Satire, egal wie scharf und erhellend, bleibt in der Regel wirkungslos. Auch manche NachDenkSeiten-Leser finden, dass selbst ein aufklärerisches Kabarett-Format wie die ANSTALT eher dafür sorgt , ungerechte Verhältnisse zu stabilisieren. Denn statt den Mächtigen ordentlich den Marsch zu blasen, mache der Bürger seinem Ärger nur im Kabarett Luft, wo der angestaute Unmut über politische Missstände sein ungefährliches Ventil finde – am Ende ist dann die Luft raus aus der Gesellschaftskritik. Im Gespräch mit NachDenkSeiten-Herausgeber Albrecht Müller, das nächste Woche auch auf den NachDenkSeiten erscheint, verweist ANSTALTsautor Dietrich Krauß nun auf eine Ausgabe der Sendung, die im Verborgenen weit über den Tag hinaus Wirkung entfaltete.
Im Mai 2017 stellte die ANSTALT die brisante Frage, ob die Behandlung deutscher Leiharbeiter, die unter prekären Bedingungen für wenig Geld arbeiten, gegen EU-Recht verstößt: Im Grundsatz dürfen Leiharbeiter demnach nicht schlechter behandelt werden als normale Arbeitnehmer. Gerne hätte Arbeitsrechtler Professor Wolfgang Däubler überprüfen lassen, ob die deutschen Leiharbeitsgesetze europarechts-konform sind. Allein es fehlten ihm Leiharbeiter, die bereit waren, sich juristisch zu wehren – bis die ANSTALT im Mai 2017 klagewillige Leiharbeiter aufgerufen hatte, sich zu melden. Im Buch von Dietrich Krauß zu fünf Jahre ANSTALT beschreibt Wolfgang Däubler zusammen mit der Industriesoziologin Mag Wompel, was danach passierte: Über 500 Leiharbeiter schrieben dem Arbeitsrechtler und aktuell laufen mehrere Prozesse. Ziel: Ein Urteil vom EUGH und ein Prozess, an dessem Ende womöglich die Deutsche Leiharbeitsgesetzgebung kippt.
Die NACHDENKSEITEN veröffentlichen exklusiv aus dem Buch von Dietrich Krauß: „Die Rache des Mainstream an sich selbst“ den Beitrag von Wolfgang Däubler und Mag Wompel, Die Anstalt und die Folgen: Der Kampf der Leiharbeiter.
Im Mai 2017 widmete sich die Sendung dem medial wenig beachteten Thema der Leiharbeit. Anlass war eine Reform des sogenannten Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes, in die die DGB-Gewerkschaften große Hoffnung gesetzt hatten, weil sie Leiharbeit neu regulieren sollte. Die Leiharbeit, von die die Gewerkschaften noch vor über 15 Jahren in der Schmuddelecke sehen wollten, boomt: Bereits 2015 gab es so viele Zeitarbeiter wie nie zuvor, vom IT-Spezialisten über Lehrer bis zum Gebäudereiniger. Ende 2016 wurde erstmals die eine Million Marke geknackt. Und längst werden Leiharbeiter nicht mehr nur kurzfristig eingesetzt, um Auftragsspitzen abzufangen, sondern verdrängen langfristig immer mehr Stammbeschäftigte. Dabei sind sie nicht nur befristet beschäftigt und weniger abgesichert, sondern auch noch schlechter bezahlt. Daran konnten auch die DGB-Tarifverträge zur Leiharbeit nichts Entscheidendes ändern.
Im Gegenteil: Ohne Tarifverträge hätte bereits ab 1.1.2004 die alte Gewerkschaftslosung gegolten: „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“. So steht es auch im Gesetz. Absurderweise können im Falle der Leiharbeit aber gesetzliche Mindeststandards, wie der im Gesetz verankerte Grundsatz der Gleichbezahlung, durch Tarifverträge nicht wie üblich verbessert, sondern verschlechtert oder wie man „höflich“ sagt „geöffnet“ werden. So wollte es der Gesetzgeber. Und so haben die DGB-Gewerkschaften Tarifverträge unter dem Mindeststandard abgeschlossen – wohl auch aus Angst vor noch schlimmeren Dumpingabschlüssen der sogenannten Christlichen Gewerkschaften. Dabei hätten die „Tarifverträge“ dieser Minigewerkschaften vor den Arbeitsgerichten nach aller Erfahrung keinen Bestand gehabt.
