Verweigerte Ermittlungen, nicht gehörte Zeugen, verschleppte Entschädigung: Der deutsche Umgang mit dem belasteten Erbe der deutsch-chilenischen Sekten- und Folter-Kolonie macht fassungslos – ebenso wie kürzlich ergangene Entscheide der Justiz. Die Geschichte der deutschen Verstrickung mit dem Pinochet-Regime erscheint zudem durch Deutschlands aktuelle Politik zu Venezuela von Relevanz. Von Tobias Riegel.
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Die Unabhängigkeit der Justiz ist ein hohes Gut. Darum sollten Entscheide von Gerichten oder auch Staatsanwaltschaften nicht darum diffamiert werden, weil sie einem nicht ins politische Konzept passen. Aber es gibt auch Entscheide, deren Vorgeschichte ist so unseriös und sie werden dem Bedürfnis nach Aufarbeitung so offensichtlich nicht gerecht, dass sie einer Überprüfung bedürfen. Die vor einigen Tagen eingestellten Ermittlungen gegen Hartmut Hopp sind ein solcher Vorgang – ebenso die Entscheidung, chilenische Gerichtsurteile zu seiner Person nicht umsetzen zu wollen. Hopp war Arzt und Führungsmitglied der 1956 von Paul Schäfer in Chile gegründeten „Colonia Dignidad“.
In einem Prozess in Chile war Hopp bereits wegen Beihilfe zu sexuellem Kindesmissbrauch zu einer Haftstrafe verurteilt worden, wie Medien berichten. Die Strafe darf jedoch in Deutschland nicht vollstreckt werden, wie das Oberlandesgericht Düsseldorf vergangenes Jahr entschied: Dass Hopp Teil der Sektenleitung war und an der Gründung eines Internats mitwirkte, reiche nach deutschem Recht nicht für eine Verurteilung in dem Fall aus: Hopp bleibt also ein freier Mann.
Sekten-Lager des Schreckens – mit deutschem Wissen
Die „Kolonie der Würde“ war ein Sekten-Lager des Schreckens. Zahlreiche Familien und ihre Kinder wurden ihrer Freiheit beraubt, sexuell und materiell ausgebeutet, körperlich malträtiert und (mutmaßlich/angeblich durch den Lager-Arzt Hopp) mit Medikamenten ruhig gestellt. Zudem gab es eine enge Zusammenarbeit zwischen der Kolonie und dem Regime unter Augusto Pinochet nach dessen Putsch von 1973: So wurden auf dem Gelände der Kolonie Oppositionelle gefoltert. All das war dem deutschen Geheimdienst BND seit spätestens 1966 bekannt – die schrecklichen Zustände wurden von deutscher Seite ignoriert. Die aktuellen Entwicklungen zur Kolonie, das Verhalten zu Hartmut Hopp und das unwürdige Tauziehen um Entschädigungen werfen ein Licht auf die verdrängte Geschichte der Kolonie und auf ihre Unterstützung von deutscher Seite – und auf die fragwürdige aktuelle Lateinamerika-Politik Deutschlands, die sich erneut einem Putschisten andient.
Die NachDenkSeiten haben sich in zahlreichen Artikeln mit der Geschichte der Kolonie, ihren Verstrickungen mit dem Pinochet-Regime und mit der inakzeptablen Verweigerung von Aufarbeitung und Entschädigung durch deutsche Behörden beschäftigt. Am Ende des Artikels finden Sie dazu weiterführende Links.
