Angefeuert durch die US-Regierung veranstaltete die Opposition gestern einen Aufmarsch zum sofortigen Sturz des Präsidenten Nicolás Maduro. Der Oppositionspolitiker Juan Guaidó ernannte sich selbst zum Übergangspräsidenten. Die USA und die rechtsgerichteten Regierungen Süd- und Mittelamerikas erkannten Guaidó bereits an. Frederico Füllgraf berichtet für die NachDenkSeiten von den aktuellen Geschehnissen in Venezuela und zeichnet die Eskalationen der letzten Wochen nach, die zu dieser Zuspitzung führten.
Seit den gewalttätigen Protesten im Juli 2017 ist es der zerstrittenen venezolanischen Opposition in den letzten eineinhalb Jahren nicht gelungen, ihre Basis gegen die Regierung Nicolás Maduro zu mobilisieren. Am 23. Januar gelang ihr der Durchbruch. Hunderttausende von Menschen folgten dem Aufruf des erst am 5. Januar neugewählten Vorstands der oppositionellen Nationalversammlung. Es kam zu einer regelrechten Belagerung der Innenstadt von Caracas sowie zu Demonstrationen in verschiedenen Bundesstaaten. Die Menge protestierte, in den rot-grün-gelben Farben der Nationalflagge oder in weiße T-Shirts gekleidet, gegen das wirtschaftliche Chaos und den Zusammenbruch der staatlichen Sozialversorgung. Ihre zentrale Forderung war jedoch der sofortige Rücktritt des gerade erst vereidigten Präsidenten Nicolás Maduro.
Der hatte zusammen mit der regierenden Partei PSUV bereits Tage zuvor zu einer Gegendemonstration aufgerufen, die sich im Verlauf des Tages vor dem Regierungspalast Miraflores konzentrierte, wo der Präsident eine lange Ansprache hielt, in der er neue Sozialprogramme und den Bruch der diplomatischen Beziehungen zu den USA ankündigte und zur Einheit und Alarmbereitschaft der Streitkräfte aufrief. Den am 23. Januar gefeierten 61. Jahrestag vom Ende der Diktatur General Marcos Pérez Jiménez beanspruchten Regierung und Opposition jede für sich, als exklusive „Erben der Demokratie“.
Zweifellos beging Venezuela das neue Jahr unter Hochspannung.
Chronik der Eskalation im Januar
Am 5. Januar vereidigt die von der Opposition dominierte, vom Obersten Gerichtshof Venezuelas jedoch seit 2016 entmachtete und nicht anerkannte Nationalversammlung (AN) Juan Guaidó zum Parlamentspräsidenten. Guaidó ist Fraktionsvorsitzender der Partei Voluntad Popular des unter Hausarrest stehenden rechtsradikalen Leopoldo López. Während seiner Ansprache bezeichnete der bisher unauffällige 35-jährige Guaidó Präsident Nicolás Maduro als einen „Usurpator“.
Am 10. Januar leistet der mit 68 Prozent der Stimmen im Mai 2018 wiedergewählte Präsident Nicolás Maduro seinen zweiten Amtseid als Regierungschef Venezuelas.
Am 11. Januar beruft die Nationalversammlung eine öffentliche Volksbefragung (Cabildo) im Zentrum von Caracas ein, auf der Guaidó das Militär dazu aufruft, sich der Verfassung anzuschließen und sich selbst als „Übergangspräsident der Republik“ zur Verfügung stellt.
Am 13. Januar wird Guaidó – nach Angaben der Regierung Maduro – in La Guaira in der Nähe von Caracas angeblich von nicht bevollmächtigten Geheimdienst-Agenten „widerrechtlich“ festgenommen und nach wenigen Stunden wieder auf freien Fuß gesetzt. Maduro spricht von einer „inszenierten Medienshow“.