Wie bei allen die Arbeitswelt betreffenden Regelungen – wie zum Beispiel bei der Einführung des sogenannten Mindestlohns – ist der Gesetzgeber gefragt, wenn es den Gewerkschaften nicht gelingt, gravierende Missstände mithilfe der ihnen sonst so heiligen Tarifautonomie zu beseitigen oder wenigstens einzugrenzen. Die Regierungsparteien versprachen keinesfalls viel, nicht etwa die Abschaffung der Multiklassengesellschaft im Betrieb, auch nicht „gleiches Geld für gleiche Arbeit“, sondern lediglich die Begrenzung des „Missbrauchs“ und mehr Mitbestimmung für Betriebsräte.
In der Sendung vom 16. Mai 2017 brachte dann Die Anstalt in satirischer Form das auf den Begriff, was man geahnt und bisweilen schon in der Praxis erfahren hatte: Das Gesetz markiert im wortwörtlichen Sinne einen neuen Tiefpunkt. Wie Arbeitnehmer vom neuen Leiharbeitsgesetz „profitieren“, will Boss Zwetschge alias Max Uthoff seinem Mitarbeiter an einem Modell demonstrieren. Dort stehen Stammbelegschaft und Leiharbeiter, dargestellt durch rote und graue Playmobil-Männchen, einträchtig und symbolisch nebeneinander – auf einer Ebene, denn dank der neuen Regeln würden ja die Leiharbeitnehmer den Stammbeschäftigten praktisch gleichgestellt, vor allem bei der Bezahlung. Doch das Gesetz kennt Ausnahmen. Für alle Leiharbeiter, die weniger als neun Monate im Betrieb sind – und das sind die allermeisten – gibt es nach wie vor keine gleichgestellte Bezahlung im Vergleich zur Stammbelegschaft. Sie werden vorher woandershin verschoben und durch andere Personen ersetzt. Und so öffnet sich im Modell unter den meisten roten Leiharbeitsmännchen eine Falltür: Sie stürzen ab, runter auf den Boden der Tatsachen und bleiben schlecht bezahlte Arbeitnehmer zweiter Klasse.
Doch das ist noch nicht alles: Wer länger als achtzehn Monate im Betrieb ist, sollte eigentlich automatisch in die Stammbelegschaft aufsteigen. Doch die Frist kann durch Tarifvertrag verlängert werden, die IG Metall hat sich für vier Jahre entschieden. Und sie lassen außerdem die Möglichkeit offen, dass der einzelne Leiharbeitnehmer gegen Ende dieser Periode für gut drei Monate bei einem anderen Entleiher untergebracht wird. Wenn er dann an seinen alten Arbeitsplatz zurückkehrt, beginnen die 18 Monate von neuem: Zurück auf null, wie bei „Mensch ärgere dich nicht“.
Das Gesetz wird also auch hier – in diesem Fall durch Tarifverträge – „geöffnet“ und zwar mit Falltüren, nach unten: So fallen selbst die Leiharbeitsmännchen durch den Rost, die bis zu 48 Monate Leiharbeiter sind – also alle. So zeigt sich im Modell am Ende wieder eine fein säuberlich sortierte Zwei-Klassen-Belegschaft: Oben stehen die fest Angestellten und unten liegen die Leiharbeiter. Noch heute – anderthalb Jahre später – erinnern sich Betriebsräte und Arbeitnehmer an diese einprägsame Szene. Zwetschge, der Chef der Firma Däumler, hat die Dinge überzeugend vorexerziert.
