Dick Cheney: Revolutionär für die Superreichen
Ein bemerkenswerter neuer Film porträtiert den „mächtigsten Vize-Präsidenten aller Zeiten“, Dick Cheney, als den eiskalten Zyniker, der er ist. Die wirkungsvolle und oscarnominierte Produktion „Vice – Der zweite Mann“ führt in die Abgründe der Bush-Ära zurück. Von Tobias Riegel.
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Es ist ein Strudel aus politischer Korruption, militärischer Skrupellosigkeit und persönlichem Machthunger: Man kann die laut einem neuen Hollywood-Film von einer Gruppe um Ex-US-Vizepräsident Dick Cheney verübten Kriegsverbrechen, Rechtsbeugungen und Schmutzkampagnen gar nicht aufzählen, so viele sind es: Dazu gehören unter anderem Angriffskriege, Folter, illegale Überwachung und Finanz-Deregulierungen.
„Vice – Der zweite Mann“ von Adam McKay (ab Donnerstag im Kino) ist ein Film über diese Abgründe – und über Masken: filmische und reale. Zum einen ist die optische Verwandlung des US-Schauspielers Christian Bale in den ehemaligen US-Vize-Präsidenten Cheney atemberaubend. Zum anderen verstand es wohl kaum ein Politiker ähnlich gut, seinen zynischen und zügellosen Charakter hinter der Maske des langweiligen Verwalters zu verstecken wie eben jener Dick Cheney. McKay stellt das Motto eines anonymen Verfassers voran:
„Hütet euch vor dem schweigsamen Mann. Während andere sprechen, beobachtet er. Während andere handeln, plant er. Wenn die anderen ruhen, schlägt er zu.“
Dick Cheney: Angetreten für den internen Putsch
Dieser Rat wurde nicht beherzigt. Darum hat „niemand Cheney kommen sehen“, wie der Film feststellt. Darum konnte sich der eiskalte und begabte Taktiker bei seinem Griff nach der Macht langsam anschleichen – versteckt hinter der politisch willenlosen Handpuppe George W. Bush. So zumindest erzählt es der Film: Cheney nutzte den von ihm verachteten Bush als schwaches Vehikel und ausschließlich, um die Etagen der Macht zu erklimmen. Nach Lesart des Films nahm Cheney den ungeliebten und eher symbolischen Posten des Vizepräsidenten nur an, weil er einen Plan im Kopf hatte: die Entmachtung Bushs hinter den Kulissen und seine eigene Ermächtigung zum Schatten-Präsidenten.
Der unerfahrene und ängstliche Bush hat laut Film dieser Degradierung im Vorfeld zugestimmt. Nach der fragwürdigen und extrem knappen Wahl von 2000 kam es dann umgehend zum regierungs-internen Putsch, wie der Film schildert: Bush wurde von seinen Vertrauten getrennt und von Cheneys Leuten wie Paul Wolfowitz oder Donald Rumsfeld eingekreist.
Wie weit die Kontrolle Bushs durch die Vertrauten Cheneys ging, verdeutlicht der Umgang mit den präsidentiellen E-Mails: Sie wurden laut Film ausnahmslos von den Leuten des Vizepräsidenten mitgelesen. Zudem wurden sie auf privaten Servern gespeichert und nach dem Ende der Regierung millionenfach gelöscht – vor allem solche Mails aus der Zeit der propagandistischen Vorbereitung des Irak-Kriegs. Im Film erscheint die Cheney-Gruppe wie ein entschlossener Mafia-Clan, der unter Führung seines undurchschaubaren Paten nach der Wahl in Windeseile die Schaltstellen der Macht besetzte.
Angriffskriege, Folter, Propaganda – Das Erbe des Dick Cheney
Der von der Öffentlichkeit lange kaum beachtete Vizepräsident zog fortan die Strippen in allen wichtigen Bereichen: Militär, Energie, Bürokratie, Außenpolitik. Bush blieb demnach als kaltgestellter und rein repräsentativer Zaungast zurück. Das war eine wirkungsvolle Taktik, denn die scheinbar trottelige Erscheinung Bushs überdeckte für weniger informierte Menschen lange Zeit den sehr zielgerichteten und korrupten Charakter dieser Regierungsmannschaft.
