Aleppo nicht vergessen

Aleppo nicht vergessen

Aleppo nicht vergessen

Rüdiger Göbel
Ein Artikel von Rüdiger Göbel

Syriens Christen erinnern an den Ostertagen an zwei verschleppte Bischöfe. Mor Gregorius Yohanna Ibrahim, Erzbischof der syrisch-orthodoxen Kirche, und Boulos Yazigi, Erzbischof der griechisch-orthodoxen Kirche, waren am 22. April 2013 auf dem Weg zu Verhandlungen über die Freilassung eines entführten Priesters bei Aleppo entführt worden. Nach sechs Jahren bangen Wartens gibt es immer noch kein Lebenszeichen von den beiden. Der Bamberger Erzbischof Ludwig Schick bittet nach seiner Rückkehr von einer Syrien-Reise darum, die Menschen in dem kriegszerstörten Land nicht zu vergessen. Von Rüdiger Göbel.

Als Vorsitzender der Kommission Weltkirche der Deutschen Bischofskonferenz war Schick erst in der vorvergangenen Woche mit einer Delegation in Syrien, um Kriegsopfern und den Kirchen in dem Land ihre Solidarität auszudrücken. Vier Tage war er mit dem für internationale Angelegenheiten zuständigen Bischof der Polnischen Bischofskonferenz, Erzbischof Tadeusz Wojda, in dem vom Krieg gezeichneten und zerstörten Land. Zur Reisegruppe gehörten auch der Leiter von Caritas International,  Dr. Oliver Müller, und der Direktor der Caritas Polska, Pfr. Marcin Izycki. Die Gruppe hat vor Ort mehrere Caritas-Projekte besucht, für die die Bischofskonferenzen beider Länder eine gemeinsame Schirmherrschaft übernommen haben. Durch die Hilfsmaßnahmen erhalten Familien im stark zerstörten Ostteil von Aleppo Nahrungsmittel und Güter des täglichen Bedarfs. Kinder, die während der jahrelangen militärischen Kämpfe um die von islamistischen Kampfgruppen besetzten Bezirke keine Schule besuchen konnten, bekommen die Möglichkeit, ergänzenden Unterricht zu besuchen, um Grundkenntnisse in elementaren Fächern Arabisch, Englisch und Mathematik zu erlangen. Ein Mikrokredit-Projekt vermittelt Darlehen für den Aufbau von Handwerksgewerbebetrieben.
 
Auf der Homepage des Erzbistums Bamberg und im Weltkirche-Blog von katholisch.de hat Ludwig Schick seine Eindrücke aus Syrien ausführlich geschildert. Die kirchlichen Nachrichtenagenturen KNA und epd haben in mehreren Meldungen und Interviews über die Reise berichtet. Eine einfache Google-Recherche zeigt: Nicht eine deutsche Zeitung hat die Informationen des Bamberger Erzbischofs aufgegriffen und die Informationen aus erster Hand weitergegeben.
 
Zu den prägendsten Eindrücken in Syrien habe gehört, so Schick, „wie stark sich die Christen vor Ort für die ärmsten und schwächsten Menschen im Land einsetzen“. Die Projekte, die er und seine Gruppe in Aleppo hätten besuchen können, „lassen eine tiefe Nächstenliebe spüren, die in die ganze Gesellschaft ausstrahlt. Darüber hinaus haben wir gehört, wie Pfarrer, Ordensfrauen und Ordensmänner auch in extremen Situationen während des Krieges bei ihren Gemeinden ausgeharrt haben. Einige von ihnen, wie der Jesuit Frans van der Lugt, haben dafür mit ihrem Leben bezahlt.“
 
Erschüttert haben Erzbischof Schick „aber vor allem das Elend, in dem besonders Frauen und Kinder in der weitgehend zerstörten Stadt hausen und ums Überleben kämpfen. Sie brauchen viel Hilfe. Die Männer fehlen, weil sie im Krieg gefallen, beim Militär eingezogen oder im Ausland sind.“
 
Die meisten Menschen im Osten Aleppos, einem „Trümmerfeld“, so Schick, hätten keine Elektrizität und kein fließendes Wasser. Die Caritas Syrien versorge mit Hilfe von ausländischen Caritasorganisationen diese Menschen mit Nahrungsmitteln, Hygieneartikel und Medizin, sie könnten sonst nicht überleben. „Um was sie uns besonders baten, waren Wassertanks, damit sie, wenn Wasser gebracht wird, Gefäße haben, in denen sie es für acht und mehr Tage sauber aufbewahren können, bis der nächste Wassertransport kommt.“
 
In den wenigen noch einigermaßen brauchbaren Gebäuden habe die Caritas Aufenthaltsmöglichkeiten für die Kinder eingerichtet, wo sie auch einen Elementarunterricht in den drei Fächern Arabisch, Englisch und Mathematik bekommen. „Alle hoffen, dass in absehbarer Zukunft der normale Unterricht in regulären Schulen wieder stattfinden kann. Viele dieser Kinder sind in all den Kriegsjahren nicht zur Schule gegangen. Die Caritas will helfen, dass sie keine verlorene Generation werden.“
 
