Aufmunterungen im sozialdarwinistischen Rattenrennen – Zur Unsitte der Abi-Transparente
Als ich mit einem Freund nach dem Besuch einer Veranstaltung in Marburg zum Auto zurückging, kamen wir an einem Gymnasium vorbei. Der gesamte Eingangsbereich war mit Plakaten und bemalten Bettlaken vollgestellt und –gehängt. Zunächst dachten wir an eine Form des Schülerprotestes gegen Klimawandel, Schulstress und Leistungsterror, aber bei genauerem Hinsehen begriffen wir, dass es sich um Aufmunterungs- und Durchhalteparolen für die Schüler handelte, die dieser Tage mit den Abiturprüfungen beginnen. Ein Beitrag von Götz Eisenberg.
„Toi,toi,toi, Anna-Lena », « Ganz viel Glück, Kevin ! », « Sina, gib Gas! », „Du schaffst es, Leon!“, „Hau rein, Lisa“, „Wir denken an Dich, Jessica“, hatten Eltern und Geschwister auf Tücher und Transparente gemalt.
„Was für ein Aufriss“, sagte mein Begleiter, „ich glaube, meine Eltern haben, als ich Abitur gemacht habe, gar nicht genau gewusst, wann das stattfindet.“ Die vor dieser Marburger Schule demonstrierte Fürsorge stimmte auch mich skeptisch. Hinter all den scheinbar fröhlichen Aufmunterungen ist eine kaum verhohlene Drohung spürbar: „Wehe, du schaffst das nicht!“ Die Eltern haben bereits das Belohnungscabriolet bestellt, das Studienfach ausgewählt und den Wohnheimplatz besorgt. Man hat ins Kind doch investiert und das muss sich nun rentieren. Fürsorge ist mit Leistungsdruck wie zu einem Zopf verflochten. Da lob ich mir die Indifferenz meiner Eltern, die irgendwann einmal fragten: „Na, wie war’s?“ Als ich alles hinter mir und bestanden hatte, bekam ich eine Reiseschreibmaschine fürs Studium geschenkt. Das war alles. Es wurde kein Bohei um das Abitur gemacht, es war kaum der Rede wert und war dadurch alles etwas entspannter. Wenn man nicht gerade Medizin studieren wollte, kam es auf den Notendurchschnitt nicht besonders an.
Ein anderer Bekannter, der in der Nähe von Gießen Lehrer ist, berichtete mir von den vor der Schule aufgehängten Transparenten zur Aufmunterung der Abiturienten. Seine Schule habe den Eltern und Geschwistern gewisse Räume dafür zugewiesen. Seit einigen Jahren habe sich das aus zaghaften Anfängen zu einem festen Brauch entwickelt. Inzwischen könne sich niemand dieser Prozedur entziehen, ohne sich vor der gesamten Schulöffentlichkeit als lieblos und gleichgültig zu outen. Es sei obligatorisch, dass für jeden Schüler ein Transparent aufgehängt werde. Die meisten Eltern müssten aber der Ehrlichkeit halber eigentlich auf die Transparente schreiben: „Ein Wunder, dass du es bis zum Abitur geschafft hast, Kevin!“, oder: „So blöd und trotzdem Abitur!“, oder: „Hoffentlich hast du dir nicht alle Gehirnzellen weggesoffen“.
Heutige Abiturienten lassen ihre Abi-Feiern von Eventagenturen ausrichten. Sie feiern nicht länger in der Schulaula oder der Turnhalle, sondern suchen sich dafür eine möglichst „coole Location“, die eine Sternwarte, ein Flugzeughangar, eine Brauerei oder die örtliche Kongresshalle sein kann. Die Abi-Feiern sollen möglichst amerikanischen College- und Highschool-Abschlussfesten gleichen. Die mit ihrer Durchführung beauftragten Eventagenturen stellen das gesamte technische Equipment, sorgen für die Logistik, Deko, Catering, DJ, Security und organisieren, wenn gewünscht, auch die Aftershow-Party. Immer öfter wird sogar ein roter Teppich verlangt, über den die Abiturienten stolz einmarschieren. Die Schüler wollen möglichst die amerikanische Promi-Kultur imitieren, ihre Vorbilder stammen aus Serien, Soaps und Kino. Um die 100 Euro kostet denn auch eine Ballkarte. Man stylt sich zu diesem Anlass, als ginge man zu den Bayreuther Festspielen. Agenturen bieten zu horrenden Preisen ein „Prom Package“ an: „Limousinen-Service zum Friseur, Visagist, Fotograf und Abiball.“
Bei uns in Kassel sah das Ende der 60er Jahre so aus: Wir haben mit unserer Klassenmannschaft morgens noch um die Schulmeisterschaft im Handball gespielt. Dann haben wir geduscht und unter der Dusche noch ein letztes Mal unsere Witze über Schule und Lehrer gerissen. Sind danach in die Turnhalle gegangen, wo schon die Eltern und Mitschüler saßen. Das Schulorchester spielte Brahms, die von uns hergestellte Abi-Zeitung wurde an die Gäste verteilt, der Direktor hielt eine Routine-Ansprache. Einer unserer Mitschüler kletterte in die Bütt und hielt eine bemüht-lustige Rede, die dem Zeitgeist entsprechend auch ein paar kritische Bemerkungen zum Krieg in Vietnam enthielt. Dann wurden wir einzeln aufgerufen, mussten auf die Bühne kommen und erhielten unser Zeugnis aus der Hand des Direktors. Schüler, die sich irgendwelche besonderen Verdienste um die Schule erworben hatten, erhielten ein Buch zum Geschenk. Ich bekam eins wegen meiner langjährigen Zugehörigkeit zur Handballmannschaft der Schule. Ich ließ mir „Kinderkreuzzug oder beginnt die Revolution in den Schulen?“ von Günther Amendt schenken. „Götz Eisenberg – zum Andenken an seine Schule“ steht da samt einer Unterschrift des Direktors als Widmung drin. Ich empfand es als kleinen Triumph, den Direktor genötigt zu haben, mir ein Buch mit diesem Titel zu überreichen. Das war‘s dann auch schon. Man fuhr mit den Eltern, sofern sie überhaupt erschienen waren, heim zum Mittagessen, manche gingen zur Feier des Tages vielleicht auch in ein Restaurant. Am Abend trafen wir uns mit unserer Clique bei „Opa Lohmann“, wo es den halben Liter Bier für 60 Pfennige gab. Dann zerstreuten sich die Klassenkameraden in alle Himmelsrichtungen zum Studium.
