NATO-„Jubiläum“: Fest der Propaganda und mediales Armutszeugnis

NATO-„Jubiläum“: Fest der Propaganda und mediales Armutszeugnis

NATO-„Jubiläum“: Fest der Propaganda und mediales Armutszeugnis

Tobias Riegel
Ein Artikel von: Tobias Riegel

Die Berichterstattung über den NATO-Jahrestag verweigert die kritische Auseinandersetzung mit der Bündnis-Geschichte. Damit haben sich die großen deutschen Medien bei dem Thema einmal mehr für irrelevant erklärt – sowohl was die Betrachtung der Vergangenheit betrifft als auch die Entwürfe einer strategischen Zukunft. Mit diesem Verhalten wird der Vertrauensverlust in die Medien nicht gebremst. Von Tobias Riegel.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Dass die Berichterstattung zum 70. Jahrestag der NATO-Gründung verzerrt und verkürzt ausfallen würde, war zu erwarten. Das Maß aber, in dem in den vergangenen Tagen durch Auslassungen, Übertreibungen und Geschichtsvergessenheit Stimmung für das „Verteidigungs“-Bündnis und gegen den konstruierten Gegner Russland betrieben wurde, hat dann doch überrascht.

Dabei wäre das „Jubiläum“ der NATO und die dadurch erzwungene Rückschau auf die Vergehen des Bündnisses eine gute Gelegenheit für einige Medien gewesen, verlorenes Vertrauen wiederzugewinnen: Indem sie die NATO-Delikte gegen das Völkerrecht als solche bezeichnen. Und indem sie das Mittun der Medien an diesen Delikten skandalisieren – denn ohne journalistische Vorbereitung und Begleitung wären etwa die Kriege gegen Jugoslawien und Afghanistan nicht durchsetzbar gewesen. Doch diese Gelegenheit wurde in den vergangenen Tagen vertan, die großen Medien haben sich weitgehend dafür entschieden, die dunklen Flecken in der NATO-Historie und den Medien-Anteil daran zu unterschlagen – ein Armutszeugnis.

Geschichtsklitterung zur NATO

Welche schweren Delikte und welche moralischen Unstimmigkeiten sich in der Geschichte der NATO verbergen und in welch grellem Kontrast diese sich von den selbstformulierten Grundsätzen abheben, kann man dagegen in diesem aktuellen Text von Wolfgang Bittner erfahren, der etwa feststellt, dass „sich das Nordatlantische Verteidigungsbündnis mehr und mehr zu einem aggressiven Angriffsbündnis entwickelt hat, das – unter Missachtung ihrer Statuten – von den USA für ihre Imperialpolitik benutzt und missbraucht wird“. Eine solch angemessene Bilanzierung sucht man in den großen deutschen Medien vergeblich. Stellvertretend für die statt dessen in weiten Teilen praktizierte Geschichtsklitterung beim Thema NATO kann etwa diese unzureichende „Zusammenfassung“ in der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ) stehen:

„Die Nato war das ausführende Instrument dieser Sicherheitsarchitektur, durch die ein Gebäude aus gemeinsamen Werten und Interessen entstand. Wer sich unter dem Schirm der Nato versammelte, bekannte sich in der Regel zu einer liberalen Werteordnung und zur Demokratie.“

Dass etwa die NATO-Mitglieder Türkei, Griechenland oder Spanien einst Militärregierungen hatten, also kaum für Demokratie und andere Werte standen, wurde laut SZ wettgemacht durch das große strategische Ziel: die Eindämmung der Sowjetunion. Nebenbei schlägt die Zeitung dem Militärbündnis fälschlich die Lorbeeren für demokratische Entwicklungen zu: Selbst in den europäischen Militärdiktaturen wirkte demnach „die demokratisierende Kraft der Allianz früher oder später“.

