Unter dem Motto „Fridays For Future“ gehen seit vielen Wochen an jedem Freitag weltweit Schüler auf die Straße, um für eine ernsthafte Klimapolitik zu demonstrieren. Alleine in Deutschland sind es zur Zeit mehr als 20.000 Schüler, die sich Woche für Woche an den Demos beteiligen. Wer nun meint, dass diese längst überfällige „Wiedergeburt“ der Protestkultur unter Jugendlichen von Erwachsenen, die man durchaus dem kritischen Lager zurechnen kann, durchweg positiv gesehen wird, kennt jedoch den destruktiven Einfluss der (a)sozialen Netzwerke auf unsere Meinungsbildung noch nicht gut genug. Was im besten Fall ein demokratisches Netzwerk zur Aufklärung und Information hätte werden können, ist auf dem besten Weg, zu einem gigantischen reaktionären Stammtisch zu werden. Jedes Fünkchen der Aufklärung wird dort von einer dumpfen, populistischen Meinungsführerschaft niedergemacht. Den Eliten gefällt das. Von Jens Berger.
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An der zur Zeit wohl populärsten Schwedin der Welt scheiden sich vor allem im Netz die Geister. Für die Einen ist Greta Thunberg eine Ikone, die es geschafft hat, die Notwendigkeit eines radikalen Umbruchs in der Klimapolitik wieder in die Schlagzeilen zu bringen. Für die Anderen ist Greta eine „Marionette des Systems“, die uns wahlweise von „wichtigeren Themen“ ablenken soll und/oder für die „wirtschaftlichen Interessen“ ihrer „Hintermänner“ instrumentalisiert wird. Welche Interessen das sein sollen, bleibt dabei – wie so vieles – im Vagen. Einig sind Freund und Feind lediglich darin, die kleine Greta als Gesicht der Schülerproteste zu sehen.
An dieser Stelle ist ein einführendes „ceterum censeo“ von Nöten. Ja, es ist natürlich auffällig, dass die Medien sich derart massiv auf die junge Schwedin stürzen und ihr eine „Expertenfunktion“ zuschreiben, die sie rein objektiv nicht erfüllen kann. Ja, es ist auch seltsam, dass eine 16-jährige Schülerin plötzlich auf internationalen Konferenzen Rederecht bekommt. Und wer die „Greta-Tour“ eigentlich finanziert, wäre auch interessant. Ja, man muss kritisieren, dass die Medien wie im Gleichklang ihr Hohelied auf die junge Schwedin anstimmen, ohne auf diese kritischen Fragen einzugehen.
Andererseits kann man ja wohl kaum das junge Mädchen dafür verantwortlich machen, dass die Medien einmal mehr ihren Job nicht richtig machen. Auf Facebook hat sich unter eigentlich kritischen Menschen sogar die „Logik“ breit gemacht, dass die Schülerproteste deshalb abzulehnen seien, weil die Medien darüber so positiv berichten. Einige Leserbriefe, die wir bekommen haben, gehen auch in diese Richtung. Nach dieser „Logik“ müsste dann auch die Entspannungspolitik falsch sein, wenn einige Leitartikler künftig umschwenken und eine neue Sicherheitsarchitektur empfehlen würden, die Russland ausdrücklich mit einbezieht. Medienkritik ist nötig und wichtig. Wenn man aber den Bogen derart grotesk überspannt und nur noch das exakte Gegenteil der medialen Mehrheitsmeinung für „richtig“ hält, tut man sich und der Gesellschaft damit jedoch keinen Gefallen. Wenn man eine Position hat, sollte diese Position doch unabhängig davon sein, wie andere zu diesem Thema stehen. Leider haben viele Menschen zu vielen Themen aber keine eigene Meinung, sondern lassen sich davon leiten, in welche Richtung sich die Herde bewegt. Und heutzutage ist diese Herde oft virtuell und besteht aus den Mitgliedern der eigenen Echokammer in den sogenannten sozialen Netzwerken.
Ähnlich verhält es sich bei der Vereinnahmung der Schülerproteste durch die Politik. Was können die Schüler dafür, dass Angela Merkel, die die Schülerproteste noch vor wenigen Wochen als Teil der hybriden Kriegsführung Russlands bezeichnet hatte, nun von ihren PR-Beratern darauf hingewiesen wurde, die Schüler lieber voller Lob so fest zu umarmen, dass ihnen die Luft ausgehen möge? Und noch weniger kann man die Inhalte, die Greta Thunberg transportiert und die die Schüler bei ihren Protesten skandieren, dadurch diskreditieren, dass die Medien unkritisch über die Proteste berichten. Dass wir die Umwelt- und Klimapolitik massiv – ja wahrscheinlich sogar radikal – ändern müssen, um späteren Generationen eine lebenswerte Welt zu hinterlassen, sollte doch eigentlich Konsens sein. Ob und wie die Medien darüber berichten, ist doch für die Sachfragen selbst völlig belanglos.
