von dem ist, was sie vorgibt zu sein. Ein Faktencheck.
Was kostet ein Fernseher?
Die manipulative Methodik, die sich durch die gesamte CDU-Antwort zieht, lässt sich recht plastisch an einem Beispiel belegen. Da rechnet die CDU als Beleg für ihre „soziale Politik“ vor, dass man heute nicht einmal ein Zehntel so lange wie 1960 arbeiten muss, um sich einen Fernseher leisten zu können. Das ist freilich richtig, nur taugt die Preisentwicklung von Fernsehern überhaupt nicht als Maßstab für „soziale Politik“. Der Fernseher ist vor allem deshalb so günstig, weil die lohnintensiven Arbeits- und Vorarbeitsschritte in Niedrigstlohnländern in allen Ecken der Welt vorgenommen werden und ein großer Teil der Fertigung dann automatisiert in asiatischen High-Tech-Fabriken stattfindet und das fertige Produkt dann ohne Berücksichtigung externer Kosten in Handelsstrukturen vertrieben wird, bei denen die Beteiligten vom Lageristen bis zum Paketboten mit Hungerlöhnen abgespeist werden. Die nennt man dann „Rationalisierung“. Warum hat sich die CDU kein passenderes Beispiel herausgesucht? Wie wäre es beispielsweise mit einer Kinokarte? Die kostete 1960 achtzig Pfennig. Dafür musste ein Facharbeiter im Schnitt immerhin 38 Minuten arbeiten. Heute kostet die Kinokarte ohne Ermäßigung oder Zuschläge an der Abendkasse 8,50 Euro, was für einen Durchschnittsverdiener (Vollzeit/Medianlohn) sogar 48 Minuten Arbeit entspricht. Hartz-IV-Empfänger sollten sich den Kinobesuch lieber aus dem Kopf schlagen. Das ist „Rosinenpickerei“? Sicher. Aber genau diese Rosinenpickerei betreibt die CDU von der anderen Seite, wenn sie den Preis für Fernseher als Beleg für den Erfolg ihrer „Sozialpolitik“ anführt. Ob es „uns“ wirklich so gut geht, wie die CDU stets behauptet, sollte man besser nach anderen Maßstäben bewerten und für sich selbst beantworten. Erstaunlich und bezeichnend ist jedoch, dass die CDU Rezo vorwirft, mit Daten und Statistiken selektiv umzugehen und dabei in ihrer Antwort selbst Rosinenpickerei vom Feinsten betreibt und sich auf Fallbeispiele stützt, die fragwürdig sind und die nicht geeignet sind, um die aufgestellten Behauptungen zu belegen.
Soviel Soziales
Ein weiteres Beispiel ist der Bereich „Soziales“: Die CDU leugnet, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergehe und bezeichnet die amtliche Messgröße Armutsgefährdungsquote sogar als Irreführung, weil sie nur die unterschiedliche Einkommensverteilung anzeige. Mit Armut habe das nichts zu tun. Die CDU stellt dagegen fest, dass sich Hartz-IV-Empfänger wie auch Facharbeiter heute mehr leisten können als früher, zum Beispiel den bereits angeführten Fernseher. Den kann man zwar nicht essen, dafür aber zuschauen, wie der Sender RTL 2 Menschen, die von Sozialleistungen abhängig sind, als dumme und faule Schmarotzer vorführt.
Dass es inzwischen rund 1000 Lebensmitteltafeln mit etwa 2000 Läden in Deutschland gibt, die wiederum 1,5 Millionen Menschen versorgen, davon rund 450.000 Kinder und Jugendliche, ist für die CDU offenbar ein Ausdruck dafür, dass das Sozialsystem prima funktioniert. Eine Billion Euro gebe der Staat für Sozialleistungen aus, heißt es in der Stellungnahme, so als wollte man sagen, dass man sich den Sozialstaat ordentlich etwas kosten lässt. Dabei hat sich gemessen am Bruttoinlandsprodukt kaum etwas verändert.
Was die CDU, die vorgibt, eine seriöse Wirtschaftspolitik per Definition gepachtet zu haben, wissentlich unterschlägt, ist die Tatsache, dass Jahr für Jahr die Preise steigen und damit auch das Sozialbudget in absoluten Zahlen. Die naheliegende Aussage, der Sozialstaat werde immer aufwändiger und teurer, bestätigt sich aber nicht. Hinzu kommt, dass Sozialleistungen nicht nur eine gesamtwirtschaftliche Belastung darstellen, wie gerade von der CDU immer wieder behauptet und beklagt wird, sondern Einkommen, die der Wirtschaft auch wieder zugute kommen.