Der endgültige Griff nach der Macht durch Cheney erfolgte am 11. September 2001: Routiniert setzte er an jenem Tag „Congressional Leadership“ in Kraft und übte in den kritischen Stunden nach dem Anschlag das Präsidentenamt aus. Diese Machtfülle sollte er auch nach Bushs offizieller Rückkehr in die erste Reihe nicht wieder preisgeben: Mit stoischer Beharrlichkeit arbeitete die Cheney-Gruppe fortan beflügelt von den 9/11-Anschlägen an den Kriegen gegen Afghanistan und Irak. Begleitet wurden diese monumentalen Verbrechen von bis dahin unvorstellbaren Medienkampagnen und juristischen Finten, die Folter und Entführung „legalisieren“ sollten.
Ein zynischer Film über eine zynische Ära
Man muss dem Film angesichts seines Themas seine Drastik anrechnen, wenn er etwa immer wieder die heile Welt der Cheneys mit kurzen Schockbildern aus der von Cheney bereiteten Welt der Qual und der bombardierten Wohnviertel kontrastiert. „Vice“ ist ein angemessen zynischer Film über eine zynische Ära – gerade angesichts des braven und enttäuschenden „George W.“ Von Oliver Stone. Adam McKay hatte bereits mit seiner Farce zur Finanzkrise „The Big Short“ (2015) gezeigt, dass er nicht mehr der eher leichtgewichtige Komödien-Regisseur ist, der er einst war.
In Rückblenden schildert McKay den rasanten Aufstieg des Jungen aus mittleren Verhältnissen: In den 70er Jahren tritt der ehemals trinkende Raufbold Cheney als mittlerweile disziplinierter Fußsoldat der Macht an. Schnell entwickelt er sich hinter den Kulissen zu einem der wirkungsvollsten Revolutionäre, den die Superreichen für ihren – wie es der Film ausdrückt – neoliberalen Staatsstreich ins Rennen schicken konnten. In den 80er Jahren zog sich Cheney vorübergehend aus der Politik zurück und stieg beim Energiekonzern „Halliburton“ ein – in „Vice“ wird das mit einem Abspann mitten im Film symbolisiert: Was wäre der Welt erspart geblieben, wäre Cheney Privatier geblieben – diese Sicht spart jedoch aus, dass Firmenchefs mitunter größeren Schaden anrichten als Politiker. Ende der 90er Jahre kam schließlich die Anfrage des unerfahrenen Kandidaten George W. Bush nach Unterstützung – Cheney war als Vize-Präsident wieder da.
Der Film teilt das Publikum
Neben seiner politisch-propagandistischen Treffsicherheit ist der Film auch ein künstlerischer Genuss: vom komprimierten und geschliffenen Drehbuch, über solides Handwerk bei Kamera und Schnitt bis zur üppigen Ausstattung. Amy Adams, Steve Carell und Christian Bale gehören zur ersten Riege des aktuellen Hollywood – vor allem Bale als Cheney liefert eine stoische und detaillierte Darstellung ab, eine Leistung, die weit über die angefressenen Pfunde und die aufwendige (perfekte) Maske hinausgeht. Zudem ist die Drama-Komödien-Mischung mit zahlreichen ungewöhnlichen, teils schrillen Regieeinfällen durchsetzt und darum formal alles andere als gewöhnlich.
Dem Film haften aber die üblichen Defizite eines dann doch auf Unterhaltung ausgelegten Formats an: Zuspitzung und Oberflächlichkeit sind nicht zu leugnen, ein teils belehrender Off-Kommentar erinnert an Michael-Moore-Filme. Auch ist der Film eindeutig tendenziös, was bei der behandelten Figur Cheney aber kaum zu vermeiden ist, und was allemal besser als eine Weißwaschung des Porträtierten ist. Andererseits hat der Film das Zeug, diese Episode der US-Geschichte neu in die Debatte zu bringen. Während das Werk für zahlreiche Oscars nominiert ist, teilt es die Kritiker: Neben Begeisterung löst es bei einigen großen Medien – nachvollziehbar – eher ablehnende Reaktionen aus.
Das System versteckt sich hinter dem Bösewicht
Die Fokussierung auf einen Super-Bösewicht birgt die Gefahr, dass dieser von dem System ablenkt, das ihn hervorbringt. Das ist auch bei Cheney der Fall und der Film leistet (unfreiwillig) seinen Beitrag dazu: Die Konzentration auf das Individuum erweckt den Eindruck, dass dessen Entfernung grundsätzlichen Einfluss (jenseits von politischer Kosmetik) auf das politische US-System haben könnte. Der Werdegang des mutmaßlich gutmeinenden Barack Obama und die Verbrechen, mit denen auch sein Name nun verknüpft ist, haben die engen Grenzen dieses Systems und die (weitgehende) Austauschbarkeit der Individuen aufgezeigt.
