„Was ist los mit dir, Europa?“ Papst Franziskus hatte diese Frage den Repräsentanten der Europäischen Union vor drei Jahren in Rom gestellt, als ihm der Karlspreis der Stadt Aachen verliehen wurde. Während der Völkerwanderung, im Mittelalter und in der Renaissance riefen die römischen Päpste weltliche Mächte um Hilfe, einfallende Barbaren, Söldnertruppen oder nationale Armeen, die in den Kirchenstaat eingefallen waren, zu vertreiben. Die Zeiten haben sich geändert. Die Präsidenten und Regierungschefs der Europäischen Union suchen Rat beim kirchlichen Kollegen. Aber ist der Papst überhaupt die zuständige Adresse?
Die Mitglieder einer säkularen Gesellschaft, die nicht mehr durch eine religiöse oder moralische Klammer zusammengehalten wird, sind nämlich selbst verpflichtet, sich darüber zu verständigen, was sie einander schulden. Diese Aufgabe können sie nicht einer religiösen Instanz oder einem wohlwollenden äußeren Beobachter überantworten. Der Versuch, eine europäische Identität zu formulieren, indem sie dafür das Etikett eines christlichen Abendlands, das auf den drei Säulen: Athen, Rom, Jerusalem ruht, einer Wertegemeinschaft oder eines jüdisch-christlichen Kulturerbes, ausbuchstabieren, wirkt ziemlich hilflos.
Wen oder was meint Papst Franziskus mit dem Begriff: „Europa“? Dieses griffige Kürzel wird von prominenten Politikern und den Medien eifrig nachgeplappert. Emmanuel Macron, die CDU-Vorsitzende, Parteigrößen und selbst der DGB reden unablässig von „Europa“. Meinen sie den Kontinent, der keine eindeutigen Grenzen hat? Ein geographisches Feld auf dem Globus, das durch Längs- und Breitengrade verortet wird? Eine politische Vision vom Atlantik bis zum Ural? Oder lediglich die Europäische Union und deren Organe – Kommission, Parlament und Ministerrat – und außerdem den Europäischen Rat der Regierungschefs der Mitgliedsländer? Also ein Konstrukt von Institutionen, das aus ursprünglich souveränen Nationalstaaten und einem supranationalen Rechtssubjekt besteht, dem die Nationalstaaten einen Teil ihrer Souveränität übertragen haben. Ganz konkret geht es in den nächsten drei Wochen um die Wahl zum Europäischen Parlament, das aus einer relativ unbedeutenden Rolle herausgewachsen und seit einigen Jahren mehr und mehr in die Entscheidungsprozesse der politischen Organe der Union einbezogen worden ist. In den Rang einer souveränen Repräsentanz der Bürgerinnen und Bürger von Nationalstaaten und zugleich europäischen Bürgerinnen und Bürgern ist es indessen immer noch nicht gerückt.
Um diese Wahl verbreiten die Politiker und die Medien eine ungewöhnliche Alarmstimmung. Andrea Nahles redet von einer „Schicksalswahl“. Christian Lindner bestätigt: „Auf jeden Fall“ haben die EU-Wahlen ein solches Gewicht. Macron lässt die Trümmerfrauen von 1945 plakatieren, die CDU bildet in Schwarz-Weiß das zerschossene Reichstagsgebäude ab. Dabei geht es gar nicht um Krieg und Frieden. Manfred Weber, den sich die bürgerlich-konservative Parteienkonstellation im EU-Parlament als nächsten Präsidenten der Kommission wünscht, beschwört 2019 sogar als ein „Schicksalsjahr für Europa“. Bisher galten die Wahlen zum EU-Parlament als nachrangig. Dass es eine souveräne Volksvertretung sei, wurde bezweifelt. Nun aber bedroht die Parlamentswahl angeblich die Existenz der christlichen oder gar der modernen Zivilisation.
Der Wahlkampf ist vergiftet durch ein überzogenes Lagerdenken, durch eine imaginäre militärische Schlachtordnung. Pro-Europäer kämpfen gegen Anti-Europäer, Liberale gegen Autoritäre, die Parteienkonstellation links oder rechts von der Mitte attackiert Populisten, Nationalisten und Rechtsextreme. Seltsam ist nur, dass die Gesten, Deutungsmuster, Argumente und Kampfbegriffe der jeweiligen Gegner im nationalen wie europäischen Raum einander zum Verwechseln ähnlich sind. Verfeindete Gruppen stimmen in das Kampfgeschrei ein: „Wir, und wir allein“ gegen „Euch, die Fremden“. Ich erinnere mich daran, wie die Alt-Parteien und deren Sympathisanten die jeweils neuen „Eindringlinge“ drangsaliert und schikaniert haben: In den 1950er Jahren sprach ein Bischof, der im CDU-Milieu daheim war, den Katholiken das Recht ab, SPD zu wählen. In den 1980er Jahren galt das Tischtuch zwischen katholischer Kirche und den Grünen zerrissen; der hessische Ministerpräsident Holger Börner drohte den Grünen mit der Dachlatte. Wie früher die Grünen und später die Linken werden nun die gewählten Parlamentarier der AfD ausgegrenzt, indem dreimal drei ihrer Kandidaten das Recht verweigert wurde, das Amt des Bundestagsvizepräsidenten zu übernehmen.