ZDF-Korrespondent Uli Gack hat am Mittwoch abend in einem bewegenden, aber viel zu seltenen Bericht im Auslandsjournal über die Straßenkinder von Aleppo die Schilderungen Schicks über das himmelschreiende Elend bekräftigt. (Ab Min. 14:30)
 
Noch sei der Krieg nicht ganz vorbei, warnt der Bamberger Erzbischof in seinem Reise-Bericht . Auch wenn der IS offiziell besiegt sei, gebe es doch immer wieder aus Idlib, einer von islamistischen Kampfgruppen gehaltenen Stadt, Raketenbeschuss auf Aleppo. „Ich hatte zwar keine Angst, aber doch ein unruhiges Gefühl. Denken musste ich aber immer wieder und sagte es auch: Wir werden wahrscheinlich Syrien wieder heil verlassen können, aber die Menschen hier ertragen den Krieg seit 2011, der nicht zu Ende ist; Nachhutgefechte gibt es immer wieder und wie es weiter geht, weiß niemand. Angst und Sorgen bestimmt ihr Leben seit Jahren. Viele sind traumatisiert.“
 
Syriens Wirtschaft liege am Boden und verschlechtere sich weiter. Von bürgerlichen Freiheiten sei das Land weit entfernt. Angesichts der mehr als 13 Millionen Syrer, die auf humanitäre Hilfe angewiesen und über elf Millionen, die aus ihrer Heimat vertrieben worden oder geflohen seien,, mahnt Schick: „Die Weltgemeinschaft ist gefordert.“ Konkret: Der Erzbischof fordert eine kritische Überprüfung der Sanktionspolitik der Europäischen Union. „Gerade die Ärmsten und Verletzlichsten dürfen nicht unter ihren Folgen leiden.“ Die Weltgemeinschaft dürfe das Leid der Bevölkerung nicht vergessen, auch wenn mit dem militärischen Sieg der Regierung der Krieg zunächst einmal auf ein Ende zuzugehen scheine. Die Menschen in Syrien „brauchen Solidarität, um die große wirtschaftliche Krise zu bewältigen. Investitionen in den Aufbau von Wohnungen, der Infrastruktur und der Wirtschaft sind gefordert.“ Entwicklung und Wiederaufbau würden letztlich aber nur gelingen, wenn sie mit Prozessen gesellschaftlicher Versöhnung verbunden werden. „Die internationale Gemeinschaft, darunter auch Deutschland, kann und soll sich dafür einsetzen, dass solche Prozesse angestoßen werden.“
 
Überproportional viele Christen hätten das Land in den vergangenen Jahren verlassen, konstatiert Schick. „Sie waren oft gut ausgebildet, gehörten der Mittelschicht an und verfügten über internationale Netzwerke. Sie haben Kapazitäten für das Land. Auf der anderen Seite treibt sie die Sorge um die Zukunft ihrer Kinder um. Deshalb verlassen sie das Land. Wenn sich die Lage bald grundlegend verbessert, kommen hoffentlich etliche wieder zurück.“
 
Vor Ort werde das aber von vielen bezweifelt. Auf großen Optimismus, dass das Land seine schwere Krise in näherer Zukunft überwinden kann, sei er nirgends gestoßen. „Die ethnischen und konfessionellen Gruppen, die jahrelang im Kampf gegeneinander gestanden haben, müssen wieder zueinander finden und sich versöhnen. Das wird dauern.“ Zunächst, so Schick, müsse die im freien Fall befindliche Wirtschaft stabilisiert werden. „Nur so kann die grassierende Armut abgemildert werden und Hoffnung auf Zukunft aufkeimen. Mittel- und langfristig braucht es aber sehr viel mehr, damit Syrien eine gute Zukunft aufbauen kann: echte Bemühungen um eine inklusivere Gesellschaft, in der sich die verschiedenen Gruppen zu Hause fühlen und die Einzelnen ein höheres Maß an Freiheit genießen.“
 
Die Reise sei notwendig gewesen, bilanziert Schick, „um Solidarität zu zeigen und den Syrern aller Ethnien und Religionen zu versichern, dass sie nicht allein sind. Wir nehmen an ihrem Schicksal teil, setzen uns mit ihnen für Versöhnung und Frieden ein, wir beten mit ihnen und für sie, wir helfen mit materieller und finanzieller Unterstützung zum Wiederaufbau.“ Mit Blick auf Ostern bitte und bete er, „Syrien möge auferstehen zum neuen Leben, zur Einheit in Versöhnung und Frieden und zum Wohlergehen aller für eine bessere Zukunft.“
 
Das Bitten und Beten aus Bamberg wird in Berlin und Brüssel nicht erhört. Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister Heiko Maas lehnen die Aufhebung der Wirtschaftssanktionen und Wiederaufbauhilfe für Syrien entschieden ab. Die EU-Sanktionen gegen Syrien traten erstmals am 1. Dezember 2011 in Kraft und werden regelmäßig verlängert. Erst im März waren die Strafmaßnahmen ausgeweitet worden. Die nächste Überprüfung steht bis zum 1. Juni an.

Titelbild: Din Mohd Yaman/shutterstock.com

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