Vorbemerkung: Bei der Lektüre dieses Berichtes ist mir wieder einmal klar geworden, wie mangelhaft unsere Medien über die Feiern zum Gedenken an den Sieg der Roten Armee und das Ende des Zweiten Weltkriegs berichten. Wir erfahren wenig davon, wie sehr das nahezu alle Familien betreffende Leiden des Krieges die Russen und auch andere beteiligte Völker der ehemaligen Sowjetunion prägt. Hier der Bericht. Albrecht Müller.
Wladimir Putin erinnert an den Heroismus der sowjetischen Soldaten und fordert alle Staaten auf, ein für alle Länder gleichwertiges Sicherheitssystem zu schaffen.
13.000 Soldaten beteiligten sich an der Militärparade in Moskau zum Gedenken an den Sieg über Hitler-Deutschland. Wie schon in den letzten Jahren waren auch wieder moderne Schützenpanzerwagen und verschiedene Luftabwehr-Raketen – wie Buk und S 400 – zu sehen, aber auch Mittel- und Langstreckenraketen wie Iskander und Jars.
In seiner Rede vor der Parade stellte der russische Präsident Wladimir Putin vor allem den Heroismus und die Kampfbereitschaft der sowjetischen Soldaten heraus. „Schon Anfang Juli 1941 waren fünf Millionen Soldaten kampfbereit, zehntausende Freiwillige beteiligten sich an der Volkswehr.“ Die Kämpfer hätten an der Festung von Brest bis zum Äußersten gekämpft und „an den Mauern der Festung eine Inschrift hinterlassen, die auch heute noch den Atem stocken lässt.“ Dort steht: „Ich sterbe, aber ich gebe nicht auf.“ Diesen Schwur hätten sich auch die russischen Soldaten von heute zu eigen gemacht und er sei das Pfand „für die Unbesiegbarkeit der russischen Waffen.“
Putin kritisierte in seiner Rede, dass „eine Reihe von Staaten bewusst die Ereignisse des Krieges verfälschen“. Es würden Personen zu Helden aufgebaut, „die den Nazis dienten“. Dies war eine Anspielung auf den Bandera-Kult in der Ukraine. Der russische Präsident rief in seiner Rede alle Staaten auf, ein „effektives und für Alle gleiches Sicherheitssystem“ zu schaffen.
Bei der Übertragung der Paraden und Märsche am 9. Mai im russischen Fernsehen fiel auf, dass es Live-Übertragungen nicht nur aus Russland gab, sondern auch aus der international nicht anerkannten „Volksrepublik Lugansk“ sowie aus Kiew und Minsk. Statt St. Petersburg wurde bei der Live-Übertragung der historische Schriftzug „Leningrad“ eingeblendet.
Warum die Russen immer noch den Sieg feiern
Bei der Militärparade auf dem Roten Platz am Donnerstag saßen noch einige Kriegsveteranen auf der Tribüne. 1,2 Millionen von ihnen leben noch in Russland. Doch es werden immer weniger. Und viele haben keine Kraft mehr, sich an öffentlichen Veranstaltungen zu beteiligen.
Schüler verkauft Fähnchen – Foto: Ulrich Heyden
Wer Kriegsveteranen persönlich treffen will, muss am 9. Mai in den Moskauer Gorki-Park kommen. Zehntausende Menschen – meist Familien mit Kindern – strömten am Donnerstag in den Park. Auf dem Weg zum Park lief man vorbei an Schülern, die kleine Fähnchen in rot und rot-weiß-blau sowie grüne sogenannte „Piloten-Käppchen“ verkauften. Einer der Verkäufer – ein Schüler – erzählte mir, er habe die Ware selbst gekauft. Durch den Weiterverkauf verdiene er sich etwas dazu.
Gleich nachdem ich das mit großen mit Säulen verzierte Tor des Parkes passiert hatte, traf ich auf die erwachsenen Kinder von Veteranen der „65. Armee“. Im Zweiten Weltkrieg war diese Armee beteiligt an der Befreiung von Stalingrad, Weißrussland, Berlin und Rostock.
Nicht alle deutschen Einheiten im Raum Rostock hätten sich nach der Kapitulation in Berlin gleich ergeben, erzählt Olga Kusnezowa, die sich mit anderen Angehörigen um ein kleines, auf einer Parkbank improvisiertes Büfett versammelt hat. Olga erzählt, „mein Vater, Jewgeni Kusnezow, erklärte sich freiwillig bereit, als Unterhändler zu den Deutschen zu gehen und sie zur Aufgabe zu überreden.“ Das sei gefährlich gewesen. Als Belohnung für diese Heldentat habe ihr Vater von seinen Vorgesetzten ein Akkordeon bekommen. Als ich nachfrage, wem das Akkordeon vorher gehörte, sagt Olga mit einem Lächeln, „es war ein erbeutetes, deutsches Akkordeon.“
Olga mit dem Bild ihres Vaters Jewgeni Kusnetsow – Foto: Ulrich Heyden
Schon seit 1975 treffen sich die Veteranen der 65. Armee mit ihren Kindern, die inzwischen erwachsen sind, immer am 9. Mai im Gorki-Park. Nun führen die Kinder der Veteranen die Tradition der Väter fort. Am Donnerstag war kein einziger Kriegsveteran der 65. Armee mehr im Gorki-Park zu sehen. „Unser letzter Veteran ist in diesem Jahr gestorben“, erzählt Olga.