Für Kritiker der bisherigen Politik der DGB-Gewerkschaften ist dieses Gesetz eine Luftnummer. Doch dass sich unter den betroffenen Leiharbeitern dagegen Widerstand regen würde, war unwahrscheinlich. „LabourNet Germany“ hat zu jeder Leiharbeits-Tarifrunde Protestkampagnen (mit)organisiert und ist damit bis zuletzt gescheitert: Die Betroffenen sind nicht organisiert und die Stammbelegschaften akzeptieren oft den bestehenden Zustand, weil sie wenn auch vergeblich, hoffen, durch den Puffer “Leiharbeit” im Krisenfall ihre Arbeitsplätze zu sichern. Das weiß auch Zwetschge: Von einer gespaltenen Belegschaft geht keine Gefahr aus. Die Gefahr droht, so gesteht der fiktive Leiharbeitgeber seinem Mitarbeiter von Wagner, nur von einer Seite: Vom Europäischen Gerichtshof. Wenn Leiharbeiter tatsächlich Klage erheben und bis dorthin kommen, könne am Ende gleiche Bezahlung von Leiharbeitern und Stammbeschäftigten (Equal Pay) stehen. Zum Glück kenne niemand der Betroffenen den Rechtsexperten, der sie beraten könne… sagt´s und schon klappt Claus von Wagner unter dem Beifall des Publikums den Aktendeckel hoch, auf dem die e-Mail-Adresse des betreffenden Professors zu lesen war: LabourNet Germany hatte die Internet-Adresse „[email protected]“ als Anlaufstelle für klagewillige Leiharbeiter eingerichtet.
Bis dato hatte es an klagewilligen Leiharbeitern gefehlt. Niemand hatte ihnen einen solchen Tipp gegeben und so war ihnen diese juristische Möglichkeit nicht bekannt. Und die juristischen Experten wiederum hatten keine passenden Fälle zur Verfügung, mit denen man den Weg durch die Instanzen hätte gehen können. Die Anstalt fungierte hier quasi als Kontaktbörse von Leiharbeitern und Arbeitsrechtlern. Und tatsächlich funkte es bei vielen heftig.
Einblick in eine andere Welt
Die Initialzündung: Seit der Sendung sind etwa 600 Mails von Leiharbeitern eingegangen, die sich nicht länger mit ihrer Situation abfinden wollen. In den ersten Tagen waren es besonders viele, doch Anfragen gibt es auch heute noch. Die meisten Zusendungen waren in einem anderen Stil geschrieben, als man ihn als Arbeitsrechtler von Betriebsräten und Arbeitnehmern gewohnt ist. In jeder zweiten Mail war von „Ausbeutung“ und „Sklavenhaltersystem“ die Rede. Man sei von allen verraten und verkauft worden, die Gewerkschaften eingeschlossen. Auch bei anderen Einsendern war die Wut mit Händen zu greifen. Manche schrieben, es ginge ihnen gar nicht so sehr um die schlechtere Vergütung. Vielmehr seien sie im Betrieb „Arbeitnehmer zweiter Klasse“, ihre Arbeit habe den geringsten Wert.
Ersichtlich befindet sich hier rund eine Million Arbeitnehmer in einer Art Außenseiterstellung – zusammen mit ihren Familien ein nicht ganz unerheblicher Teil der Bevölkerung. Allerdings sehen sie für sich keinen „Sprecher“, niemanden, der sich ihre Sache zu eigen macht. Dies gilt auch für die wenigen Gewerkschaftsmitglieder unter den Leiharbeitnehmern, denn welche Gewerkschaft klagt gegen die eigenen Tarife, selbst wenn sie keine Verbesserung, sondern das Gegenteil bewirken?
Dies kann dazu führen, dass diese Gruppe eine am rechten Rand stehende Partei wählt. Das wäre dann für „die da oben“ ein Denkzettel, wobei es die Wählenden nicht kümmern würde, dass gerade diese Partei die Arbeitslosenversicherung privatisieren will und auch sonst viele neoliberale Positionen vertritt. Dennoch: Die Konfrontation mit der Wut in vielen der e-mails war eine wichtige Erfahrung. Es wäre zu wünschen, dass unsere Entscheidungsträger mehr davon mitbekommen würden.
Gegen den Verleiher klagen?
Sehr viele Einsender gingen davon aus, es gebe schon eine Art Sammelklage vor dem Europäischen Gerichtshof, der man sich anschließen könne. Das war leider nicht der Fall und Derartiges ist auch in der Prozessordnung nicht vorgesehen. Der Einzelne muss vielmehr seinen Verleiher verklagen, um Equal Pay zu bekommen. Der juristische Weg dorthin ist im Grunde gar nicht so schrecklich kompliziert: Nach dem Gesetz besteht der Equal-Pay-Grundsatz. Von ihm kann lediglich durch Tarifvertrag abgewichen werden. In der Praxis bedeutet dies: nach unten. Wie weit die Abweichung gehen kann, ist im deutschen Arbeitnehmerüberlassungsgesetz nicht gesagt; es gibt nur eine sogenannte Lohnuntergrenze.
