Das ist eine Schlussfolgerung, die man als Leser des gerade erschienenen Buches von Ulrich Teusch „Der Krieg vor dem Krieg“ treffen kann. Ich fand das auf den Punkt gebracht und habe deshalb den Autor Ulrich Teusch interviewt. Sie finden in diesem Interview und im Buch viel Interessantes zum Thema Propaganda für den Krieg, zur Kriegswahrscheinlichkeit und eben auch zum Versuch des Autors, neben dem Antisemitismus auch den Antirussismus als ärgerliche und bedrohliche Erscheinung zu sehen. Hier das Interview. Albrecht Müller.
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Albrecht Müller: Der Titel Ihres neuen Buches „Der Krieg vor dem Krieg. Wie Propaganda über Leben und Tod entscheidet“ klingt ja nicht gerade beschwichtigend. Sehen Sie den nächsten Krieg vor der Tür?
Ulrich Teusch: Vor ein paar Monaten hat mir ein Leser geschrieben, der Krieg zwischen der NATO und Russland habe doch längst begonnen. Mit dieser Ansicht steht er nicht allein. Das sehen einige professionelle Beobachter genauso. Sicher, hier in Europa fliegen uns noch keine Raketen um die Ohren, aber direkt unterhalb der Schwelle des großen militärischen Konflikts tut sich einiges. So ein ganz und gar unverdächtiger Zeuge wie Herfried Münkler spricht davon, dass es immer schwieriger werde, zwischen Krieg und Frieden zu unterscheiden, dass sich da etwas Drittes herausbilde, das sich begrifflich noch nicht klar fassen lasse. Die vielen gegenwärtig eingesetzten Formen der Aggression (Stichworte: hybrider Krieg, Cyberkrieg, Wirtschaftskrieg, Propagandakrieg etc.) sind eminent gefährlich, weil sie Instabilität erzeugen, weil sie sehr leicht außer Kontrolle geraten können. Der „letzte Schritt“ ist dann schnell getan.
AM: Das sind doch entweder nur Schlagworte oder nichts Neues. Propagandakriege hat es immer gegeben. Wirtschaftskriege hat es immer gegeben.
UT: Wenn man einem etwas weiteren Kriegsverständnis folgt und die Dinge global betrachtet, wird man sagen können, dass wir bereits jetzt in einem Zeitalter des permanenten Krieges leben. Die USA führen seit 2001 ununterbrochen Kriege, und es gibt keine Anzeichen, dass sie davon ablassen wollen. Das setzt die Welt unter einen schwer erträglichen Spannungszustand, der dann zuweilen auch noch mutwillig verschärft wird. Die als Strafmaßnahmen deklarierten Raketenangriffe der USA beziehungsweise westlicher Länder auf Syrien oder Trumps Drohung vor der UN-Generalversammlung, Nordkorea zu vernichten – das waren Situationen, in denen ich den Atem angehalten habe und froh war, dass es zu keiner Eskalation kam.
AM: Ein früherer Oberkommandierender der US-Landstreitkräfte in Europa prognostizierte im Oktober 2018, es werde innerhalb der nächsten 15 Jahre zu einem Krieg zwischen den USA und China kommen. Warum macht der das? Andere wichtige Repräsentanten halten Kriege mit Russland für wahrscheinlich und erklären das offen. Was ist der Sinn solcher Kriegsankündigungen? Nutzt man die Öffentlichkeit, um Drohungen zu übermitteln? Will man einschüchtern? Was ist vermutlich der Hintergrund dieser Offenheit?
UT: Zunächst: Solche Aussagen sind absolut unverantwortlich. Ich glaube allerdings nicht, dass wir mit solchen Sprüchen tatsächlich auf Krieg vorbereitet werden sollen. Ich vermute eher, dass sie den eigentlichen Krieg ersetzen sollen – natürlich im Verein mit weiteren aggressiven Maßnahmen, wie etwa Sanktionen. Oder anders: Im Fall Russlands ist „der Krieg vor dem Krieg“ der eigentliche Krieg. Aber das ist natürlich ein hochriskantes Unterfangen. Wer den Krieg vor dem Krieg als Ersatzkrieg führt, ihn ständig verschärft, ihn immer näher an die Schwelle des großen militärischen Konflikts treibt, der spielt mit dem Feuer.