Es ist also keine Übertreibung von Wladimir Putin, als er am Donnerstag gegenüber dem russischen Fernsehkanal Rossija 24 erklärte, die Feiern zum 9. Mai „wird es immer geben“. Jede Familie hatte im „Großen Vaterländischen Krieg“ Tote zu beklagen. Und es gäbe noch einen anderen Grund, am 9. Mai zu feiern: „Der Sieg war ein großer Triumph.“ Und „die Verbindung zu diesem Triumph spürt man heute noch“.
Die Angehörigen der Kriegsveteranen hatten auf einer Parkbank ein kleines Bankett aufgebaut. Kaum waren wir ins Gespräch gekommen, bekam ich ein Plastikglas mit Cognac und ein Stück Weißbrot mit Braten. Dazu gab es dann noch eine Gurke und Weintrauben. Dass ich aus Deutschland kam, war kein Minuspunkt. Im Gegenteil. Die Menschen, die mich bewirteten, waren davon überzeugt, dass Russland nicht von Deutschland, sondern von Amerika bedroht wird. Deutschland führe nur “amerikanische Befehle“ aus.
Jeder kann eine Geschichte von den Helden in seiner Familie erzählen
Dass sich an den Feiern zum 9. Mai in Russland Millionen Menschen beteiligen, dass es Märsche und Paraden auch in Provinzstädten gibt, hat sicherlich auch etwas damit zu tun, dass sich Russland in den letzten Jahren einem zunehmenden militärischen Druck westlicher Staaten ausgesetzt sieht. Das schweißt die Bevölkerung zusammen. Die Feiern und Märsche am 9. Mai sind da wie eine Vergewisserung, dass man sich auch heute verteidigungsbereit fühlt.
Außerdem hat der Zweite Weltkrieg tiefe Spuren im Leben der Russen hinterlassen. Wen man am 9. Mai im Gorki-Park auch fragt, alle können von Heldentaten ihrer Eltern und Großeltern erzählen.
Eine Familie gedenkt dem Held der Sowjetunion Grigori Tokujew – Foto: Ulrich Heyden
Ich treffe einen etwa 45 Jahre alten Oberst der Reserve, der 25 Jahre lang in der russischen Armee gedient hat und mit seiner Frau und seinem Sohn mit großen Porträts der beiden Großväter in den Park gekommen ist. Der Sohn hält ein großes Porträt von Grigori Tokujew, dem Großvater seiner Mutter. Unter dem Porträt steht die Auszeichnung des Großvaters: „Held der Sowjetunion“. Wie der Großvater zu dieser Auszeichnung kam? „Grigori gehörte einer Sabotage-Gruppe an. Er selbst hat 19 deutsche Eisenbahnzüge durch Sprengungen außer Betrieb gesetzt,“ erzählt der Oberst. Grigori Tokujew sei 1941 als 24jähriger in Weißrussland dreimal in deutsche Gefangenschaft geraten und dreimal sei ihm die Flucht gelungen.
1942 schloss sich Tokujew einer sowjetischen Partisaneneinheit an. Die Partisanen hätten seinem Vater zunächst nicht getraut, erzählt Sergej. „Sie wollten ihn erschießen. Aber ein Partisan kannte ihn und stoppte die Erschießung.“ Im ersten Kampfeinsatz habe man Tokujew keine Waffe gegeben. Die Waffe habe er sich vom Gegner erbeuten müssen. Wie er das gemacht habe? „Im Faustkampf. Er hatte eine spezielle Ausbildung der Luftlandetruppen“.
Der Oberst selbst hält das Porträt seines Großvaters, Nikolai Ljasch, vor der Brust. Der sei vor Stalingrad verwundet worden, in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten und dann in einem Gefangenenlager bei Nürnberg gestorben. „Wir erinnern das Alles. Für uns ist das alles sehr wichtig und wertvoll“, sagt der Oberst. „Gebe Gott, dass sich das nicht wiederholt.“
Irgendwann kommt unser Gespräch dann auf die Situation in Russland. Die Situation in Moskau sei noch gut, sagt der Oberst. In der russischen Provinz sei die soziale Situation aber sehr angespannt. Der russischen Regierung mangele es an Patriotismus, meint der Oberst. Es gehe nicht an, dass die Hälfte der Kinder der Minister im Ausland studieren und sich offenbar mehr zum Ausland hingezogen fühlen als zu Russland.