Die EU-Richtlinie zur Leiharbeit sieht für die meisten Leiharbeitsverträge vor, dass zwar grundsätzlich von der Gleichstellung mit Stammarbeitnehmern durch Tarifvertrag abgewichen werden kann. Der „Gesamtschutz“ der Leiharbeitnehmer – und das ist der entscheidende Punkt – muss jedoch derselbe bleiben. Diese Grenze ist auch von deutschen Tarifverträgen zu beachten, denn nationales Recht muss so ausgelegt werden, dass es möglichst nicht im Widerspruch zu EU-Recht steht.
Wie die Größe „Gesamtschutz“ genau zu bestimmen ist, weiß niemand so recht, nur eines ist klar: Die Leiharbeitstarife weichen von dem, was ohne sie gelten würde, ausschließlich zu Lasten der Leiharbeitnehmer ab. Das kann aber auch ein höchst wohlwollender Beobachter – so sollte man denken – nicht mehr als Wahrung des „Gesamtschutzes“ ansehen. Also haben die Tarifverträge – so unsere Argumentation – ihren Ermächtigungsrahmen überschritten und sind deshalb unwirksam. Der einzelne Leiharbeitnehmer kann gleiche Bezahlung wie ein Stammarbeitnehmer verlangen.
Auf den ersten Blick also eine durchaus erfolgversprechende Perspektive. Doch der Weg zu einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs ist weit, und nur wenige Leiharbeiter, die sich gemeldet hatten, sahen sich zu einem solchen Vorgehen in der Lage. So wird die vielversprechend gestartete Kampagne auch zu einem Lehrstück darüber, dass zu einer juristischen Idee auch ein gewisses politisches Bewusstsein der Betroffenen und die Bereitschaft hinzukommen muss, sich persönlich zu exponieren.
Entscheidender Punkt: Ohne Klage gegen den Verleiher geht es nicht. Hier zuckten viele Leiharbeiter zurück und wandten ein: Eine eigene Klage würde kosten und dafür reiche das Geld nicht aus. Wir haben darauf verwiesen, dass ein Kläger ohne ausreichende finanzielle Mittel bei Gericht Prozesskostenhilfe bekommt und dann zunächst nichts bezahlen muss. Notfalls stünde der Spendenfonds zur Verfügung, den das LabourNet Germany mit relativ gutem Erfolg eingerichtet hat. In der Regel erfolgte dann keine Reaktion mehr. Vermutlich waren es auch gar nicht in erster Linie die Kosten, die als Hindernis gesehen wurden. Man hatte die verständliche Angst, den Verleiher vor den Kopf zu stoßen und bei nächster Gelegenheit vor die Türe gesetzt zu werden. Einzelne haben das auch offen zugegeben.
Wer keine Angst mehr haben muss
Deshalb setzten wir vor allem auf Personen, die keine Angst mehr haben müssen. Das sind einmal die Gekündigten: Sie können Kündigungsschutzklage erheben und im Zusammenhang damit Entgeltnachzahlung auf der Grundlage von Equal Pay verlangen. Ebenso ist es bei den Befristeten: Auch sie können nach Auslaufen ihres Vertrages für die Zeit, in der sie vom Verleiher eingesetzt wurden, gleiche Bezahlung wie Stammarbeitnehmer verlangen. Das wären erst mal zwei wichtige Gruppen.
Nach der Statistik ist mehr als die Hälfte aller Leiharbeitnehmer nach drei Monaten wieder „draußen“: Aus dieser Gruppe hatte sich aber nach unserem Eindruck so gut wie niemand auf den Aufruf gemeldet. Recht häufig waren dagegen Anfragen von Leiharbeitnehmern bei Daimler, VW und BMW, die seit Jahren dort arbeiteten und mehr verdienten, als etwa eine Verkäuferin im Supermarkt. Ihr Ziel war typischerweise nicht „Equal Pay“, sondern eine Festanstellung bei „ihrem“ Automobilunternehmen. Hier war unser Klageangebot ohne größere Bedeutung.