AM: Da ich die Phase der Entspannungspolitik in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts selbst miterlebt habe, meine ich feststellen zu können, dass es ähnliche Drohgebärden zumindest ab Ende der sechziger Jahre nicht mehr gegeben hat. Haben Sie bei Ihren Recherchen einen Unterschied von damals zu heute entdeckt?
UT: Da gibt es erhebliche Unterschiede. Der erste Kalte Krieg war ein bipolarer Konflikt, mit den Zentren Washington und Moskau. In seinem Kernbereich, also den NATO- und Warschauer-Pakt-Staaten, war er relativ stabil, in seiner Peripherie hat er allerdings – was leider oft vergessen wird – zu vielen (Stellvertreter-) Kriegen mit vielen Millionen Opfern geführt. In der von Ihnen angesprochenen Phase der Entspannungspolitik, die von den 1960er Jahren bis Ende der 1970er dauerte, ging es keiner der beiden Seiten mehr ernstlich um das, was man heute als „Regime Change“ bezeichnen würde. Vielleicht hat man auf sehr lange Sicht geglaubt und gehofft, das eigene System werde sich dem anderen überlegen erweisen, aber in der konkreten Politik hat das keine allzu große Rolle gespielt. Die damaligen Konzepte – „friedliche Koexistenz“ auf östlicher Seite, „Détente“, „Modus Vivendi“, „Wandel durch Annäherung“ oder „Europäische Friedensordnung“ auf westlicher Seite – basierten auf der Anerkennung des Status quo und versuchten in diesem Rahmen viele konkrete Verbesserungen zu erzielen, Bindungen und Verbindungen zu stärken, Vertrauen aufzubauen, die Kriegsgefahr zu reduzieren und so weiter. Das war praktische Friedenspolitik. Und sie wurde auch und vor allem von deutscher Seite betrieben. Willy Brandt hat sich seinen Friedensnobelpreis redlich verdient. Martialische Sprüche, wie sie heute an der Tagesordnung sind, wären ihm nie über die Lippen gekommen. Zudem hat er immer wieder spezifisch deutsche oder europäische Interessen gegenüber den Amerikanern selbstbewusst vertreten.
Heute befinden wir uns nicht mehr in einer bipolaren Ordnung, sondern vielmehr in einem Übergangsprozess von einer unipolaren, US-dominierten Ordnung, die sich nach 1990 herausgebildet hatte, zu einer komplexen multipolaren Ordnung. Die Zahl der Pole wächst, die USA befinden sich auf dem absteigenden Ast. Das heißt: Der neue Kalte Krieg weist gegenüber dem alten erhebliche strukturelle Unterschiede auf, ist also keine bloße Neuauflage von etwas Altbekanntem.
AM: Wenn sich die USA auf dem absteigenden Ast befänden, wäre das für den Frieden nicht das Schlechteste. Aber ob das so kommt, ist offen. Wie auch immer, welche Rolle spielt die Propaganda in diesem Spiel der gegenseitigen Drohungen?
UT: Propaganda ist das Gegenteil von Friedenspolitik, das Gegenteil von Vertrauensbildung. Sie ist Anti-Diplomatie. Sie verschärft, sie spitzt zu, sie eskaliert. Sie kann den Krieg gezielt vorbereiten, auf ihn einstimmen, ihn legitimieren, als unausweichlich erscheinen lassen oder zumindest den Übergang zur Gewaltanwendung erleichtern, indem sie den Gegner dämonisiert, also entmenschlicht. Sie kann aber auch im Fall eines bereits eingetretenen Konflikts jede Chance auf Deeskalation verbauen. Das ist ein Gesichtspunkt, um den sich insbesondere die Scharfmacher in den Medien so gut wie keine Gedanken machen: Wie soll im Fall eines tatsächlichen Konflikts noch eine Deeskalation möglich sein, wenn durch jahrelange Propaganda und Gegenpropaganda nur wechselseitiges Misstrauen gezüchtet wurde?
AM: Propaganda wirkt aber doch nicht nur nach außen, sondern auch nach innen!