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Am 15. Januar erklärt die gesamte Nationalversammlung Nicolás Maduro zum „Usurpator“ und erklärt Juan Guaidó mit Verweis auf Artikel 233, 333 und 350 der venezolanischen Verfassung zum vorübergehenden „Stellvertreter“. Wieder ruft Guaidó das Militär zur Verfassungstreue auf und bietet als Köder eine Amnestie für Anti-Maduro-Rebellen an.
Als Ergänzungsmaßnahme zur Nominierung Guaidós zum „Übergangspräsidenten“ ernennt die AN auch den oppositionellen Politiker Gustavo Tarre als „Sonderbeauftragten” Venezuelas für die Organisation der amerikanischen Staaten (Spanisch OEA).
In der Nacht zum Montag, den 21.Januar, wird das zum Kunstzentrum umgebaute Haus des verstorbenen Regierungsabgeordneten Robert Serra von Unbekannten in Brand gesetzt. In sozialen Netzwerken hochgeladene Videos zeigen, wie eine Gruppe von Männern den Anschlag mit Molotow-Cocktails verübten und das Zentrum in Schutt und Asche legten. In der gleichen Nacht überfällt ein rebellierendes Kommando der Nationalgarde Venezuelas in San José de Cotiza, nahe Caracas, ein Waffenlager.
Der Aufstand ereignet sich nun wenige Tage nach dem Amnestie-Angebot Juan Guaidós an Soldaten, die die Regierung Maduro nicht anerkennen und „für die Wiederinkraftsetzung der Verfassungsordnung kämpfen“; eine unmissverständliche Aufforderung zum Massenungehorsam des Militärs, der sich US-Vizepräsident Mike Pence mit dem Versprechen anschließt, der Nationalversammlung und Guaidó „fortgesetzte Unterstützung” durch Washington zuzusagen.
Während des Massenaufmarschs der Opposition ruft sich Juan Guaidó nun unter ohrenbetäubender Zustimmung der Demonstranten zum offiziellen „Übergangspräsidenten Venezuelas“ aus und wird binnen weniger Stunden von der Donald-Trump-Administration, der OEA und den konservativen Regierungen der Lima-Gruppe – allen voran das rechtsradikale, brasilianische Bolsonaro-Regime – als offizielle Regierung Venezuelas anerkannt. Die mit den USA verbündete Gruppe hatte bereits am 5.Januar Maduro die Legitimität abgesprochen und die Übertragung der Regierungsbefugnisse an die Nationalversammlung gefordert.
Allerdings verweigerten die neue mexikanische Regierung Andrés Lopez Obrador ebenso wie kleine Staaten der Karibik sowie Russland Guaidó die Anerkennung.
Etwas differenzierter, wenngleich als Warnung an die Regierung Maduro zu verstehen, äußerte sich die Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, Federica Mogherini. In zwei abgesetzten Tweets vermied sie die Anerkennung Guaidós als Präsidenten Venezuelas, appellierte stattdessen an „einen unmittelbaren politischen Prozess… der zu freien und glaubwürdigen Wahlen im Einklang mit der verfassungsmäßigen Ordnung führt”, und forderte „die Beachtung und die volle Respektierung der Bürgerrechte, Freiheit und Sicherheit aller Mitglieder der Nationalversammlung, einschließlich ihres Präsidenten @jguaido…“ ein.
Die Rolle der US-Regierung
2013 konnte Nicolás Maduro sein erstes Präsidentschaftsmandat mit knapp 51 Prozent der Stimmen, bei einer sehr hohen nahezu 80-prozentigen Wahlbeteiligung, erringen. Fünf Jahre später erzielte er bei seiner Wiederwahl im Mai 2018 nach offiziellen Angaben zwar 68 Prozent der Stimmen – die Wahlbeteiligung sackte jedoch auf 46,07 Prozent ab; eine Abnahme von 33,5 Prozent. Der dramatische Einbruch des Wählerinteresses könnte bedeuten, dass eine große Anzahl Venezolaner die Verbindung zum Regime – und auch umgekehrt – verloren haben.