Selektive Wahrnehmung
Richtig abenteuerlich ist die bekannte Feststellung, dass die oberen 10 Prozent der Einkommensteuerpflichtigen rund 55 Prozent der Einkommensteuer zahlen und die unteren 50 Prozent nur 6,4 Prozent. Das ist ein neoliberaler Gassenhauer. Die Zahlen stimmen, zeigen aber zunächst einmal an, dass die Einkommen deutlich auseinander klaffen. Die CDU bestätigt also genau den Eindruck, den sie in der selben Stellungnahme zu entkräften versucht. Doch der eigentliche Punkt ist, dass die Einkommensteuer nur etwa 45 Prozent des Gesamtsteueraufkommens ausmacht.
Die Behauptung der CDU, dass starke Schultern weitaus mehr tragen als schwache Schultern, ist so nicht haltbar. Etwa 30 Prozent des Steueraufkommens kommt aus der Umsatzsteuer, die für jeden gleich hoch ist, egal wie viel er gerade verdient. Gemessen an ihren Einkommen sind Geringverdiener, die ihr Einkommen für den Konsum komplett verbrauchen, damit stärker steuerlich belastet als wohlhabendere Menschen. Die CDU ist dennoch überzeugt, dass es allen besser gehen muss. Schließlich habe sich die Beschäftigungsquote erhöht. Im Vergleich zu 2005 haben 5,5 Millionen mehr Menschen einen Job. Beschäftigungsform, Arbeitszeit und Verdienst klammern die Faktenchecker lieber aus. Das ist für sie nicht relevant.
Ähnlich sieht es beim Thema „Vermögensverteilung“ aus. Anstatt auf die sehr eindeutigen Zahlen aus dem Video einzugehen, die sich insbesondere mit dem Auseinanderklaffen der Vermögensschere beschäftigen, bringt die CDU hier das Strohmannargument, dass die Zahlen durch die nicht in der Vermögensstatistik enthaltenen Anwartschaften auf Altersvorsorgeleistungen „verzerrt“ seien – selbst das ist übrigens nur halb wahr, da die Anwartschaften aus privaten Altersvorsorgeprodukten wie Kapitallebensversicherungen sehr wohl Bestandteil der Statistik sind. Der Verweis auf die Zusammensetzung macht aber ohnehin nur dann Sinn, wenn es um die internationale Vergleichbarkeit geht. Aber Rezo vergleicht die Zahlen ja gar nicht mit internationalen Statistiken, sondern weist auf die Vermögensungleichheit innerhalb Deutschlands hin und die hat gar nichts mit den von der CDU vorgebrachten Anwartschaften zu tun.
Im Bereich der Bildungspolitik reklamiert die CDU das Gute-Kita-Gesetz für sich. Das ist ein Funfact am Rande, da dieses Werk gemeinhin auf der Visitenkarte der SPD auftaucht. Das ist aber auch egal, da an dem Gesetz kaum etwas gut durchdacht ist. Es ist vielmehr alles erlaubt. So können die Länder die 5,5 Milliarden Euro, die nach viel klingen, aber mehrere Jahre reichen müssen, auch zum Stopfen von Haushaltslöchern verwenden, die durch die Einführung der Gebührenfreiheit im Kindergarten entstanden sind. Die frühkindliche Bildung wird auf diese Weise kaum verbessert.
Wie die CDU Kriege sieht
Man kann noch weitere Punkte der Stellungnahme Stück für Stück durchgehen und kritisieren. Einer davon ist ebenfalls besonders auffällig. Und zwar die Sache, wie die CDU die Kriegspolitik der Amerikaner sieht. Die gibt es nämlich gar nicht, da der NATO-Bündnisfall seit 2001 gilt. Der Zeitraum von mittlerweile 18 Jahren ist offenbar vollkommen normal aus Sicht der CDU, die folglich auch nichts dagegen einzuwenden hat, wenn die Amerikaner überall auf der Welt ihr militärisches Bedrohungspotenzial zur Schau tragen.
Dieser Zustand muss auch für immer gelten, da die Zahl der Terroristen nicht ab-, sondern stetig zunimmt, je länger der Antiterrorkampf andauert. Dass der wissenschaftliche Dienst des Bundestages bereits zu dem Ergebnis gekommen ist, dass die USA und ihre Verbündeten völkerrechtswidrig agieren, ist der CDU in ihrem Faktencheck keine Erwähnung wert. Dafür ist klar, dass Russland Kriege führe, die für Deutschland eine Bedrohung darstellen. Es sei deshalb richtig, auf atomare Abschreckung zu setzen, um den Frieden zu sichern.
Dagegen verliert die Stellungnahme kein Wort über den Bundestagsbeschluss aus dem Jahr 2010, der eigentlich den Abzug von Atomwaffen aus Deutschland fordert. Es gibt auch kein Wort zu den offenen Kriegsdrohungen der USA. Die CDU gibt vor, auf komplexe Fragen durchdachte Antworten zu geben. Sie tut das aber nicht. Sie trägt lediglich zur Beschönigung der traurigen Wirklichkeit bei, leugnet Tatsachen und agiert damit unredlich.
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