20 Jahre Währungsunion
Ein Interview mit dem Ökonomen Jörg Bibow über die Gegenwart und Zukunft des Euro. Im Januar ist der Euro 20 Jahre alt geworden. Kurz zuvor im Dezember haben sich die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union (EU) auf einem Euro-Gipfel in Brüssel über die Vertiefung der Währungsunion verständigt. Ferner stehen im Mai Europawahlen an, bei denen EU-kritische Kräfte weiter an Boden gewinnen dürften. Die Eurokrise selbst ist keineswegs gelöst, auch wenn sie gerade etwas aus den Medien verschwunden ist. Der Euro wird also weiter für Gesprächsstoff sorgen. Thomas Trares hat für die NachDenkSeiten den Ökonomen Jörg Bibow[*] zu diesem Thema befragt, der zusammen mit Heiner Flassbeck im vergangenen Jahr das Buch „Das Euro-Desaster“ geschrieben hat.
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Herr Bibow, Sie haben sich in den zurückliegenden Jahren viel mit dem Euro und mit der Krisenpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) beschäftigt. Wie fällt Ihre Bilanz nach 20 Jahren Euro aus? War tatsächlich alles nur ein „Desaster“, wie der Titel Ihres Buches unterstellt?
Ja, für Europa, wenngleich scheinbar nicht für Deutschland, ist es ein Desaster. Die Situation in Europa heute ist gefährlich fragil. Der fehlkonstruierte Euro hat hierzu einen maßgeblichen Beitrag geleistet. In den ersten zehn Jahren hat man interne Divergenzen und Ungleichgewichte nicht wirksam verhindert. Als diese sich dann entluden und Finanzsystem und Wirtschaft in die Krise stürzten, war die Währungsunion auch nicht dafür gewappnet, die Notlage wirksam zu bekämpfen. Vielmehr hat die improvisierte wirtschaftspolitische Reaktion, die von Deutschland erzwungen wurde, den Schaden vielfach noch erheblich verstärkt. So sind die Partner immer weiter auseinandergedriftet. Deutschland ist heute soweit von Frankreich und Italien entfernt, wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Wer ehrlich ist, muss heute eingestehen, dass der Euro nur wenige Gewinner erzeugt hat. Deutschlands „top 1 percent“ stehen da sicher ganz oben an. Aber wer noch? Deutschlands Normalverdiener haben in den letzten 20 Jahren wenig Boden gewonnen, fühlen sich heute nur im Vergleich zu den Verliererländern überlegen; obgleich beständig um ihren Vorteil bangend, weil die Mainstream-Medien solche Ängste instigieren. Dass aber selbst in den Verliererländern der Euro laut Umfragen noch recht populär ist, ist eigentlich erstaunlich.
Wirklich? Wo ist der Euro denn noch populär? Oder meinen Sie damit etwa, dass es selbst in den Krisenländern keine Mehrheit für einen Euro-Austritt gibt?
Ja. Viele Menschen haben schon begriffen, dass Sparpolitik und Lohndumping ihre Wohlfahrt nicht erhöht haben. Sie haben Deutschland als maßgebliche Quelle des Unheils auch häufig richtig identifiziert. Aber viele EU-Bürger selbst in Eurokrisenländern scheinen diese Entwicklungen irgendwie noch vom Euro selbst zu trennen, haben ihn noch nicht aufgegeben. Das ist des Euros Glück. Aber im Grunde sind der Euro und die eben genannten Fehlentwicklungen natürlich ein und dieselbe Packung gewesen.
In Ihrem Buch schreiben Sie, dass die Euro-Währungsunion falsch konstruiert sei insbesondere gegen Krisen sei sie nicht gewappnet. Das größte Manko sehen Sie in der fehlenden Fiskalunion. Deswegen wollen Sie ein Euro-Schatzamt einrichten. Können Sie das einmal näher erläutern?
Auf ein sehr kritisches Manko hatte ich gerade eben bereits hingewiesen: das Versagen, interne Divergenzen und Ungleichgewichte wirksam zu verhindern. Konkret ist hier die Notwendigkeit gleichgewichtiger Wettbewerbspositionen zu nennen. Löhne und Lohnstückkosten müssen sich im Einklang mit dem vereinbarten Inflationsziel entwickeln. Es ist schon verrückt, dass Europa 50 Jahre damit zubrachte, die Gefahr von Währungsabwertungswettläufen einzudämmen, was dann mit dem Euro erreicht wurde, nur um dann durch die Hintertür dieselbe „beggar-thy-neighbour“-Nummer über Lohndumping zu betreiben. Deutschland hat in dieser Sache die Ursprungssünde begangen. In der zweiten Runde hat man die Euro-Partner dann ihre Volkswirtschaften per „interne Abwertung“ gegen die Wand fahren lassen.