Doch es gab noch zwei weitere Gruppen: Keine Angst muss haben, wer sowieso zu einem anderen Verleiher will oder sogar schon einen Arbeitsvertrag mit einem neuen Arbeitgeber in der Tasche hat. Auch solche Fälle gab es. Einzelne schrieben außerdem, es sei ihnen völlig egal, wenn sie vom Verleiher gekündigt würden; sie seien sowieso nur knapp über Hartz IV und ihre Arbeit sei zum Kotzen.
Die Einschaltung von Rechtsanwälten
Den potentiellen Klägern wurde zu einem Prozess geraten, und es wurden Anwälte benannt, die sich für Leiharbeitnehmer engagieren wollten. In jeder größeren Stadt gibt es ja mindestens ein Anwaltsbüro, das ausschließlich Arbeitnehmer vertritt; per E-Mail war die Erlaubnis eingeholt worden, ihnen einen oder mehrere Leiharbeitnehmer schicken zu können. Normalerweise freuen sich Anwälte über neue Mandate, doch hier war das anders: Die meisten Leiharbeitnehmer sind weder Gewerkschaftsmitglieder noch rechtsschutzversichert und können die Mittel für Anwalt und Gericht nicht oder nur unter großen Schwierigkeiten aufbringen – wollen sie doch gerade gegen Niedriglöhne vorgehen. Als Anwalt geht man so das Risiko ein, für „Gottes Lohn“ arbeiten (oder den Spendentopf in Anspruch nehmen) zu müssen. Nach einigen Wochen fragten wir bei den Anwälten nach, wie es denn mit den neuen Mandanten gelaufen sei.
Angst auch bei denen, die keine Angst haben müssen
Nur ungefähr die Hälfte hatte sich tatsächlich gemeldet. Die andere Hälfte war „abgängig“. Wir schrieben diese zweite Hälfte an und fragten, weshalb sie sich nicht an den Anwalt gewandt hätten; „wir waren doch anders verblieben.“ Die meisten haben geantwortet, manche ausweichend („keine Zeit“), manche hatten schlicht Angst. Erinnerlich ist uns ein Informatiker, dem der Job als Leiharbeitnehmer „gestunken“ und der einen ganz normalen Arbeitsvertrag mit einem anderen Arbeitgeber mit Wirkung ab 1. Januar 2018 geschlossen hatte. Warum er nichts unternommen habe, wollten wir wissen, er könne noch einen schönen Batzen Geld bekommen und es außerdem dem Verleiher (den er auch nicht mochte) endlich mal heimzahlen. Antwort: Ja, wir hätten schon recht, aber es könne ja passieren, dass sein neuer Arbeitgeber in wirtschaftliche Schwierigkeiten gerate; dann sei er froh, wenn er wieder bei seinem bisherigen Verleiher unterkomme. Eigentlich hätte er in der oben wiedergegebenen Terminologie sagen müssen: Ich will die Zuneigung des „Sklavenhalters“ nicht verlieren.
Auch Anwälte scheuen Risiken
Bei der „guten“ Hälfte der Mandanten gab es viele inhaltliche Probleme. Will man gleiche Bezahlung verlangen, muss man mindestens eine Vergleichsperson benennen, die dieselbe oder jedenfalls eine ganz ähnliche Arbeit macht. Dies ist manchmal sehr schwierig, weil der Leiharbeitnehmer in der Regel nicht in die „Familie“ des Einsatzbetriebes aufgenommen ist und deshalb nicht über die intensiven Kontakte verfügt, die man braucht, um die genaue Tätigkeit und Gehaltshöhe von Kollegen zu erfahren.
Immer gab es ein anderes Hindernis. In einem Kündigungsschutzfall argumentierte die Anwältin wie folgt: Der Kläger hatte zwar für seine Klage Prozesskostenhilfe bekommen, war also von Anwalts- und Gerichtskosten vorläufig befreit. Wenn er aber nun Equal Pay einklagen würde, könne es passieren, dass er verliere. In der zweiten Instanz würde er dann trotz der Prozesskostenhilfe die Kosten des Gegenanwalts bezahlen müssen. Wir verwiesen auf den Spendentopf und darauf, dass man normalerweise nicht verliere, wenn man Prozesskostenhilfe bekommen habe, doch sie war nicht umzustimmen. Das mit dem Spendenfonds könne man sich überlegen, aber die Überlegungen haben offensichtlich kein positives Ergebnis erbracht.