UT: Genau. Das ist auch ein Aspekt, der mir besonders wichtig ist. Wer den äußeren Frieden gefährdet, der gefährdet damit in aller Regel auch den inneren Frieden (und umgekehrt). Es entsteht eine negative Wechselwirkung zwischen internationalen Spannungen, Konflikten und Kriegen auf der einen Seite und innerstaatlicher Repression, Illiberalität und Demokratie-Erosion auf der anderen. Wenn die internationalen Spannungen wachsen, wenn tatsächlich Kriegsgefahr be- oder entsteht, dann verschärfen sich auch die innenpolitische Tonlage und Gangart. Nehmen wir die unsägliche Russiagate-Hysterie in den USA: Diese Propagandaschlacht hat nicht nur eine auswärtige Macht dämonisiert und jeglichen Fortschritt in den Beziehungen zwischen den USA und Russland vereitelt, sondern sie hat auch das innenpolitische Klima vergiftet und in einen neuen McCarthyismus geführt.
AM: Welches sind die riskanten Konstellationen, die Auslöser sein könnten für den militärischen Konflikt zwischen NATO und Russland?
UT: Sollte es tatsächlich zu einem Krieg zwischen Russland und der NATO kommen, dann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht aufgrund einer bewussten Angriffsentscheidung einer der beiden Seiten, vermutlich auch nicht als unmittelbare Folge eines sich immer höher schaukelnden Propagandakrieges. Weit plausibler erscheint, dass eine militärische Eskalation (sieht man von einem immer möglichen „Atomkrieg aus Versehen“ ab) aus einem konkreten militärischen Zusammenstoß entstünde, etwa in Syrien oder im Baltikum oder in der Ukraine oder im Schwarzen Meer, dort also, wo sowohl Russland als auch die USA und andere westliche Mächte militärisch aktiv sind und bislang einigen Aufwand betreiben, um sich nicht ins Gehege zu kommen.
AM: Diesen Eindruck habe ich bei den bisherigen Manövern des Westens und bei den vielen Flugbewegungen beider Seiten nicht gewonnen.
UT: Jede Provokation oder jedes gewollte oder ungewollte Überschreiten von definierten oder nicht definierten roten Linien könnte allerdings zu einer direkten Konfrontation führen, die sich dann nicht mehr stoppen lässt. Es gab in den vergangenen Jahren einige Situationen, in denen ein cholerischer oder paranoider oder einfach nur nervöser politischer Charakter ausreichend Anlass gefunden hätte, „zurückzuschlagen“ und möglicherweise eine Kettenreaktion auszulösen.
AM: Wie könnten wir die Gefahren verringern?
UT: Wir müssen es schaffen, den von mir schon angesprochenen Übergangsprozess zu einer multipolaren Weltordnung friedlich zu gestalten. Da sind in erster Linie die USA gefordert, die begreifen müssen, dass ihr global-hegemonialer Anspruch sich nicht länger aufrechterhalten lässt. Sie müssen darauf verzichten, ein Empire zu sein, sie müssen zurück ins Glied treten und zu einer normalen Macht in einer regelbasierten internationalen Ordnung werden. Dazu sind sie aber ganz offenkundig nicht bereit, und genau hier steckt aus meiner Sicht die Hauptgefahr für den Weltfrieden.
AM: Ein bisschen konkreter bitte – vielleicht an einem Beispiel erläutert!
UT: Nehmen wir die NATO-Osterweiterung. Das US-amerikanische „National Security Archive“ hat 2018 eine erdrückende Dokumentation vorgelegt, die jenseits allen vernünftigen Zweifels belegt, dass mit der Osterweiterung ein westliches Versprechen gegenüber Moskau gebrochen wurde. Als die Osterweiterung in Gang gesetzt wurde, gab es eindringliche Warnungen von renommierten Experten wie George F. Kennan zum Beispiel, dass es sich hier um eine Fehlentscheidung von historischer Dimension handele. Die Warner konnten sich bekanntlich nicht durchsetzen, aber sie haben eindeutig Recht behalten. Das Gleiche lässt sich für die Raketenabwehrsysteme in Rumänien und Polen sagen, überhaupt über die ganzen militärischen Aktivitäten nahe der russischen Westgrenze. Welches Interesse sollten wir, die Deutschen, an diesen riskanten Unternehmungen haben? Oder andere Europäer? Warum stoppen wir diese wahnsinnige Entwicklung nicht? Würden wir eingestehen, dass wir hier einen fatalen Weg eingeschlagen haben, würden wir den Kurs korrigieren, wäre das ein Signal an Russland, das dort mit Sicherheit positiv aufgegriffen würde. Die ganze Lage würde sich entspannen.
