Der Bundespräsident der Arbeitgeber. Abgesang zur sozialen Marktwirtschaft
„Auflagen“, „Regulierungen“, „Bürokratie“, „Tarifverträge“, „immer neue Wohltaten und Geschenke“, „hohe Abgaben“, „hohe Löhne“, „hohe Lohnnebenkosten“, „abschreckendes Steuersystem“: „Deshalb ist die Arbeitslosigkeit über Jahrzehnte immer weiter gestiegen.“ Köhler dekliniert den gesamten Kanon der Miesmacherei der Wirtschaftsverbände durch; seine Lösungsvorschläge hätte auch einer der anwesenden Arbeitgeber aufsagen können, so einseitig und so orthodox wirtschaftsliberal sind seine Vorschläge.
Die Rede von Bundespräsident Horst Köhler vor dem Arbeitgeberforum in Berlin am 15. März 2005 zum Thema „Wirtschaft und Gesellschaft“ ist ein Musterbeispiel dafür, was der Altvater der Ökonomen John Kenneth Galbraith „die Ökonomie des unschuldigen Betrugs“ nennen würde.
Oder ist Köhler doch nicht ganz so unschuldig? Zu seiner Entschuldigung kann man allenfalls anführen, dass er auch vorher nie etwas anderes über Wirtschaft gedacht oder gesagt hat, ob als Abteilungsleiter unter Wirtschaftsminister Graf Lambsdorff, ob als Staatssekretär unter Finanzminister Waigel, ob als „Sherpa“ von Bundeskanzler Kohl auf den Weltwirtschaftsgipfeln oder als Direktor des Internationalen Währungsfonds.
Kein kritisches Wort an die Adresse der Wirtschaft. Das Arbeitgeberforum bedankt sich mit stehenden Ovationen. Der Bundespräsident will offenbar ein neues Grundgesetz: „Eine Ordnung der Freiheit“ deren Regeln lauten: „Privateigentum, Wettbewerb und offene Märkte, freie Preisbildung und ein stabiles Geldwesen, eine Sicherung vor den großen Lebensrisiken für jeden und Haftung aller für ihr Tun und Lassen.“
Nichts von Sozialstaat oder sozialer Gerechtigkeit, nichts von Teilhabe, nichts von Mitbestimmung, nichts von Chancengleichheit, nichts von sozialer Marktwirtschaft und Wohlstand für alle.
Das angebotsorientierte ökonomische Denken ist sein Credo und dem ordnet er alles unter, angefangen vom Grundgesetz, über die parlamentarische Demokratie und natürlich die ganze Gesellschaft. „Demokratie und Marktwirtschaft“ sind für ihn synonym. Über allem steht der Wettbewerb, der „neue globale Wettbewerb um Arbeit und Wohlstand“.
Dieser globale Wettbewerb verlange mehr als die „Agenda 2010“. Wir brauchten einen noch moderneren Sozialstaat und dieser „moderne Sozialstaat“ schütze eben nur noch „vor Not“ und das auch nur so weit, wie das „mit einer nachhaltigen Finanzwirtschaft vereinbar ist.“ Da ist kein Raum mehr für soziale Gerechtigkeit, Förderung der Chancengleichheit, Solidarität und all dem was bisher unter dem Sozialstaat im Sinne des Grundgesetzes verstanden wurde. Das ist schon ein denkwürdiges Verfassungsverständnis unseres Staatsoberhauptes.
Massenarbeitslosigkeit kann für solches ökonomisches Denken „kein konjunkturelles sondern vorwiegend ein strukturelles Problem“ sein und die strukturellen Änderungen haben eben ausschließlich die Verbesserung der Angebotsseite, sprich der Unternehmerseite zum Ziel: Deshalb Privateigentum über alles, Vertragsfreiheit über alles, Wettbewerb und offene Märkte, freie Preisbildung und ein stabiles Geldwesen über alles, über die Meinung der Bürger, über Gewerkschaften, über das Parlament, über die Politik. Deshalb müssen die Gewerkschaften den „Pfad“ der „Lohnzurückhaltung“ fortsetzen, deshalb müssen die „zu hohen Lohnnebenkosten“ gesenkt und deshalb würden die Unternehmen „am wirkungsvollsten“ entlastet, wenn „die Kosten der sozialen Sicherung völlig vom Arbeitsverhältnis“ abgekoppelt würde, so dass die „Menschen ihr Glück nach ihren eigenen Vorstellungen machen“ können. Deshalb weg mit den Tarifverträgen „zu Lasten Dritter“, deshalb mehr „Flexibilität“ durch „betriebliche Beschäftigungsbündnisse“. Deshalb müssen „alle Regelungen für den Arbeitsmarkt , ob gesetzlich oder tariflich, …darauf überprüft werden, ob sie Beschäftigung fördern“ und – damit mit der Tarifautonomie und dem parlamentarische System gleich mit aufgeräumt wird – überlässt man die Überprüfung am besten „unabhängigen Experten“. Selbst für die Forderung nach Erprobung „der aktivierenden Sozialhilfe“ – eine These die auf der Annahme beruht, das es sich für die Arbeitslosen gar nicht lohne zu arbeiten – ist sich der Bundespräsident nicht zu schade.
Ich übertreibe nicht, man kann das alles nachlesen.
Es muss schon einen Heidenspaß machen, vor dem Arbeitgeberforum sämtliche Kernforderungen und Rechte der Gewerkschaften in den Orkus zu verdammen.