Eine kleine persönliche Zwischenbemerkung sei erlaubt. Wenn man an den Informatiker und die Anwältin denkt, kann man sich nicht erklären, weshalb wir eigentlich keinen Kaiser mehr haben. War es denn nicht in höchstem Maße riskant, als Philipp Scheidemann vom Balkon des Reichstags aus die Republik ausrief? Das war doch glatter Hochverrat, für den sogar noch die Todesstrafe verhängt werden konnte! Und bestand denn nicht auch die Gefahr, dass ein Kaisertreuer mit dem Ausruf: „Für Gott und Vaterland“ von seiner Schusswaffe Gebrauch machen würde? Nicht ein Prozent solcher Risiken würden die fraglichen Personen eingehen – so ist die „Arbeiterbewegung“ (der sich zumindest die Anwältin verbunden fühlt) auf den Hund gekommen.
Doch noch eine Chance?
Zurück zur sachlichen Arbeit der juristischen Beratung. Schon im Juni 2017 hatten wir ein Papier von circa 15 Seiten entworfen, das wir an die Anwälte schickten und das die Rechtslage mit all ihren Verästelungen wiedergab. Dies war dem schlichten Umstand geschuldet, dass gerade Arbeitnehmeranwälte typischerweise einen Arbeitstag von mindestens zwölf Stunden haben und deshalb verständlicherweise nicht dazu kommen, in Bibliotheken zu gehen oder auch nur Entscheidungen im Detail nachzulesen.
In einem ersten Fall wurde das Geschriebene aufgegriffen und in einen Schriftsatz integriert. Die Gegenseite – ein großer Verleiher – hielt es nicht für nötig, darauf auch nur mit einem einzigen Wort einzugehen. Das Arbeitsgericht Gießen sah das dann anders, meinte allerdings, mit Rücksicht darauf, dass es eine Lohnuntergrenze für Leiharbeitnehmer gebe und dass nach neun Monaten Equal Pay verbindlich werde, sei der „Gesamtschutz“ gewahrt.i Wir empfinden das als willkürliche Minimalisierung einer wichtigen Grenze; dass die neun Monate bis zu Equal Pay durch den Austausch von Leiharbeitern unterlaufen werden können, kam dem Gericht nicht in den Sinn.
Ein unteres Gericht kann insoweit in eigener Machtvollkommenheit entscheiden, wie Begriffe des EU-Rechts auszulegen sind; es muss den Europäischen Gerichtshof nicht einschalten. Anders ist die Situation beim Bundesarbeitsgericht: Tauchen dort offene und ungeklärte Begriffe aus dem Unionsrecht auf, muss der Europäische Gerichtshof um eine verbindliche Interpretation gefragt werden. Andernfalls gäbe es Unionsrecht nach deutscher, nach französischer, nach spanischer Lesart und so weiter. Dies würde die Einheitlichkeit des Europäischen Rechts zerstören. Es wurde deshalb zunächst Berufung zum hessischen Landesarbeitsgericht eingelegt. Sollte dieses beim (ursprünglich auf 16.1.2019 terminierten, seitens des Gerichts mit bisher unbekannten Ersatztermin abgesagten) Berufungstermin die Klage abweisen, würde das Verfahren vor dem Bundesarbeitsgericht weitergehen und dann (endlich!) zu einer Vorlage an den Europäischen Gerichtshof führen. Dann könnte es tatsächlich dazu kommen, wovor sich Zwetschge in der Anstalt fürchtete: Dass Europa Schluss macht mit dem Lohndumping bei der deutschen Leiharbeit.
Ganz ähnlich ist die Situation bei zwei weiteren Verfahren, die beide von einer anderen Anwaltskanzlei betrieben werden. Im einen Fall war das ArbG Karlsruhe, im andern das ArbG Nürnberg zuständig. Beide haben negativ entschieden und im Wesentlichen das übernommen, was das ArbG Gießen geschrieben hatte. Ein derartiger „Vorgang“ (wie die Juristen sagen) ist für den Richter hilfreich und spart viel eigenes Nachdenken, das manche als „gefahrgeneigtes Tun“ betrachten. Die Berufung beim LAG Nürnberg ist anhängig. Das LAG Baden-Württemberg in Mannheim hat am 6.12.2018 die Berufung zwar zurückgewiesen, doch eine Revision vor dem Bundesarbeitsgericht zugelassen!