AM: Sprung zurück, wie ist Ihr Buch aufgebaut? Was wollen Sie den Leserinnen und Lesern vermitteln?
UT: Ich zitiere im Buch den Philosophen George Santayana: „Diejenigen, die sich nicht an die Vergangenheit erinnern können, sind dazu verurteilt, sie zu wiederholen.“ Und dann natürlich George Orwell: „Wer die Vergangenheit beherrscht, beherrscht die Zukunft, wer die Gegenwart beherrscht, beherrscht die Vergangenheit.“ Das heißt für mich: Propaganda kann überhaupt nur dann erfolgreich sein, wenn es ihr gelingt, historische Erfahrungen vergessen zu machen, Geschichte zu revidieren, Geschichtsklitterung zu betreiben. Das bedeutet im Umkehrschluss: Historische Aufklärung ist das beste Mittel gegen Propaganda! Ich verwende viel Mühe darauf, diese These an konkreten Beispielen zu veranschaulichen, etwa an der deutsch-russischen Geschichte, an der amerikanischen Kriegsgeschichte, am Beispiel des Irak-, des Libyen- und des Syrienkriegs und so weiter. Das ist der rote Faden des Buchs.
AM: Gibt es noch andere Fäden?
UT: Ja, zum Beispiel Arthur Ponsonbys „Zehn Prinzipien der Kriegspropaganda“, die er einige Jahre nach dem Ersten Weltkrieg formuliert hat. Die sind leider zeitlos gültig und die hatte ich beim Schreiben ständig im Hinterkopf. Dann natürlich noch zwei Aspekte, die ich schon in der „Lückenpresse“ breit thematisiert hatte und jetzt auf die Kriegspropaganda anwende: also das Messen mit zweierlei Maß und die gezielte Nachrichtenunterdrückung. Das veranschauliche ich insbesondere an der aktuellen Syrien-Berichterstattung, in einem Kapitel mit dem Titel „Erkundungen am medialen Abgrund“.
AM: In der Ankündigung des Buchs wird auch versprochen, dass Sie die Interessen hinter der Kriegspropaganda aufdecken wollen.
UT: Das versuche ich in drei eigenen Kapiteln, insbesondere am Beispiel der USA, wo sich inzwischen ein „Permanent War Complex“ herausgebildet hat (ein sehr treffender Begriff, den der Journalist und Historiker Gareth Porter eingeführt hat). Trotz eines Mangels an wirklichen, substanziellen Feinden und trotz ausbleibender Kriegserfolge haben sich Pentagon, Ministerium für Heimatschutz, der US-Nuklearkomplex, die 17 Geheimdienste, die Rüstungsunternehmen sowie die privaten Sicherheits- und Militärunternehmen zu einer riesigen, komplexen, ineinandergreifenden Struktur entwickelt – für die Beteiligten extrem profitabel, fürs Land extrem kostspielig. Dieser Komplex hat aus meiner Sicht eine unverkennbare Eigendynamik gewonnen. Um seine Existenz zu legitimieren, muss er ständig Bedrohungen an die Wand malen; ob reale oder irreale, ist gleichgültig. Das System braucht Rüstung und Krieg, um noch funktionsfähig zu sein. Die Propaganda liefert die Begleitmusik.
AM: Ihr Urteil über die Rolle der Medien ist schon im Vorwort hart: „Kriegstreiber haben von den etablierten Medien viel (bis alles) zu erwarten, Kriegsgegner wenig (bis nichts)“. Ein hartes Urteil. Gerechtfertigt?