Triumphaler Tenor leicht gedämpft

Auffallend war aber in den letzten Tagen andererseits, dass die Tonlage der Berichterstattung teils relativ(!) gedämpft erschien und ein sonst unangenehm auffallender triumphaler Tenor leicht abgeschwächt wurde. Das hat mutmaßlich zwei Gründe: Zum einen liegt es am medialen Bemühen, eine historische Rückschau auf die NATO, die zwingend kritisch ausfallen müsste, möglichst zu umgehen. Statt dessen sollen die Augen auf die „neuen Bedrohungen“ gerichtet werden, die der „Spiegel“ skizziert:

„Im Süden werden Migration und Terrorismus mittlerweile als die eigentliche Bedrohung gesehen. Im Osten blickt man sorgenvoll auf ein Russland, das 2014 die Krim annektiert und den INF-Vertrag über das Verbot atomar bestückter Mittelstreckenwaffen gebrochen hat. Mit China ist zudem eine neue ernst zu nehmende Militärmacht erwachsen, die ihren eigenen sicherheitspolitischen Interessen etwa im Südchinesischen Meer bislang meist ungehindert nachgeht.“

Der Medienmythos von der „Erfolgsgeschichte NATO“

Zum anderen scheint die Zukunft des Bündnisses in den Worten vieler Kommentatoren zumindest ungewiss. Die „Süddeutsche Zeitung“ etwa sieht die Perspektiven angesichts der Frage, „wofür steht der Klub, und wer trägt welche Last?“, geradezu düster:

„Der Streit ist so furios, dass die Jubiläumsfeier ohne die Staats- und Regierungschefs der Mitglieder abgehalten wird. Besser man lässt sie jetzt nicht aufeinander los, sie müssten die Frage sonst beantworten. Mission creep nennt man den Zustand beim Militär, die schleichende Zersetzung von Moral und Auftrag; sie ist der Anfang vom Ende.“

Diese unsicheren Zukunftsaussichten wiederum stehen den medialen Mythen zur NATO-Geschichte nicht im Wege. An jener „Erfolgsgeschichte“ der NATO, die „jahrzehntelang den Frieden in Europa gesichert“ habe, sind mehrere Aspekte falsch: Zum einen haben sowohl die NATO als „Gemeinschaft“ als auch einzelne NATO-Mitglieder Kriege geführt. Zum anderen hat die NATO mit dem Kosovo-Feldzug einen großen Krieg auch nach Europa hineingetragen. Nicht zuletzt ist das aktuell von der NATO in die Ecke getriebene Russland ebenfalls Teil Europas.

NATO-Osterweiterung: „Unterstützung“ von jungen Demokratien

Die Geschichte der gegen Russland gerichteten Osterweiterung der NATO möchte der „Spiegel“ glätten, etwa, indem das Magazin die wortbrechende NATO-Ausbreitung nach Osten als „Unterstützung“ bezeichnet:

„Die nach Demokratie strebenden osteuropäischen Staaten wurden unterstützt, indem man für sie Nato-Partnerprogramme auflegte. Diese Zusammenarbeit mündete schließlich 1999 in der Aufnahme von Polen, Tschechien und Ungarn in das Bündnis, 2004 folgten Rumänien, Bulgarien, die Slowakei, Slowenien, Lettland, Estland und Litauen, 2009 Kroatien und Albanien, 2017 Montenegro.“

Der große Sündenfall der NATO in Europa – der Angriffskrieg gegen Jugoslawien – wird vom Magazin in zwei dürren Sätzen und ohne jede moralische oder politische Analyse kleingeredet: „Militärisch griff die Nato in Konflikte um das zerfallene Jugoslawien ein. So unterstützte sie in Bosnien-Herzegowina die Vereinten Nationen mit Lufteinsätzen und führte 1999 den Kosovokrieg gegen die damalige Bundesrepublik Jugoslawien.“