Mit Sachfragen haben die Reaktionen auf Greta und die Schülerproteste in den sogenannten sozialen Netzwerken jedoch ohnehin nichts zu tun. Ich war selbst zutiefst erschrocken, als ich die im Sekundentakt eintrudelnden Zuschauerkommentare zu einer Live-Berichterstattung der Hamburger Schülerproteste von RT Deutsch verfolgt habe. So viel Häme, so viel Hass. Was treibt Menschen an, derart boshaft auf ein paar Schüler zu reagieren, die für eine bessere Klimapolitik auf die Straße gehen?
Sicher – ein Großteil der dumpfen Kommentare kommt aus dem braun-blauen Dunstkreis der AfD. Erschreckend ist jedoch, wie dieser reaktionäre Stammtisch in großen Teilen der (a)sozialen Medien die Deutungshoheit erringen konnte. Gerade kritische Menschen sollten doch eigentlich vor dem vulgären, reaktionären Druck einer dumpfen Menge gefeit sein. Was man auf Facebook beobachten kann, ähnelt in all seiner schauderhaften Faszination nahezu eins zu eins den Massenphänomen, die Elias Canetti 1960 in seinem Buch „Masse und Macht“ analysiert hat. All die Utopien, die in den sozialen Netzwerken ein Instrument zur Befreiung des Menschen aus totalitären Strukturen sehen wollten, sollten hinterfragt werden. Leider ist es momentan wahrscheinlicher, dass Facebook und Co. – wohlgemerkt ohne Steuerung von außen – zu Instrumenten werden, die jede Reform an den wahren Machtstrukturen im Kern unterbinden, da jede kleine Abweichung von der Richtung der Masse von dieser bekämpft wird. Dabei sind die Strukturen und Mechanismen erstaunlicherweise über alle politischen Lager hinweg vergleichbar. Ken Jebsen war so gesehen die Greta der Mahnwachen, die vom politischen Gegner unter der Gürtellinie bekämpft wurde, um die Proteste zu diskreditieren.
Die Friedensbewegung kritisiert die Klimaschützer, weil sie mit ihrem Einsatz für das Klima angeblich von wichtigeren Dingen ablenken wollen. Die sozial Engagierten kritisieren die Friedensbewegung, weil sie mit ihrer Fokussierung auf den Weltfrieden angeblich die soziale Lage im Land verdrängen würde. Woraufhin Klimaschützer und Friedensbewegung die sozial Engagierten ermahnen, dass es in einer kaputten Umwelt ohne Frieden auch keine soziale Gerechtigkeit geben kann. Dass alle diese Themen zusammenhängen und man nicht gegen, sondern zusammen mit den anderen „Interessengruppen“ kämpfen sollte, geht dabei in den täglichen Flame-Wars und Shitstorms offenbar komplett unter. Dabei sind doch nicht „Greta“ oder „Ken Jebsen“ das Problem, sondern ein aus dem Ruder laufendes Wirtschaftssystem, das mittels Umweltzerstörung, Ausbeutung und Kriegen unser aller Zukunft aufs Spiel setzt. Doch diese Lektion scheint nicht kompatibel mit dem virtuellen Stammtisch in den (a)sozialen Netzwerken zu sein. Und so bekämpft man sich lieber selbst und am Ende gibt es ein fettes „Gefällt mir!“ von den Eliten, die sich sicher sein können, dass ihre Position felsenfest ist, solange die kritische Öffentlichkeit sich zerfasert und selbst bekämpft.
Wir sollten doch lieber froh sein, dass unsere Schüler endlich wieder auf die Straße gehen und sich für politische und gesellschaftliche Themen einsetzen. Wäre es denn besser, wenn sie nur noch Fortnite spielen, Bento lesen und mit ihren Smartphones virtuelle Monster in einer virtuellen Realität jagen? Meine erste Demo war 1991 eine Schülerdemonstration gegen den ersten Golfkrieg und ich kann nicht sagen, dass mir das Fernbleiben vom Unterricht nachhaltig geschadet hat. Im Gegenteil – die Teilnahme an der Demonstration hat mein kritisches Bewusstsein gestärkt und mich auch sensibler für andere Missstände gemacht. Gönnen wir der heutigen Schülergeneration doch auch diese Entwicklungsmöglichkeit und freuen uns, dass sie für ihre Interessen auf die Straße gehen. Soll der virtuelle reaktionäre Mob in den Netzwerken doch vor Wut schäumen.
Titelbild: livoeian/shutterstock.com