„Russen und Deutsche gehören zusammen“
Drei Generationen einer Familie auf dem Marsch des Unsterblichen Regiments – Foto: Ulrich Heyden
Nach dem Besuch im Gorki-Park fahre ich zum Weißrussischen Bahnhof, wo sich der Demonstrationszug des „Unsterblichen Regiments“ formiert. Ich sehe Tausende von Menschen, welche mit den Porträts ihrer Angehörigen, die im Zweiten Weltkrieg gekämpft haben, Richtung Roter Platz ziehen.
In der Schlange vor den Metalldetektoren komme ich mit Pawel, einem Lastwagenfahrer, ins Gespräch. Als Pawel hört, dass ich Deutscher bin, erzählt er spontan, er habe den Deutschen erst nicht getraut. 18 seiner Familienmitglieder hätten im Zweiten Weltkrieg gegen die Deutschen gekämpft. Aber als er in den 1990er Jahren in Deutschland war, um einen MAN-Lastwagen zu kaufen, habe er sich mit den Deutschen seines Alters bestens verstanden. „Die einzigen Nationen, die kämpfen können, sind Russen und Deutsche“, meint Pawel. Also kann sich ein Krieg wiederholen?, frage ich. „Nun ja, alles hängt davon ab, wer uns manipuliert. Deutsche und Russen gehören zusammen, aber die Engländer schaffen es immer wieder, uns zu entzweien.“ Diese Meinung ist in Russland weit verbreitet und gehört schon zum politischen Einmaleins.
Als ich durch die Metalldetektoren durch bin und mich in den Demonstrationszug eingereiht habe, komme ich mit einer 40 Jahre alten Frau ins Gespräch, die mit ihren drei Kindern zum „Unsterblichen Regiment“ gekommen ist. Ob es stimmt, dass die Jugend in Russland kein großes Interesse mehr am Sieg über Hitler-Deutschland hat, will ich wissen. Die Frau zeigt mit der Hand auf ein paar Fünfzehnjährige in Sichtweite und sagt, dass die Medien nicht wahrheitsgemäß berichten. Ich erzähle der Frau, dass ich den Deutschen erklären will, warum die Russen immer noch den Sieg über Hitler-Deutschland feiern. „Das können die einfach nicht verstehen“, lautet ihre spontane Antwort. Woher sie das wisse? „Ich arbeite in einer deutschen Firma.“
Angehörige nationaler Minderheiten waren auf dem Marsch in Moskau zahlreich vertreten – Foto: Ulrich Heyden
Um 17 Uhr, die Demonstration ist schon zwei Stunden unterwegs, fängt es stark an zu regnen. Doch die Demonstranten haben sich auf wechselhaftes Wetter eingestellt. Regenschirme werden aufgespannt und weiter geht es Richtung Roter Platz. Am Rande des Demonstrationszuges tragen Musik-Gruppen berühmte sowjetische Lieder aus dem Krieg vor und immer rollt ein „Hurra!“ aus Tausenden Kehlen durch den Zug. Nach offiziellen Angaben beteiligten sich insgesamt 700.000 Menschen an dem Zug vom U-Bahnhof Dynamo vorbei am Weißrussischen Bahnhof bis zum Roten Platz.
Der 9. Mai war und ist für die Russen ein Gedenk- und ein Feiertag, der mit großer Freude und tiefen Gefühlen begangen wird. Es ist kein Tag von Militarismus und Nationalismus. Im Gegenteil. Am 9. Mai erinnern sich die Russen an ihre Verwandten in der Ukraine und Weißrussland. Und im Zug des „Unsterblichen Regiment“ sieht man auch Arbeitsmigranten aus Kasachstan und Tadschikistan. Nicht die russische Trikolore bestimmt das Bild im Demonstrationszug, sondern die rote „Siegesfahne“, die im Mai 1945 in Berlin auf dem Reichstag gehisst wurde.
In einem ZDF-Bericht wurde hämisch herausgestrichen, dass bei der diesjährigen Militärparade keine ausländischen Gäste anwesend waren. Daran sehe man, dass Russland international isoliert sei. Tatsächlich gab es Gäste aus dem Ausland. Auf der Tribüne saß Nursultan Nasarbajew, der ehemalige Präsident Kasachstans und jetzige Vorsitzende des kasachischen Sicherheitsrates. Außerdem auf der Tribüne saß eine Delegation der deutschen Partei „Die Linke“.
Putins Sprecher, Dmitri Peskow, hatte schon Anfang Mai erklärt, man habe keine ausländischen Spitzenpolitiker eingeladen. „Gewöhnlich werden Spitzenpolitiker fremder Staaten zu den Jubiläumsveranstaltungen eingeladen,“ erklärte Peskow. Eine Jubiläumsveranstaltung – zum 75. Jahrestag des Sieges – wird es im nächsten Jahr geben.