Nichtsdestotrotz: Auch Verweise auf „das System“ dürfen nicht zu der Straflosigkeit führen, die bislang für die Täter der Cheney-Bush-Administration gilt. Schließlich hat diese Gruppe mutmaßlich im Dienste von Industrie-Lobbyisten mehrere große Kriege und vorgeschaltete Lügenkampagnen organisiert – aus niederen Beweggründen und mit großer krimineller Energie.
Verdienste und Defizite des „liberalen“ Hollywood
Die pseudolinken „Liberalen“ aus Hollywood mussten bereits viel Häme einstecken – zu Recht: Zum einen ist die Zusammenarbeit zwischen großen Filmproduzenten und dem Pentagon für Kriegspropaganda belegt. Zum anderen haben auch einige Schauspieler ihre Prominenz schon sehr unbedacht für fragwürdige „Freiheitskämpfer“ eingesetzt. Beim Film „Vice“ allerdings haben sich bemühte US-Filmschaffende zusammengetan, um ausnahmsweise aufklärendes „Infotainment” zu produzieren. Das spaltet neben den Kritikern auch das Publikum: Manchen harten Cheney-Kritikern sind die Anteile schwarzen Humors nicht schwarz genug, andere Kinobesucher empfinden die Machart des Films als ähnlich unterkühlt wie Cheney selber, wieder andere empfinden den Film als unfaire Dämonisierung. Dem Film haftet etwas von all diesen Defiziten an – unterm Strich geht er jedoch politisch weiter, als man es von einer Hollywood-Produktion erwarten würde.
Cheney und die Propaganda
„Vice“ streift auch Aspekte, die zum Thema Meinungsmache interessant sind: Laut Film wurde ein immenser Aufwand in Sprach-Forschungen mit „Focus Groups“ (Repräsentanten der „normalen“ Bevölkerung) investiert, etwa um anschließend tausendfach wiederholte Propaganda-Formeln zu finden. Oder um Begriffe umzudeuten: So wurde etwa die ungeliebte Erbschaftssteuer mit medialer Hilfe zur „Todes-Steuer“ und das bedrohliche „Global Warming“ wurde weitgehend vom sanfteren „Climate Change“ verdrängt.
Diese Taktik der umgedeuteten Vokabeln, der Emotionalisierung und anderer Sprachverwirrungen wurde auch in Deutschland angewendet. Wie in den USA war diese Strategie nun lange Jahre sehr erfolgreich, wenn es darum ging, staatliche Leistungen abzuwickeln, Kriege zu verteidigen oder politische Konkurrenten zu dämonisieren. Die Taktik ist auch kein Merkmal der Republikaner, sondern wird ebenso von weiten Teilen der Demokraten genutzt. Auch das wird im Film deutlich: Beide US-Parteien haben sich zur „Kriegspartei“ vereint, sie unterscheiden sich momentan nur noch in Fragen der politischen Kosmetik. Und: „Vice“ beschädigt den aktuellen Medien-Mythos, das politische US-System hätte erst durch Donald Trump seinen gutmeinenden Charakter verloren.
Kontroll-Techniken: Wer „erschafft“ die Realität?
Im Augenblick ist – auch im Zuge einer deutsch-amerikanischen Entfremdung – zumindest bei informierten Menschen eine Sättigung gegenüber den abgenutzten Floskeln von der „Freiheit“, den „Werten“ und der „Individualität“ zu verzeichnen: Teile des Zeitgeists rebellieren gegen echte und vermeintliche US-Propaganda. Dass eine Strategie und ihre Vokabeln (scheinbar) durchschaut und verbraucht sind, bedeutet aber noch längst keine „Entwarnung“, wie das folgende Zitat zeigt. Ausgesprochen wurde es angeblich von einer auch im Film auftauchenden berühmt-berüchtigten Propaganda-Figur: dem republikanischen Spindoktor Karl Rove, der es laut Journalisten während der Bush-Ära sagte. Es zeugt zwar von maßloser Selbstüberschätzung, enthält aber mutmaßlich einen wahren Kern und ist darum bis heute gültig:
“Wir sind jetzt ein Imperium, und wenn wir handeln, erschaffen wir unsere eigene Realität. Und während du diese Realität vernünftigerweise studierst, werden wir wieder handeln und andere neue Realitäten erschaffen, die du auch studieren kannst, und so werden sich die Dinge regeln. Wir sind die Schauspieler der Geschichte…. und ihr alle, ihr alle, werdet nur noch studieren müssen, was wir tun.“