UT: Der britische Investigativjournalist Phillip Knightley hat in seinem großen Werk „The First Casualty“ („Das erste Opfer“) die Geschichte der Kriegsberichterstattung vom Krimkrieg Mitte des 19. Jahrhunderts bis hin zum Irakkrieg 2003 erzählt. Seine Bilanz ist niederschmetternd. Der einzige Krieg, der am Ende von den Medien einigermaßen adäquat dargestellt wurde, war der Vietnamkrieg, alle anderen Kriege nicht. Wobei der Erste Weltkrieg als besonders eklatantes Negativbeispiel herausragt. Und in jüngerer Zeit hat der Nahostkorrespondent Patrick Cockburn festgestellt, dass das Ausmaß der Desinformation im Syrienkrieg mit jenem im Ersten Weltkrieg vergleichbar sei… Woraus soll man da die Hoffnung schöpfen, dass herrschaftsnahe Medien es in Zukunft besser machen werden?
AM: Nach meiner Erinnerung verhalten sich die Medien heute ganz anders als vor 50 Jahren oder 40 Jahren. Können Sie das erklären oder ist meine Beobachtung falsch?
UT: Wir hatten ja schon festgestellt, dass damals auch die Politik anders war: Außenpolitisch standen die Zeichen auf Entspannungs- und Friedenspolitik, innenpolitisch auf Reformpolitik. Das politische Klima war vergleichsweise liberal, die Diskursbreite größer als heute. Davon haben die Medien natürlich profitiert. Das lässt sich noch bis Anfang der 1980er Jahre beobachten. Sie haben ja kürzlich auf den NachDenkSeiten an diese aus heutiger Sicht unglaubliche „Tagesschau“-Ausgabe vom Oktober 1981 erinnert, in der über die große Bonner Friedensdemonstration berichtet wurde. Obwohl die damals im Bundestag vertretenen Parteien dem Anliegen der Demonstranten mehr oder weniger ablehnend gegenüberstanden, hat das damalige ARD-Hauptstadtstudio (unter seinem keineswegs revolutionären Leiter Friedrich Nowottny) eine Berichterstattung abgeliefert, vor der man nur den Hut ziehen kann. Das war absolut untadeliger Nachrichtenjournalismus. Heute wäre so etwas unvorstellbar.
AM: Eines Ihrer Kapitel ist überschrieben mit: „Die Kriegsverkäufer“. Mit solchen harten, wenn auch richtigen Aussagen sorgen Sie dafür, dass es zu Ihrem Buch fast keine Buchbesprechungen geben wird oder nur vernichtende. Haben Sie keine Angst?
UT: Ich bin in dem Buch nicht gerade zimperlich. Da muss man dann auch bereit sein, mal etwas einzustecken. Aber Angst habe ich keine.
AM: Sie schreiben auch, wir sollten uns von der Vorstellung befreien, dass Kritik am Journalismus, an den Medien, am Mediensystem etwas Grundlegendes ändern könnte. Das klingt resignativ. Sie retten sich mit einer Art Trick aus diesem Dilemma. Sie meinen: Nicht wir befassen uns mit den Medien, sondern die Medien befassen sich mit uns. Wir sind das Volk. Wir bestimmen die Agenda. – Naja. Sie meinen dann, gegen das etablierte Mediensystem würden nur antisystemische Medien helfen. Einige gebe es schon, die NachDenkSeiten zählen Sie dazu. Sie überschätzen die Kraft der antisystemischen Medien?! Ihre Argumentation verstehe ich nicht und Ihren Optimismus teile ich nicht! Deshalb die Bitte, dies näher zu erläutern.
UT: Ich will nicht ausschließen, dass Sie mit Ihrer Skepsis Recht behalten. Aber ich persönlich bin im Moment eher zuversichtlich. Auch deshalb, weil ja in den letzten Jahren in Sachen „antisystemische Medien“ doch einiges erreicht wurde, d.h. es gibt inzwischen doch schon recht viele Nachrichtenportale oder interessante Blogs, die sich zum Teil miteinander vernetzen oder sich bei Bedarf wechselseitig stützen. Und auf diesem Gebiet wird sicher in Zukunft auch noch einiges passieren – natürlich nur, wenn es gelingt, die gegenwärtigen Angriffe (Stichwort Internetzensur) abzuwehren. Optimistisch bin ich aber auch deshalb, weil in unserem Mediensystem insbesondere die Buchverlage immer wieder für positive Überraschungen gut sind. Autorinnen und Autoren, die mit dem Mainstream überkreuz liegen, landen da doch regelmäßig spektakuläre Bestseller. Sodann sollten wir die Situation nicht nur in Bezug auf Deutschland betrachten, sondern global. In den USA zum Beispiel ist der mediale Alternativsektor kaum noch überschaubar und sein Einfluss beachtlich. Und schließlich zähle ich auch die nicht-westlichen internationalen Fernseh-Nachrichtenkanäle (wie Telesur, RT oder PressTV) zu den Korrektiven, die andere Perspektiven vermitteln oder westliche Narrative in Frage stellen.