Die „Alliierten“ wollen Deutschland „groß“ sehen

In einer gewagten Schlussfolgerung legt das Magazin schließlich den „Alliierten“ Deutschlands die mutmaßlich eigenen Forderungen in den Mund: „Heute ist es zu einem der vordringlichsten Anliegen der NATO geworden, die Deutschen groß zu machen. Sie sollen, so sehen es die Alliierten, endlich damit aufhören, sich selbst kleinzuhalten und dafür jene militärischen Fähigkeiten entwickeln, die Deutschlands politischer und wirtschaftlicher Bedeutung entsprechen.“ In diese Kerbe haut neben vielen anderen Publikationen auch die „Bild“-Zeitung, die behauptet: „Doch neben der zweifelhaften Rolle der Türkei verdirbt vor allem ein Thema die gute Stimmung bei den Feierlichkeiten: Deutschland.“

Diesen Forderungen an Deutschland wurde von der Bundesregierung jedoch nicht entgegengetreten. Es folgte, im Gegenteil, der mittlerweile gewohnte Bückling des deutschen Außenministers Heiko Maas (SPD), der laut „Bild” brav betonte, dass Deutschland seit 2014 doch fast 40 Prozent mehr Geld in die Bundeswehr investiert habe und dass die Bundeswehr zweitgrößter Truppensteller in Afghanistan und auch an anderen Nato-Einsätzen substanziell beteiligt sei. Zudem spiele Deutschland neben den USA, Kanada und Großbritannien eine maßgebliche Rolle bei der Truppenverlegung der Nato in die östlichen Mitgliedstaaten und baue in Ulm eine neue Nato-Kommandozentrale auf.

Um etwa diese von Maas angesprochenen „Truppenverlegung in die östlichen Mitgliedstaaten“ zu rechtfertigen, nutzt ein infamer Kommentar der „Tagesschau“ die bekannten Vorwürfe gegen Russland, wie in den Hinweisen der NachDenkSeiten bereits von einem Leser kommentiert wurde.

In großen und in kleinen Medien: „Annexion“ und „Destabilisierung“

Doch neben den öffentlich-rechtlichen und den großen privaten Medien haben sich auch kleinere Publikationen nicht mit Ruhm bekleckert. So schreibt die „Stuttgarter Zeitung“, ähnlich wie die „Tagesschau“, dass Russland wegen der „Annexion“ der Krim die volle Verantwortung für das Abkühlen des Verhältnisses zum Westen trage. In einem Satz werden gleich zwei Konflikte verzerrt dargestellt: „In Georgien wie auch in der Ukraine sorgt der Kreml für eine kontrollierte Destabilisierung.“

Der „Reutlinger Generalanzeiger“ sieht bei der NATO gar „eine außergewöhnliche Erfolgsgeschichte. Das stärkste Militärbündnis steht allen Unkenrufen zum Trotz besser da, als viele annehmen mögen. Es stellt sich den neuen Herausforderungen im Osten. (…) Die Nato hat allen Grund, 70 Jahre Schutz und Frieden in den Mitgliedstaaten zu feiern.“

Trotz medialem Versagen: Vertrauen in NATO sinkt

Mit dieser geballten Verweigerung vieler Medien, die Geschichte der NATO und ihre strategische Zukunft angemessen darzustellen, haben sich die betreffenden Publikationen eines weiteren Stücks ihrer Existenzberechtigung beraubt. Umso mehr überrascht angesichts der medialen Bemühungen pro NATO das Ergebnis einer aktuellen Umfrage zur NATO, für die „YouGov“ knapp 8.000 Personen aus Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Dänemark, Norwegen und den USA repräsentativ befragt habe. Demnach befürworten 2019 nur 54 Prozent der Deutschen eine Mitgliedschaft der Bundesrepublik im Verteidigungsbündnis. Zwei Jahre zuvor seien es noch 68 Prozent gewesen.

Titelbild: Mircea Moira / Shutterstock