Die Heeresdisziplin und Kriegssemantik der etablierten Parteien erzeugt eine dogmatische Erstarrung. Sie verhindert, gelöst alternative Zielsetzungen zu erwägen, Demarkationslinien zu relativieren und auf die Anliegen der Gegner hinzuhören – wenigstens auf den Kern dessen, worin sie Recht haben. Auch die Aporien der eigenen Mittelwahl werden verdrängt. Die Angst, vom Gegner umklammert zu werden, sowie die panische Sorge um Sicherheit überwuchern eine gelassene, innere Balance. Stattdessen wird an einer zerbrechlichen Identität gezimmert, werden Zäune gezogen, Mauern errichtet und rote Linien verteidigt. Die gesamte intellektuelle und emotionale Energie ist auf Abwehr und Unterwerfung des Gegners gerichtet.
Die unversöhnliche Rivalität und der exzessive Blindflug im Wahlkampf lassen sich entschärfen – durch Analyse, Empathie und Verständigung. Die von Tony Blair und Gerhard Schröder zu Beginn des neuen Jahrhunderts vertretene Hypothese, dass ein breiter Parteienkonsens in der politischen Mitte jener Rechts-Links-Polarität vorzuziehen sei, sowie der Rückbau des Sozialstaats, der Verzicht auf die staatliche Einbettung einer kapitalistischen Wirtschaft und die Übernahme einer moderierenden Funktion der Regierung innerhalb eines multilateralen sozio-ökonomischen Netzwerks haben zu den vertikalen und horizontalen Rissen in der Gesellschaft, zur Wahlmüdigkeit abgehängter Bevölkerungsgruppen und zum Erstarken populistischer Bewegungen beigetragen. Zudem hat die Tendenz der ehemaligen Volksparteien, zugleich mit dem Drang in die Mitte ihre politischen Optionen einander anzugleichen, wiederholt große Koalitionen zu akzeptieren und so oppositionellen Widerstand kleinzuhalten, jene bürgerlich-konservative Bevölkerungsgruppen erheblich verunsichert.
Ein fairer und empathischer Umgang mit populistischen und rechtsextremen Bewegungen wird scheitern, wenn darin eine moralisierende Dichotomie zwischen liberal-aufgeklärten Bürgerinnen oder Bürgern und irrationalen Populisten konstruiert wird. Und wenn der Rechtspopulismus auf soziale Ungleichheit und erodierende Arbeitsverhältnisse oder auf symbolische Zuschreibungen von Kultur, Religion und ethnischem Profil reduziert bleibt. Zudem sind im Rechtspopulismus ökonomische und kulturelle Strukturen sowie subjektive Ausdrucksformen der Ab- und Aufwertung miteinander verzahnt; sie entladen sich in Verteilungs- und Kulturkonflikten. Ebenso wenig wird der Versuch, fremde Argumente anzuhören und zu erwägen, ohne ein erhebliches Maß an Selbstreflexion und Selbstkritik gelingen, zumal die selbsternannte gesellschaftliche Mitte und die so genannten demokratischen Parteien selbst Bestandteil jener Verhältnisse sind, in die sie die Anderen am Rand, die ihnen fremd vorkommen, hineingedrängt haben.
Die überdehnte parteipolitische Konfrontation, wie sie in den nationalen Kontexten aufschäumt, wird das EU-Parlament wohl nicht erleben, selbst wenn sich die Gruppierungen rechts von der bürgerlich-konservativen Konstellation ausbreiten sollten. Experten prognostizieren, dass das EU-Parlament weiterhin eine Art Wimmelbild bleibt. Zudem erblickt gemäß einer Studie, die auf repräsentativen Umfragen in 14 Mitgliedsländern beruht, eine Mehrheit der Befragten zwischen der eigenen nationalen Identität und dem Selbstverständnis als europäische Bürgerinnen und Bürger keinen Gegensatz. Nur ein Viertel sieht ihre nationale Identität als vorzugswürdig an. Besonders ausgeprägt ist die Identifizierung mit der EU in Ungarn, Rumänien und Polen. In Deutschland hat die Mehrheit eine positive Einstellung zur EU, bei den Jüngeren sind es sogar zwei Drittel. Aber nur neun Prozent haben den Eindruck, dass die EU sich in einem guten Zustand befinde. Sie wünschen eine Veränderung, eine andere EU.