Wir waren froh, Schule und Elternhäuser nun endlich hinter uns lassen zu können. Das Abitur war unser Billett für die Reise in die Welt und etwas Neues, heraus aus der Enge bürgerlich-kleinbürgerlicher Familienverhältnisse und autoritärer Schulzwänge. Wir hatten Lehrer, die vom Krieg schwadronierten und gegen den Impuls ankämpfen mussten, morgens zur Begrüßung die Hand zum „Deutschen Gruß“ hochzureißen. Am Anfang unserer Revolte stand die Auflehnung gegen das Waschen mit Kernseife, gegen den Kochpottschnitt, den einem ein mieser Friseur alle paar Wochen verpasste, gegen die Tischmanieren: „Sitz gerade, linke Hand am Tellerrand, nimm den Ellbogen vom Tisch!“, gegen die Sonntagshosen und die Bügelfalten, gegen die Waschlappen für oben und die für unten (wobei unten immer mit Schmutz assoziiert wurde), gegen die unaufgearbeitete NS-Vergangenheit der Elterngeneration und die daraus rührende Erstarrung des Lebens. Das Gros unserer Lehrer war durch und durch autoritär; sie verteilten Kopfnüsse und warfen mit Schlüsselbunden nach uns. Der Geschichtsunterricht endete mit dem Ende des Kaiserreichs, und selbstverständlich wurde dessen Untergang bedauert. Warum erzähle ich das? Damit nicht der Eindruck entsteht, früher sei alles besser gewesen. Es war nicht besser, aber vielleicht für uns weniger schlimm, weil wir uns wehren konnten, ja beinahe wehren mussten. Die Gewalt ging damals von den Lehrern aus, und wir wussten, gegen wen wir uns zu wehren hatten. Deswegen machten wir uns nicht untereinander fertig, sondern verhielten uns einigermaßen solidarisch.
Ich hatte also das Abitur bestanden – mit einem Notendurchschnitt von 3,8. Wie gesagt, darauf kam es nicht an. Mein Banknachbar aus den letzten Schuljahren und ich arbeiteten nach dem Abitur sechs Wochen bei der Spinnfaser, einer chemischen Fabrik, die bei Ostwind ganz Kassel mit ihrem Schwefel-Gestank überzog. Als wir genug Geld verdient hatten – man erhielt als Schüler 2,24 DM pro Stunde, die einem am Ende der Woche in einer Lohntüte ausgezahlt wurden – fuhren wir mit einem alten VW-Käfer über Prag nach Jugoslawien, wo wir vier Wochen Ferien machten. Wir zelteten, zogen uns die Stachel von Seeigeln aus den Füßen und kochten auf einem Propangaskocher Tütensuppen. Unter dem Schilfdach der Campingkneipe, über das die Ratten liefen, hörten wir Anfang August 1969 vom Tod Adornos und beschlossen schuldbewusst, ihn nach unserer Rückkehr zu lesen. Es gab, da unsere Eltern durch ihre Verstrickung in die Geschichte des Nationalsozialismus als Vorbilder ausfielen, in unserer Generation eine große Sehnsucht nach nicht beschädigten Autoritäten, und dazu gehörten vor allem die aus der Emigration zurückgekehrten linken Intellektuellen, an denen wir uns orientierten und von denen wir viel gelernt haben.
Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er ist Mitinitiator des Gießener Georg-Büchner-Clubs. Eisenberg arbeitet an einer „Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus“, deren dritter Band unter dem Titel „Zwischen Anarchismus und Populismus“ 2018 im Verlag Wolfgang Polkowski in Gießen erschienen ist.