Aber das noch größere Manko ist tatsächlich die fehlende Fiskalunion. Die Mainstream-Theorie der optimalen Währungsräume behauptet, dass die Mitglieder einer Währungsunion zwar ihre nationale Geld- und Wechselkurspolitik als wirtschaftspolitische Instrumente verlieren, aber noch auf ihre Fiskalpolitik vertrauen könnten, speziell um „asymmetrische Schocks“ zu bekämpfen. Das sind Schocks, die nicht die Währungsunion insgesamt, sondern nur bestimmte Länder betreffen. Das ist ein fataler Trugschluss, worauf Chartalisten wie Charles Goodhart früh warnend hingewiesen haben. Wer seine Währung aufgibt, macht sich damit auch fiskalpolitisch impotent. Denn die Mitglieder einer Währungsunion emittieren ihre Schuldtitel in einer Fremdwährung. Die nationale Fiskalpolitik hat keine Unterstützung durch die Zentralbank mehr, was sie sehr verwundbar macht.
Und dieses Manko soll nun ein Euro-Schatzamt beheben?
Ja, denn im Umkehrschluss gilt ja auch, dass die gemeinsame Zentralbank, die das gemeinsame Mittel zur Bekämpfung von „symmetrischen Schocks“ in der Währungsunion sein soll, keine Unterstützung durch ein gemeinsames Euro-Schatzamt hat. Hierin liegt die entscheidende Verwundbarkeit des Euro begründet. Hierauf beruhte die Unfähigkeit, die Eurokrise wirksam zu bekämpfen. Und das gilt bis heute. Zumal man sich das völlig hirnrissige und überhaupt nicht praktikable Ziel gesetzt hat, in der Eurozone insgesamt beständig einen strukturell ausgeglichenen Staatshaushalt zu fahren. Das setzt aber dauerhaft hohe Leistungsbilanzüberschüsse voraus. Mit genau dem Modell hat Deutschland die Währungsunion an die Wand gefahren. Und die riesigen Leistungsbilanzüberschüsse der Eurozone sind heute auch global der wichtigste Störfaktor einer ausgeglichenen weltwirtschaftlichen Entwicklung. Aber man lernt in Deutschland nichts dazu, hält die eigenen krassen Ungleichgewichte weiterhin für einen Ausdruck von Tugend.
Der Staat muss im Normalfall Schulden machen, am besten für Zukunftsinvestitionen. Darauf basiert mein Vorschlag eines Euro-Schatzamts. Das soll für die Währungsunion gemeinsame Schulden machen. Daraus werden den Mitgliedsländern gemäß ihrem Anteil am Bruttoinlandsprodukt Mittel für Investitionen zugeteilt. Im Gegenzug hat jeder seinen Anteil am Zinsdienst der gemeinsamen Schuld zu leisten. Dies halte ich für die Minimalfiskalunion, die der Euro braucht, um die Wohlfahrt der Bürger steigern und damit dauerhaft überleben zu können.
In der Politik hat man offenbar erkannt, dass hier Handlungsbedarf besteht. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat schon bei seiner Rede an der Sorbonne im September 2017 ein gemeinsames Eurozonen-Budget und einen Euro-Finanzminister gefordert. Auf dem Euro-Gipfel im Dezember haben die Staats- und Regierungschefs der EU ein Reformpaket gebilligt, das zumindest eine Mini-Variante eines Eurozonen-Budgets beinhaltet. Bundesfinanzminister Olaf Scholz sagte kürzlich: „Wir sind schon ziemlich vorangekommen in Europa. Es ist einiges beschlossen worden, was vor einem Jahr noch undenkbar schien.“ Können Sie dem folgen?
Nein. Herr Scholz schmückt da nur das Euro-Schwein mit Lippenstift, wie der Amerikaner hier sagen würde. Was da beschlossen wurde, ist nur Kosmetik. Die Optimisten behaupten zwar, dass man mit dieser kosmetischen Maßnahme zumindest eine bislang versperrte Tür erstmals aufgestoßen hätte. Nur hat die Bemalung bis auf Weiteres keinerlei Wirksamkeit. Dem Euro gibt das keine wirkliche Unterstützung. Und ich sehe auch überhaupt nicht, dass sich in Deutschland intellektuell irgendetwas bewegt hat. Man träumt weiter von der schwarzen Null. Man hält weiterhin an seinen alten Irrlehren fest und verweigert jede ernsthafte Auseinandersetzung mit Theorie und Faktenlage.
Die ursprünglichen Vorschläge Macrons gingen dagegen in die richtige Richtung, waren meiner Euro-Schatzamtsidee in mancher Hinsicht ähnlich. Aber der Mann hat heute ganz andere Probleme. Auch und besonders, weil Deutschland ihn im Regen hat stehen lassen.
Sie haben sich ja jetzt schon mehrfach kritisch zur deutschen Position geäußert. Auffallend ist ja, dass die Vertreter der Bundesregierung, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel kürzlich beim Weltwirtschaftsforum in Davos, auf der großen Bühne gerne den Multilateralismus beschwören. Wenn es dann aber ums Kleingedruckte geht, steht man gerne auf der Bremse, in der Euro-Debatte etwa bei der Transfer- und Haftungsunion, beim gemeinsame Eurozonen-Budget oder bei der gemeinsamen Einlagensicherung, ohne die es ja keine Bankenunion geben kann. Wie passt all dies zusammen?
