Sehen, denken und handeln: Darauf wird es ankommen, wenn wir als Bürger nicht Opfer einer Medienberichterstattung werden wollen, die nach zweierlei Maß misst. Sehen, denken und handeln: Darauf kommt es an, wenn wir als Bürger verstehen wollen, was sich um uns herum wirklich an politischen Entwicklungen vollzieht. Das findet Alexander Unzicker, Physiker und Jurist, der sich Gedanken darüber gemacht hat, wie es uns gelingen kann, von der Flut an Informationen, die sich jeden Tag ihren Weg durch die Medien bahnt, nur das wirklich Relevante aufzunehmen. Im Interview mit den NachDenkSeiten verweist auf Unzicker auf die Gefahr, dass wir als Bürger die „langsamen Verschiebungen des Wertesystems“ nicht wahrnehmen und er stellt einen „besorgniserregenden Zustand“ im Hinblick auf die Irrationalität im Denken fest. Von Marcus Klöckner.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download
Herr Unzicker, Sie bezeichnen den Zustand unserer Medien als „besorgniserregend“. Warum?
Zunächst gibt es eine unglaubliche Verflachung und Emotionalisierung in der Berichterstattung, es wimmelt von Überschriften „Skandal, Empörung, Eklat, Entsetzen“ und so weiter, ohne Substanz. Es ist furchtbar. Viele Meldungen drehen sich nur darum, dass irgendjemand etwas gesagt hat und jemand anderes sich darüber aufregt. Generell sehe ich eine Tendenz zur Irrationalität.
Was stellen Sie noch fest?
Die Medien versagen bei der Auswahl der relevanten Informationen, aber noch schlimmer ist, dass die Auswahl der politischen Nachrichten danach erfolgt, was gerade in die Geschichte passt, die sie erzählen wollen. Die doppelten Maßstäbe, auch in der Sprache, kann ja jeder täglich mit Händen greifen. Insofern sind viele Medien schon in einem verkommenen Zustand, so dass man sich über manche Absurditäten, wie etwa im Fall Skripal, schon nicht mehr wundert.
Wie haben Sie denn die Berichterstattung zum Fall Skripal konkret wahrgenommen?
Bizarr. Einerseits, wie gesagt, eine Irrationalität, bei der von offizieller Seite bzw. deren medialer Wiedergabe überhaupt nicht mehr der Versuch gemacht wird, eine logisch kohärente Geschichte zu erzählen. Unabhängig von diesen Details, die man etwa auf dem Blog von Craig Murray, einem britischer Ex-Diplomaten, nachlesen kann, gibt es aber einen noch gravierenderen Aspekt. Das Ganze ist, nüchtern betrachtet, ein Kriminalfall. Ihm mit den Begriffen „militärischer Kampfstoff“ oder „Einsatz von Massenvernichtungswaffen auf NATO-Territorium“ eine politische, ja militärische Dimension anzudichten, ist meines Erachtens geisteskrank. Aber diese Haltung der westlichen Regierungen haben die Medien kritiklos übernommen.
Was ist mit Medien los, die auf diese Weise berichten?
Vor dieser Frage stehe ich auch ziemlich ratlos. Der britische Pazifist Sir Arthur Ponsonby hat schon vor hundert Jahren die „Prinzipen der Kriegspropaganda“ beschrieben , die man heute so oft wiederfindet, dass man sich fragt, ob wir uns nicht schon halb im Krieg befinden.
Ist die Situation so schlimm?
Jedenfalls ist es befremdlich, mit welcher Selbstverständlichkeit zum Beispiel Militärstrategien in Mitteleuropa diskutiert werden. So als wäre ein konventioneller Krieg nicht auch schon kompletter Wahnsinn. Vor allem aber fragt man sich: ist den Leuten eigentlich klar, dass wir in einer atomar hochgerüsteten Welt mit einem nuklearen Winter die Auslöschung unserer ganzen Art, genannt Homo sapiens, riskieren? Nach Milliarden Jahren von Evolution wäre dies schon ein besonderer Fall von kollektiver Blödheit. Die Naturwissenschaften haben, wenn Sie so wollen, die Voraussetzungen dafür geschaffen, und so spüre ich als Physiker eine gewisse Verantwortung, darüber aufzuklären. Ganz ernsthaft: wir brauchen für die Zukunft ein Denken, das Kriege unmöglich macht – eine Forderung von Albert Einstein.
Sie sehen Probleme aber nicht nur bei den Medien. Sie sprechen in Ihrem Buch überhaupt von einer Krise unserer Zivilisation. Woran machen Sie diese fest?
Es gibt verschiedene Aspekte. Ganz sicher überfordert zum Beispiel die moderne Informationsgesellschaft unsere Gehirne. Es gibt vieles, bei dem sich unser Denkapparat nachweislich irrational verhält, etwa bei der Überbewertung aktueller Ereignisse der Gegenwart. Das ist auch einer der Punkte, wo es auffallende Parallelen zwischen Gesellschaft und Wissenschaft gibt. Der übermäßige Fokus auf die Gegenwart führt dazu, dass langsame Verschiebungen des Wertesystems nicht wahrgenommen werden. In der Politik erkennt man dies, wenn man ehemaligen Insidern zuhört, sei dies nun Willy Wimmer, Albrecht Müller oder auch Ray McGovern. Die finden die gegenwärtige Politik oft gleichermaßen absurd. Die Wissenschaft ist aber von solchen Phänomenen nicht ausgenommen. Daher plädiere ich dafür, Einstein, Dirac oder Schrödinger zuzuhören, auch wenn man Ihre Ansichten aus Biographien ermitteln muss. Die Wissenschaft hat längere Zeitskalen, aber ähnliche Muster.
Wie meinen Sie das?