Weil die Unternehmen immer noch nicht genug Gewinne machen „brauchen wir eine umfassende Steuerreform“, und im „Vorgriff“ eine „Verbesserung der Unternehmensbesteuerung“, die „Leistung belohnt“.
Und das alles unter der „Vorfahrtsregel für Arbeit“: „Was der Schaffung und Sicherung wettbewerbsfähiger (!) Arbeitsplätze dient, muss getan werden.“ Merken eigentlich die Redenschreiber von Köhler schon gar nicht mehr, in welche Nähe sie sich mit solchen Formeln begeben: So ähnlich hat Hugenberg schon vor über 70 Jahren getönt und dass die Union und die Agenda die Losung ausgegeben haben, „Sozial ist was Arbeit schafft“, entlastet den Bundespräsidenten nicht.
Man könnte angesichts der Lösungsvorschläge diese „Vorfahrtsregel“ auch so übersetzen:
Wir müssen die Sozialhilfen so niedrig setzen, dass die Menschen Arbeit für jeden Lohn annehmen müssen. Wir müssen die Arbeit so niedrig entlohnen, dass sie zwar wettbewerbsfähig wird, aber nicht mehr zum Überleben reicht. Wir müssen alle Arbeitnehmer und Arbeitnehmerschutzrechte dem Gesetzgeber und den Tarifparteien entziehen und ihre Überprüfung „unabhängigen Experten“ überlassen. Wir müssen alle politischen und vor allem die nationalen Rahmenbedingungen für den Markt dem globalen Wettbewerb opfern. Weg mit Gewerkschaften und Politik, weg mit Bürokratie und Auflagen! Freiheit für das Unternehmertum! „In Deutschland gilt es zuweilen als moralisch verdächtig, Gewinn zu machen. Das ist falsch…nur wer Gewinne erwirtschaftet, kann den Fortbestand seines Unternehmens durch Investitionen sichern, seine Mitarbeiter weiterbeschäftigen und zusätzliche Arbeitsplätze schaffen“.
Hätte der Bundespräsident die Unternehmer auf dem Forum aber nicht vielleicht wenigstens mal fragen, können, warum sie zwar explodierende Gewinne erzielen und dennoch keine Arbeitsplätze schaffen, sondern umgekehrt die Gewinne ein Ergebnis des Arbeitsplatzabbaus sind?
Hätte der Bundespräsident die anwesenden Unternehmer nicht wenigstens mal fragen können, wo ihre Investitionen nach dem 60-Milliardensteuergeschenk allein der letzten drei Jahre geblieben sind?
Hätte der Bundespräsident nicht wenigstens andeuten können, dass Gewinne nicht etwa dazu da sind, die Managergehälter ins Unvorstellbare steigen zu lassen?
Hätte zur „Vorfahrtsregel“ für Arbeit nicht auch gehört, ein Steuersystem anzumahnen, dass Betriebsverlagerungen ins Ausland nicht länger steuerlich privilegiert?
Hat der Bundespräsident bei seinem Lamento über unsere „Ordnung im Niedergang“ einfach vergessen, dass wir Exportweltmeister sind? Hat er völlig außer acht gelassen, dass das größte Problem der deutschen Wirtschaft die fehlende Binnennachfrage ist? „Strukturelle Probleme“ hin oder her, kann er an den seit zehn Jahren schwachen Wachstumsraten nicht sehen, dass wir zumindest auch ein konjunkturelles Problem haben?
Hat er völlig vergessen, dass ein Großteil der Schulden der öffentlichen Haushalte und der Probleme bei der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme durch die deutsche Einheit verursacht wurde? (Daran wollte er wohl nicht denken, denn sonst wären im vielleicht noch seine Fehler als damals verantwortlicher Finanzstaatssekretär bei der Finanzierung der Einheit aufgestoßen und vielleicht hätte gar jemand auf seine persönliche Verantwortung an dem von ihm nun als Schreckbild aufgebauten Schuldenstand hingewiesen.)
Übrigens: Dass der Bundespräsident zur Staatsverschuldung auch noch die Summe der Anwartschaften aus den Sozialversicherungen als künftige Last von insgesamt 7,1 Billionen Euro addiert und damit die Menschen in Angst und Schrecken versetzen will, ist schon mehr als ein „unschuldiger Betrug“: Wenigstens das sollte unser Bundes- Oberökonom doch wohl wissen: Die erworbenen Leistungsversprechungen sind keine Schulden. Sie sind in einem einigermaßen intakten System von Sozialversicherungen wie von privaten Versicherungen Ansprüche, die die späteren Leistungsempfänger in der Regel durch Prämien- beziehungsweise Beitragszahlungen erworben haben.
Seit seinem Eintritt in die Bundesregierung im Jahre 1976 kennt Köhler nur ein Rezept und spätestens mit der Kohlregierung wurde sein Rezept in wachsenden Dosen verabreicht und jetzt als Bundespräsident dreht er die Gebetsmühle weiter. Den Misserfolg dieser Rezeptur kann und will er offenbar nicht wahrnehmen. Soviel Realitätsverlust über Wirtschaft und Gesellschaft hat kaum einen früheren Bundespräsidenten ausgezeichnet und so einseitig hat noch kaum einer Partei ergriffen.
Wenn sich der Bundeskanzler gefallen lässt, dass der Bundespräsident so einseitig in die Politik einmischt, kann er auf seine Regierungserklärung am kommenden Donnerstag am besten gleich verzichten und die Präsidialdemokratie für Deutschland ausrufen.
Quelle: Rede des Bundespräsidenten »