Es passt eben nicht zusammen. Es ist wieder nur reiner Opportunismus. Weil es international für Deutschland nicht so gut steht. Man ist im Visier Donald Trumps. Der konzentriert sich zwar zurzeit auf China. Aber Deutschland steht offensichtlich ganz weit oben auf der Abschlussliste. Da versteckt man sich dann gern im Kreis der europäischen Partner. Das lenkt ab und gibt wohl etwas mehr Schutz. Schließlich ist die EU handelspolitisch ein Gigant und die Europäische Kommission hat sich bislang gegenüber Trump recht wacker schlagen können. Deutschland will sich diesen Schutz aber nichts kosten lassen. Die Angst vor der Transfer- und Haftungsunion scheint den Geist lahmzulegen. Deswegen sieht mein Euro-Schatzamtsplan übrigens auch keine Transferunion vor bzw. schließt sie per Design aus. Ohne die gemeinsame Haftung etwa bei der Einlagensicherung geht es aber nicht. Deutschland macht sich hier durch Verweigerung auch selbst nur noch verwundbarer. Deutschland kann sich vor Krisen in der Eurozone nicht abschotten. Solange die Eurozone nicht standhafter für Krisen gemacht wird, bleibt auch die deutsche Krisenwahrscheinlichkeit erhöht.
Zurzeit ist es nur opportun, dass die relativ wackelige Wirtschaftslage in der Eurozone einen schwachen Euro und damit die deutschen Exporte begünstigt. Warum soll man da die Währungsunion und damit den Euro stärken?
Wenn man jetzt mal die Lage allein nur in den drei größten Volkswirtschaften der Eurozone betrachtet; in Frankreich gibt es massive Sozialproteste seitens der „Gelbwesten“, in Italien sind mit der Fünf-Sterne-Bewegung und der Lega Nord gerade zwei im Kern Anti-Euro-Parteien an der Regierung, und in Deutschland stellt man sich auf den Standpunkt: „Mit uns hat das alles nichts zu tun, wir machen ja alles richtig, wie unsere Exporterfolge beweisen“. Kann man in solch einem Umfeld überhaupt noch weitere Fortschritte bei der Euro-Währungsunion erwarten?
Ja, Sie haben Recht. Man muss sich schon um sehr viel Optimismus bemühen, um einen Ausweg aus dieser verfahrenen Situation immer noch für möglich zu erachten. Ich muss dazu alle meine Willenskraft aufbringen. Denn im Prinzip halte ich die Idee einer gemeinsamen europäischen Währung weiterhin für richtig. Diese Währung darf auch Euro heißen. Der Euro muss aber dringend reformiert und besser gemanagt werden. Dazu muss sich in erster Linie Deutschland gewaltig ändern. Deutschland muss vielleicht zu seinem Glück gezwungen werden. Vielleicht wird die nächste Krise das bewegen. Vielleicht aber auch gerade nicht. Die AfD hat jedenfalls andere Pläne für Deutschland und den Euro.
Wie ist Ihre Prognose? Wird es den Euro auch in 20 Jahren noch geben? Und wenn ja, wie wird er aussehen?
Sie wissen doch: volkswirtschaftliche Prognosen sind immer schwierig, besonders, wenn sie die Zukunft betreffen. Der Euro hat 20 Jahre lang überlebt, ohne die an ihn ursprünglich geknüpften Erwartungen auch nur annäherungsweise erfüllt zu haben oder erfüllen zu können. Bislang hat man sich noch immer so irgendwie durchwursteln können. Aber wie lange noch?
Ich halte die Situation in Europa jedenfalls für sehr bedrohlich. Das ist kein stabiles Gleichgewicht. Eine zwanzigjährige Zukunft für ein solches Desaster sehe ich gar nicht. Zumal auch das globale Umfeld, auf das die Eurozone seit der Krise, wie der gigantische Leistungsbilanzüberschuss klar zeigt, noch mehr vertraut hat, deutlich schwieriger geworden ist. Man kann die kritischen Reformen nicht ewig hinauszögern. Die habe ich oben genannt. Werden sie kommen, bevor es zu spät ist? Das kann ich hoffen, aber nicht vorhersagen.
Herr Bibow, vielen Dank für das Gespräch.
[«*] Zur Person: Jörg Bibow ist Professor für Volkswirtschaftslehre am Skidmore College in New York. Seine Forschungsschwerpunkte sind Internationale Finanzen, Geldtheorie und Europäische Integration. Er ist als Forscher mit dem Think Tank Levy Economics Institute assoziiert. Im März 2018 erschien das Buch „Das Euro-Desaster“, das er zusammen mit dem Ökonomen Heiner Flassbeck geschrieben hat.