In einem vierten Fall klagte eine Leiharbeitnehmerin in Aschaffenburg gleichfalls auf Equal Pay und erhielt dafür – anders als die übrigen – gewerkschaftlichen Rechtsschutz. Allerdings urteilte das ArbG in Aschaffenburg in gleicher Weise wie das ArbG Gießen – in der Argumentation bestand so viel Ähnlichkeit, dass das Gießener Urteil vermutlich in Kopie auf dem Richterschreibtisch lag. Dagegen wurde Berufung zum LAG Nürnberg eingelegt und ist nun für den 7.3.2019 terminiert – getragen und finanziert durch ver.di. Die gewerkschaftlichen Rechtsschützer ließen es sich nicht nehmen, die Berufung selbst zu begründen. Normalerweise klagen Gewerkschaften nicht gegen Tarifverträge, die sie selbst mit unterzeichnet haben. Wenn das hier anders ist, lässt dies den Rückschluss zu, dass die gewerkschaftliche Front für die Leiharbeitstarife nicht mehr ganz so undurchlässig ist wie früher.
Offensichtlich hat unser Argument verfangen: Equal Pay vom ersten Tag an war offiziell schon immer eine gewerkschaftliche Forderung. Bisher hat man sie weder durch Verhandlungen über Leiharbeitstarife noch durch Appelle an den Gesetzgeber erreicht. Warum sollte man es nicht auf dem Weg über die Gerichte versuchen? Dass bei einem solchen „Ernst-Nehmen“ gewerkschaftlicher Forderungen auch die handelnden Personen eine wesentliche Rolle spielen, ist naheliegend. Natürlich haben die Rechtsschützer in Aschaffenburg „oben“, d. h. beim Vorstand in Berlin nachgefragt und grünes Licht bekommen. Ob dabei wohl eine Rolle gespielt hat, dass sich der „Große Vorsitzende“ Bsirske in seiner letzten Wahlperiode befindet und deshalb weniger Rücksicht nehmen muss? Das ist eine Frage für das Orakel von Delphi. Jedenfalls können wir bis auf weiteres davon ausgehen, dass ver.di die Klagen zur Durchsetzung von Equal Pay unterstützt. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, aber sie lässt Hoffnung aufkeimen.
Unser Spendentopf umfasst derzeit mehr als 10.000 Euro. Das ist erfreulich, und den Spendern sei auch an dieser Stelle gedankt. In den vier anhängigen Verfahren – mehr sind uns nicht bekannt – gab es bisher keinen Grund, eine finanzielle Unterstützung zu leisten. Das kann sich ändern, wenn ein Verfahren in zweiter Instanz verloren geht, weil man dann der Gegenseite die Kosten erstatten muss. Erst recht gilt dies für Prozesse vor dem Bundesarbeitsgericht.ii Die Erfahrungen mit unserer Kampagne zeigen eines: Zwischen einem „Aufruf“ im Fernsehen und wirklichen Verbesserungen liegt ein langer Weg. Dennoch: Ohne Die Anstalt wäre auch dieser Weg nie beschritten worden, es wäre nichts passiert. Oder um im Bild der Sendung zu bleiben: Von den vielen Playmobilmännchen sind vier aufgestanden und haben sich mit ihrem Schicksal nicht abgefunden. Sie wollen keine Arbeiter zweiter oder dritter Klasse mehr sein. Wir machen weiter – Die Anstalt hoffentlich auch!
Wolfgang Däubler (Jahrgang 1939), Professor i. R. für deutsches und europäisches Arbeitsrecht, Bürgerliches Recht und Wirtschaftsrecht an der Universität Bremen, zahlreiche Bücher insbesondere zum Arbeitsrecht, Beratungseinsätze in Vietnam und China
Mag Wompel (Jahrgang 1960) ist unter anderem Industrie-Soziologin und Begründerin wie redaktionell Verantwortliche des LabourNet Germany