AM: Sie haben mich mit Ihrem Buch beim Grübeln erwischt. Angesichts der üblich gewordenen Antisemitismusdebatte, die in Deutschland voll gespickt ist mit Antisemitismus-Vorwürfen an Menschen, die es nun wahrlich nicht verdient haben, im Gegenteil, suche ich nach Gegenstrategien gegen die laufende Kampagne. In Ihrem Buch kann man einen guten Rat zur Abwehr dieser Kampagne entdecken: Sie stellen neben den Antisemitismus den Antirussismus. Wie meinen Sie das?
UT: Wir alle kennen den Begriff Holocaust. Mit ihm bezeichnet man die Vernichtung der europäischen Juden durch Nazideutschland. Dieses ungeheuerliche Verbrechen und diese nicht abtragbare Schuld haben sich tief ins kollektive historische Gedächtnis der Deutschen eingegraben. Wir bekämpfen alle Erscheinungsformen des Antisemitismus, wir begegnen dem Staat Israel und seiner Politik mit großer Sensibilität – dies alles völlig zu Recht! In meinem Buch bringe ich nun neben dem Begriff Holocaust auch den Begriff „anderer Holocaust“. Ich übernehme ihn von dem Historiker Rolf-Dieter Müller, einem der besten Kenner des Zweiten Weltkriegs. Er hat ihn 1988 in einem großen Artikel für „Die Zeit“ verwendet. Wenn er vom „anderen Holocaust“ spricht, meint Müller den rassenideologischen Vernichtungskrieg Nazideutschlands im Osten, also die barbarische Kriegsführung gegen die slawischen Völker, insbesondere gegen Russen, die aus deutscher Sicht „Untermenschen“ waren. Ich bin überzeugt, dass dieses grauenhafte Geschehen des „anderen Holocaust“ ebenso Teil des historischen Gedächtnisses der Deutschen sein müsste wie der eigentliche Holocaust. Und dass es konkrete politische Folgen zeitigen müsste, insbesondere in unserem Verhältnis zu Russland. Antirussismus müsste ebenso bekämpft werden wie Antisemitismus.
AM: Ist Ihnen klar, dass Sie damit zu einer Zielscheibe der herrschenden Kreise in den deutschen Medien und in der Politik werden?
UT: Ich habe meine These vor ein paar Wochen im Rahmen einer Podiumsdiskussion vorgetragen. Die dort anwesenden Russen oder aus Russland stammenden Zuhörer kamen hinterher zu mir und haben sich für meine Worte bedankt. Das war sehr berührend. Und das ist mir viel wichtiger als das, was die von Ihnen angesprochenen herrschenden Kreise in den deutschen Medien möglicherweise dazu sagen.
AM: Spinnen wir Ihren Gedanken mit dem Vergleich von Antisemitismus mit Antirussismus weiter: Die deutsche Bundeskanzlerin, Frau Merkel, sagt, Israel gehöre zur deutschen Staatsraison. Das kann man so sehen, weil die industrielle Ermordung von 7 Millionen Juden Deutschland zur Garantie der Sicherheit Israels verpflichten könnte. Wir begeben uns damit zwar in die Hand jeglicher Richtung einer israelischen Regierung, auch in die Hände einer Regierung, die bewusst den Frieden mit den Palästinensern nicht will. Aber das soll ja nicht Thema meiner Frage sein. Ihren Gedanken weitergesponnen könnte man zur Empfehlung an Frau Merkel oder an den Bundespräsidenten kommen zu erklären: Angesichts von 27 Millionen ermordeter, gestorbener, verhungerter Russen und andere Sowjetbürger gehört Frieden mit Russland und die Sicherheit Russlands zur deutschen Staatsraison. – Würde das helfen, um die von Ihnen entdeckte Kriegspropaganda zu stoppen?