Nicht nur die europäischen Bürgerinnen und Bürger, sondern auch die so genannten Populisten und Nationalisten wollen keine Zerschlagung oder einen Austritt ihrer Länder aus der EU. Sie fordern eine andere Organisation und veränderte Institutionen. Extrem parteipolitische Richtungen unterscheiden sich darin, dass die einen sich dagegen sträuben, Kompetenzen zentral zu bündeln und nationale Parlamente intensiver zu kontrollieren, während die anderen eine Art Vereinigte Staaten von Europa im Sinn einer europäischen Republik herbeisehnen. Die einen warnen vor einer imperialen Machtkonzentration, die anderen tragen die Fahne: „Europa ist die Antwort“ vor sich her, ohne zu erklären, wie die Frage und die Antwort lautet.
Die Wahlen zum europäischen Parlament sollten auf längere Sicht hin dazu beitragen, dass der Schlamassel zweier Verfahren aufgelöst wird, der die Entscheidungsprozesse der EU durchkreuzt und häufig blockiert. Die von Angela Merkel formulierte „Gemeinschaftsmethode“, nämlich die ordentliche Gesetzgebung unter Beteiligung von Kommission, EU-Parlament und Ministerrat konkurriert mit der „Unionsmethode“, den einstimmigen Beschlüssen des Europäischen Rates, der zwar über keine Gesetzgebungskompetenz verfügt, sich aber inzwischen die Funktion einer Quasi-Exekutive angemaßt hat. Ein vergleichbarer Schlamassel entsteht durch das Nebeneinander von vier kollektiven Akteuren, die jeweils für sich eine Letztkompetenz beanspruchen: erstens des Europäischen Rats; zweitens jener Staaten der Eurozone, die völkerrechtliche Verträge jenseits des Unionsrechts vereinbaren; drittens der Organe der ordentlichen Gesetzgebung; und viertens der Europäischen Zentralbank als letzten Stabilitätsankers der Währungs- und Sozialunion. Zudem flackert hin und wieder eine Debatte über eine EU der zwei Geschwindigkeiten auf, mit einer Kernzone wirtschaftlich leistungsstarker Länder und einer Peripherie leistungsschwacher Länder. Sie beschwört ein Szenario herauf, das eine Dualität und Distanz zwischen „Drinnen“ und „Draußen“ anzeigt und in Spannungen, Konflikten und Trennungen enden würde.
Wieso zerbricht die EU nicht trotz ihres Krisenmodus als eines Dauerzustands? Wegen einer „schwingenden Architektur“, die verhindert, dass Verknotungen nicht wie vom großen Alexander durchgehauen, sondern nachsichtig und behutsam aufgelöst werden. Aber auf lange Sicht leidet darunter die Rechtssicherheit und eine gleitende Entfremdung der Mitgliedsländer und Nationalstaaten. Die EU ist ein „Staatenverbund“, eine Mehrebenen-Demokratie, „ein sich ergänzendes, ineinandergreifendes System von Demokratien verschiedener Reichweite und Zuständigkeiten, eine national-europäische Doppeldemokratie“ (W. Schäuble). Träger der ursprünglichen Souveränität sind die Nationalstaaten, die einen Teil ihrer Kompetenzen und deren Reichweite an ein supranationales Rechtssubjekt übertragen haben. Deshalb muss die Zuordnung der Kompetenzen zwischen der supranationalen und nationalen Ebene fair ausbalanciert werden und bleiben. Eine solche „freie Republik souveräner Staaten“ ist nach Immanuel Kant die Gewähr ewigen Friedens. Deshalb ist auf längere Sicht die Ausarbeitung einer Verfassung für den Fortbestand der EU unverzichtbar. Nationale und europäische Bürgerinnen und Bürger wählen in grenzüberschreitenden Wahlen ein europäisches Parlament als ihre souveräne Repräsentanz. Dies wählt eine Exekutive. Eine Länderkammer aus staatlichen Organen und zivilgesellschaftlichen Vertretern sowie ein Gerichtshof sind weitere EU-Organe. Der Charme des Nationalen liegt in der primären Souveränität, in der Garantie der Sicherheit des Rechts, Grund- und Menschenrechte zu haben. Die Anziehungskraft der Region liegt in der vom Boden her organisch gewachsenen emotionalen Bindung der Bürgerinnen und Bürger.
Gegen unnötige Dramatik und Großalarm gilt der Rat von Matthias Krupa: „Bleib cool, Europa“ (Die Zeit).
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