Verweigerte Ermittlungen, nicht gehörte Zeugen
Wie gesagt: Es ist nicht unproblematisch, die Justiz aus politischen Gründen anzugreifen. Im Fall Hopp fußen die Justiz-Entscheidungen aber auf einer skandalösen Vorgeschichte und auf einer mutmaßlichen Arbeitsverweigerung der Ermittler im Vorfeld des Verfahrens. Auf den Fakt, dass zahlreiche aussagewillige Zeugen nicht vernommen wurden, weist etwa die Initiative European Center for Constitutional and Human Rights hin:
„In Deutschland und in Chile leben etliche Betroffene und Zeugen der Verbrechen, die in der Colonia Dignidad begangen wurden. Sie sind bereit auszusagen, etwa zur Rolle von Hartmut Hopp bei Folter und Mord an Gegnern des Pinochet-Regimes auf dem Gelände der Sektensiedlung. Doch die Staatsanwaltschaft Krefeld hat diese Zeugen schlicht ignoriert.“
Die Autoren fahren fort:
“Auch zur systematischen Misshandlung von Sektenmitgliedern mit Psychopharmaka hat die Staatsanwaltschaft nicht ausreichend ermittelt – obwohl darüber beispielsweise Anzeigeerstatterin Gudrun Müller Auskunft geben könnte. Doch auch sie wurde in den sieben Jahren des Ermittlungsverfahrens niemals vernommen.“
Der aktuelle Fall des Lager-Arztes ist nicht der einzige
Der Fall Hartmut Hopp ist nicht der einzige Vorgang zur Kolonie, der von mutmaßlichem Justiz-Versagen begleitet wird. So wurde Anfang des Jahres das Ermittlungsverfahren wegen Mordes gegen den ehemaligen Kolonie-Bewohner Reinhard Döring eingestellt. Das allein ist kein Skandal – bedenklich ist aber, dass im Fall Döring wie im Fall Hopp selbstverständliche Prinzipien der Ermittlungsarbeit verletzt wurden, wie etwa das „Neue Deutschland“ feststellt. Die Zeitung nennt das Ende der Ermittlungen skandalös – aber nicht, weil das Medium anlasslos eine nicht bewiesene Schuld unterstellt, sondern weil keine Anstrengungen unternommen wurden, diese eventuelle Schuld festzustellen. Dass es in der »Kolonie der Würde« schwere Verbrechen von Kindesmissbrauch bis hin zu Folter und Mord von Gegnern der Pinochet-Diktatur gegeben hat, sei unumstritten. Die Zeitung fährt fort:
„Welchen Anteil Döring daran hatte, ist unklar. Eben das sollte das 2016 gestartete Ermittlungsverfahren in Erfahrung bringen. Was dafür üblicherweise Praxis ist, wurde jedoch unterlassen: Verfügbare Zeugen wurden offensichtlich nicht angehört, Hinweise von Menschenrechtsanwälten ignoriert; der Darstellung des Beschuldigten, der sich laut der Justiz ‚unwiderlegbar‘ als Opfer präsentiert hat, wurde ohne Einvernahme anderer Zeugen gefolgt.“
Verpasste Chance der Versöhnung – Wissen die Angeklagten zu viel?
Beide Fälle – Döring und Hopp – hätten der deutschen Seite das Potenzial geboten, zumindest symbolisch an zwei wichtigen Personalien den Willen zur Aufarbeitung zu demonstrieren. Mit dieser Aussage soll keine bewiesene Schuld unterstellt werden und sollen keine bestimmten Urteile gefordert werden – wohl aber hätte der sichtbare Wille zu ernsthaften Ermittlungen viel zur Versöhnung beitragen können. Diese Möglichkeit der Versöhnung wurde durch die mangelhafte Ermittlungsarbeit in beiden Fällen ausgeschlagen. Dadurch wurde zum einen die Chance auf symbolische Versöhnung vertan – zum anderen wurde das Risiko eingegangen, dass die Empörung über die Justiz-Entscheide erneute Aufmerksamkeit auf die Kolonie-Geschichte und den deutschen Anteil lenken. Warum wurden diese Chancen nicht genutzt, wurde dieses Risiko eingegangen?
Diese Frage stellt auch die „Süddeutsche Zeitung“:
„Die Akten des BND zur Colonia sind verschlossen. Auch wurde viel zu wenig erforscht, wo all das Geld steckt oder welches Verhältnis auch deutsche Politiker und ein Waffenmagnat zu der würdelosen Kolonie hatten. Längst heißt die Enklave Villa Baviera, Bayerndorf. Inzwischen ist sie ein Freizeitpark, purer Zynismus. Wieso beackert keine Wahrheitskommission dieses finstere Feld? Wieso müssen Opferanwälte und Menschenrechtler bis zur Selbstaufgabe kämpfen? Weil Unangenehmes ans Licht kommen könnte?“
Die Opfer der Kolonie mussten dieser Tage nicht nur die „Entlastung“ ihres mutmaßlichen Peinigers Hopp ertragen. Dazu kommt das aktuelle und unwürdige Gezerre um die Entschädigung der Opfer durch Deutschland, das dadurch einen Teil seiner Schuld symbolisch ausgleichen möchte. „Symbolisch“ ist in diesem Zusammenhang das richtige Wort, denn selbst die „Tagesschau“ fragt angesichts der bisher bekannten Pläne ungläubig: „5000 Euro für Jahrzehnte Zwangsarbeit?“ Den öffentlich-rechtlichen Medien kann man im Zusammenhang mit den neueren Entwicklungen zur „Colonia Dignidad“ im übrigen nicht viel vorwerfen: Sie haben ordentlich berichtet, etwa aktuell am Montag der „Deutschlandfunk“ und in den vergangenen Tagen auch etwa die „Tagesschau“ über die Entscheidungen zu Hopp oder über die Farce der Entschädigungen.
Und wieder steht Deutschland an der Seite von Putschisten
Die Vorgänge zur Colonia Dignidad erhalten nicht nur durch die kürzlichen Justiz-Entscheide Relevanz. Sie werfen auch ein Licht auf die Zusammenarbeit deutscher Dienste mit verbrecherischen Putsch-Regimen wie jenem unter Pinochet in Chile: Aktuell dient sich Deutschland mit der Unterstützung für Juan Guaidó erneut einem lateinamerikanischen Putschisten an.
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