Die Methode des Experimentierens und Beobachtens ist sehr erfolgreich. Dies ändert aber nichts daran, dass die Interpretation der Ergebnisse innerhalb einer vorherrschenden Erzählung – Thomas Kuhn nannte es Paradigma – erfolgt, also ein soziologischer Prozess ist.
Wissenschaft, auch wenn sie das gerne vorgibt, ist also auch nicht frei von Modeerscheinungen und Gruppendenken. Man nimmt die Realität durch eine bestimmte Brille wahr, die natürlich von dem historischen Rahmen bestimmt ist. Das gilt für die Astronomen im Mittelalter ebenso wie für das CERN heute. Wenn man Naturwissenschaft historisch-methodisch betrachtet, ist es klar, dass die komplizierten Modelle der physikalischen Grundlagenforschung in einer Sackgasse sind und manche Theoretiker sich in einer mathematischen Ideologie verlaufen haben.
Was bedeutet das für uns als Gesellschaft?
Man darf nicht vergessen, dass Wissenschaft und Technologie unsere Zivilisation auf lange Sicht mehr bestimmen als Politik oder gar Kriege. Es kann also durchaus sein, dass die Überlebenschancen von Homo sapiens auf diesem Planeten davon abhängen, wie gut er fundamentale Naturgesetze verstanden hat. Insofern ist hier intellektueller Stillstand schon bedenklich. Aber es gibt natürlich aktuellere Gefahren.
Wie die NachDenkSeiten auch, plädieren Sie dafür, dass Menschen über diese politischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge verstärkt nachdenken bzw. ihren Verstand gebrauchen. Welche Vorgehensweise empfehlen Sie?
Ihr Magazin hat in der Tat einen sehr passenden Namen gefunden für das, was man mit Nachrichten tun sollte. Mein Bild ist eine Art Pyramide, die schon mit einer dosierten Aufnahme der Information beginnt, diese gründlich reflektiert und dann auch Konsequenzen daraus zieht. Denn im Verhältnis zu dem, was wir am Ende in Handlungen umsetzen, nehmen wir eigentlich viel zu viel Information auf. Das Problem habe ich auch an mir selbst festgestellt und versucht, es systematisch anzugehen. Das Buch gliedert sich daher in drei Teile: Sehen-Denken-Handeln.
Was meinen Sie mit „sehen“?
Allgemein geht es um Wahrnehmung. Wie formen wir aus unvollständigen, möglicherweise falschen, verzerrten Informationen ein Weltbild? Eine Strategie ist, möglichst nahe an die Rohdaten zu gehen, die Schwierigkeiten der Wahrheitsfindung anzuerkennen und nüchtern Wahrscheinlichkeiten zu betrachten, ohne sich zu sehr darum zu kümmern, ob etwas möglicherweise gelogen ist oder nur unglaubwürdig.
Und denken?
Hier geht es vor allem darum, die eigenen kognitiven Illusionen zu kennen, wie zum Beispiel manche Tabus, die effizienter zensieren als jeder totalitäre Staat. Und natürlich ist es ein Plädoyer für unabhängiges Denken. Das bedeutet nach Immanuel Kant den Mut zu entwickeln, sich seines Verstandes ohne Anleitung anderer zu bedienen. Konkret: wir brauchen zum Beispiel kein Verbot von „Fake News“ – sondern schlicht Aufklärung.
Schließlich gilt es, zu „handeln“.
Zweifellos das Schwierigste! Als einfacher Bürger hat man wohl den größten Einfluss durch sein Konsum- und Verbraucherverhalten. Bringt man das in Einklang mit seinen Vorstellungen, ist schon viel gewonnen – obwohl dies natürlich nur eine Variation von Kants kategorischem Imperativ ist. Man muss aber auch einsehen, dass als Nicht-Entscheidungsträger die Einflussmöglichkeiten begrenzt sind. Alles andere wäre irrational.
Wie sollten Bürger vorgehen, die sich mit politischen Entscheidungen nicht zufriedengeben möchten?
Zunächst haben wir zumindest in der Theorie noch einen Staat mit einem weltweit fast einzigartigen Individualrechtsschutz. Auf den gilt es aufzupassen, denn die Gefahren für den Rechtsstaat, wie ihn das Grundgesetz vorsah, sind mit Überwachung, Einschränkung von Bürgerrechten, beginnender Zensur usw. allgegenwärtig. Diese schleichenden Entwicklungen sind schlimmer als mancher Skandal.
Im Extremfall wie einer unmittelbar drohenden Kriegsgefahr sind vielleicht ein Generalstreik und Demonstrationen sinnvoll, aber generell bin ich skeptisch, weil derartiger Aktionismus auch wieder in die Fokussierungsfalle des Hier und Jetzt tappt. Das Modell der französischen Revolution taugt, glaube ich, nicht für die Gegenwart, weil wir gerade bei globalen Problemen intelligentes, überlegtes Handeln brauchen. Auf lange Sicht sind positive Veränderungen am ehesten durch die Einsicht von Entscheidungsträgern denkbar. Die Hoffnung darauf sollte man nicht aufgeben, auch wenn es schwerfällt. Nötig ist dazu aber eine Kultur, den Mächtigen die Wahrheit ungeschminkt ins Gesicht zu sagen, übrigens ein wiederkehrendes Thema bei Friedrich Schiller. Ich bin ein großer Fan von ihm. Freiheit, Recht, Frieden und der Gebrauch des Verstandes hängen ziemlich eng zusammen.
Lestipp: Unzicker, Alexander: Wenn man weiß, wo der Verstand ist, hat der Tag Struktur. Anleitung zum Selberdenken in verrückten Zeiten. Westend Verlag. März 2019. 256 S., 22 Euro.