UT: Ich finde den Begriff „Staatsraison“ in diesem Zusammenhang problematisch, sowohl in Bezug auf Israel wie auch in Bezug auf Russland. Er bedeutet eine zu große Festlegung. Ich persönlich stehe der aktuellen israelischen Politik äußerst kritisch gegenüber und sage das im Buch auch sehr deutlich. Trotzdem fühle ich mich der jüdischen Geschichte, konkreten jüdischen Menschen und auch dem Staat Israel sehr tief verbunden, werde ihn auch jetzt im Mai zwei Wochen lang bereisen. Also, ich würde es so formulieren: Unser Verhältnis zu Russland sollte von der gleichen Sensibilität, Empathie, Vorsicht bestimmt sein wie unser Verhältnis zu Israel. Ein tief verwurzeltes Schuldgefühl müsste in eine keineswegs kritikfreie, aber doch reflektierte Form der Solidarität münden.
AM: Frau Merkel gebraucht aber das Wort Staatsraison. Deshalb ist, lieber Herr Teusch, Ihre persönliche Vorliebe unerheblich. Wenn Sie der Anwendung der gleichen Formel auf die Beziehungen zu Russland ausweichen, dann rauben Sie mir diese meine Entdeckung in Ihrem Buch, die Anwendung der gleichen Formel auf das Verhältnis zu Russland. Schade. Denn das wäre eine wirklich gute Attacke auf die herrschende Propaganda. Warum so zögerlich?
UT: Oje, ich glaube, wir missverstehen uns da gerade! Ich hege lediglich gewisse Vorbehalte gegen den Begriff Staatsraison als solchen, der in meinen Politikwissenschaftler-Ohren ein wenig zu etatistisch klingt. In der Sache, um die es hier geht, bin ich aber vollkommen bei Ihnen! Wenn Merkel oder Maas oder wer auch immer den Begriff Staatsraison verwenden, kann und muss man ihn natürlich aufgreifen. Also, wenn Merkel sagt: „Die Solidarität und Freundschaft mit Israel ist Teil der deutschen Staatsraison“, dann würde ich ihr sofort in die Parade fahren und antworten: „Verehrteste, wenn Sie so argumentieren, müssen Sie konsequenterweise auch die Solidarität und Freundschaft mit Russland zum Teil der deutschen Staatsraison erklären!“ Und wenn sie mich dann erstaunt anguckt und fragt „warum das denn?“, würde ich ihr mit Freuden ein wenig Geschichtsunterricht erteilen.
AM: Statt der Erklärung des Friedens mit Russland zur deutschen Staatsraison wird im Falle Russlands Hass gepredigt. Von Anfang an, praktisch von 1945 an und im Kalten Krieg der Fünfzigerjahre sowieso. Haben Sie eine Erklärung dafür? Wie reagieren die Russen darauf?
UT: Der alte Antirussismus oder Antislawismus konnte wegen des schnell eskalierenden Kalten Krieges unter dem dann politisch korrektiven Label „Antikommunismus“ weitergepflegt werden. Das war der Auseinandersetzung mit den Kriegsgeschehnissen natürlich überhaupt nicht förderlich. Ich glaube allerdings, dass es heute in Deutschland einen großen Bevölkerungsteil gibt – nicht die Mehrheit, aber doch eine beachtliche Minderheit –, die sich mit der deutsch-russischen Geschichte im Zweiten Weltkrieg intensiv auseinandergesetzt hat. Ich vermute auch, dass es vor allem dieser Bevölkerungsteil ist, der auf die aktuellen russophoben Töne besonders allergisch reagiert. Was Russland, aber auch andere osteuropäische Länder angeht, bin ich immer wieder erstaunt und dankbar, wie beliebt Deutschland und die Deutschen dort sind…
AM: Na ja, wenn wir so weitermachen mit der antirussischen Propaganda, wird diese Zuwendung zu den Deutschen nicht mehr lange zu beobachten und genießen sein. – Was sind die Methoden und Inhalte der Propaganda gegen Russland?
UT: Ich hatte ja schon gesagt, dass im Hinblick auf Russland der „Krieg vor dem Krieg“ als Ersatzkrieg geführt wird, also nicht nur aus Propaganda besteht, sondern auch aus vielen anderen Druckmitteln, wie etwa Sanktionen. Die Ziele dieses Krieges lauten: eine aufstrebende Macht schwächen oder in ihre Schranken weisen; sie destabilisieren, delegitimieren, isolieren; ihre politische Grundorientierung revidieren, ihr politisches Führungspersonal dämonisieren. Die antirussische Propaganda ist letztlich Regime-Change-Propaganda.
Einige der Mittel: Da ist zum Beispiel die penetrante Personalisierung des Konflikts, die auch deshalb so beliebt ist, weil man an Putin (ehemals KGB-Mitarbeiter) eine Kontinuität von der alten Sowjetunion zum heutigen Russland suggerieren kann. Die Berichterstattung der meisten etablierten Medien ist Lichtjahre davon entfernt, ein der Komplexität Russlands gerecht werdendes, multi-perspektivisches Bild zu zeichnen. Alles wird in ein negatives Licht getaucht, große Teile der Realität einfach ausgeblendet. Wenn Putin eine wichtige Rede hält, kann man nicht sicher sein, dass sie von westlichen Medien adäquat wiedergegeben oder gar im Wortlaut dokumentiert wird; im ersten Kalten Krieg, zumindest in der Entspannungsphase, wäre das noch unabdingbarer Standard gewesen. Kein Sowjetführer, nicht einmal Stalin, wurde im Westen je so dämonisiert wie heute der demokratisch gewählte Putin. Daneben gibt es in der Propaganda eine Vielzahl von Klischees, Stigmatisierungen, Stereotypen, die sich nicht nur gegen die „Machthaber“, sondern gegen ganz normale russische Menschen richten. Im Buch bringe ich dafür sehr viele Beispiele, und zumindest teilweise handelt es sich da um offenen Rassismus.
AM: Zum Schluss komme ich noch einmal auf die Kriegsgefahr zurück. Auf der Rückseite Ihres Buches steht geschrieben, ob von Ihnen oder vom Verlag, das weiß ich nicht: „Die gute Nachricht: So bedrohlich Kriegspropaganda nach wie vor ist – sie hat den Zenit ihrer Leistungsfähigkeit überschritten. Sie stößt immer öfter an Grenzen. Das eröffnet allen, die für eine friedliche und freie Welt streiten, große Chancen.“ Hier hat Ihnen offenbar jemand eingeredet, Sie müssten beachten, dass Leser oft fragen: Wo bleibt das Positive? Ich kann Ihrer Diagnose nämlich gar nicht folgen, freue mich aber, wenn meine Diagnose falsch ist. Also: Wie begründen Sie Ihren Optimismus?
UT: Also, der Satz stammt in der Tat von mir. Ich denke da zum Beispiel an die Skripal-Geschichte, an die angeblichen Chemiewaffeneinsätze in Syrien, an die Russiagate-Hysterie – es gibt inzwischen wirklich sehr viele Menschen, die diese Kampagnen durchschauen und sich davon nicht mehr so besonders beeindrucken lassen. Sodann: Propaganda kann immer nur so gut sein, wie das politische System, das sie macht. Und da ist eben zu beobachten, dass die westliche Welt und insbesondere die im Abstieg befindlichen USA in einer tiefen Krise stecken. Manchmal habe ich das Gefühl: Die spüren, dass ihnen die Felle wegschwimmen, und dann machen sie mit dem Mut der Verzweiflung eine lautstarke, total überdrehte Propaganda, die von großen Teilen des Publikums ohne Mühe durchschaut werden kann. Auch da stelle ich große Unterschiede etwa zu den 1970er Jahren fest: Damals gab es natürlich ebenfalls Propaganda, aber die war wesentlich subtiler und intelligenter, darum auch wirksamer.
AM: Ihr Wort in Gottes Ohr. Ich bin pessimistischer. Dennoch: Danke für das interessante Gespräch.