„Wenn also in einem Land, dessen Ökonomie jährlich um 10 Prozent dahinschmilzt, die Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr auf der Seite der Regierung steht, bleibt abzuwarten, wann sie in ihrer Kosten-Nutzen-Berechnung zur Schlussfolgerung kommt, dass es sich lohnt, auf die Straße zu gehen und den Sturz des Regimes zu fordern“, kommentiert Filipe Vasconcelos Romão, Professor an der Autonomen Universität von Lissabon und Gastprofessor an der ORT-Universität Uruguays.
Es gibt jedoch auch klare Belege für eine externe Einmischung in die inneren Angelegenheiten Venezuelas. Dazu kommen die ideologischen Machtverschiebungen in Südamerika. Bis 2015 wurde Maduro von einem relativ umsichtigen politischen Umfeld in Lateinamerika begünstigt, das sich jedoch innerhalb von wenigen Jahren verschob. Das lag an den autoritären Versuchungen Maduros, dem Versagen bei der Bekämpfung der Wirtschaftskrise, aber auch der Wahl konservativer und rechtsextremistischer Regierungen in den Nachbarländern.
Vor allem die Machtverschiebungen in Argentinien, Chile und Brasilien ermutigten die eigentlich niedergeschlagene Opposition zu einer neuen Kraftprobe in der Nationalversammlung und zur herausfordernden Ernennung Juan Guaidós zum „Präsidenten der Republik“. Selbstverständlich war diese Taktik mit einschlägigen Akteuren der US-Szene abgekartet, zu denen der von Exilkubanern abstammende Senator und Trump-Berater Marco Rubio, Ex-CIA-Direktor Mike Pompeo, Vizepräsident Mike Pence und Donald Trump selbst gehören.
Die Anerkennung Guaidós als „offiziellen Präsidenten“ bedeutet eine Abkehr der bisherigen Sanktions- und Drohpolitik, hin zur Eskalierung mit einem Schachmatt-Versuch: die Belagerung Nicolás Maduros. Pompeo forderte den gewählten Präsidenten auf, sein Amt „zugunsten eines legitimen Führers, der den Willen des venezolanischen Volkes widerspiegelt”, niederzulegen. Gleichzeitig rief er die venezolanischen Militär- und Sicherheitskräfte dazu auf, „die Demokratie zu unterstützen und die Bürger zu schützen”. Wenn Maduro und die Bolivarischen Streitkräfte dem nicht folgen, können sie fortan wegen „Zuwiderhandlung gegen den legitimen Führer“ kriminalisiert werden und die USA würden dies als einen Casus Belli werten. Einer militärischen Intervention sind also Tür und Tor geöffnet.
Militär: Meutereien in der Truppe, Loyalität im Oberkommando
Die linksliberale mexikanische Tageszeitung La Jornada sprach mit Sicherheitsexperten über den Zwischenfall der 27 Rebellen der Cotiza-Kaserne. Für die Experten ist die Meuterei ein Beleg für die Unzufriedenheit innerhalb der Streitkräfte, die als zuverlässige Stütze der sozialistischen Regierung gelten. Juan Guaidó spekuliert gar damit, der Aufstand habe deutlich gemacht, dass seine Aufrufe an das Militär, einer Übergangsregierung beizustehen, Resonanz finden.
Obwohl die Streitkräfte wiederholt von sich behaupteten, sie seien vereint, sind nach Angaben der oppositionellen NGO Control Ciudadano im Jahr 2018 etwa 180 Militärs wegen Verschwörung verhaftet worden, rund 10.000 Soldaten hätten seit 2015 ihre Entlassung aus dem Militärdienst beantragt und 2018 seien mehr als 4.000 Mann von der Nationalgarde desertiert; Ziffern, die in den mehr als 300.000 Mann zählenden Verbänden der Streitkräfte allerdings kaum ins Gewicht fallen dürften.
Der von Nicolás Maduro und der PSUV-Führung zusammengeschweißte Chavismus ist nicht monolithisch, sondern setzt sich aus unterschiedlichen Fraktionen zusammen, so auch im Militär. Eine plausible Schlussfolgerung ist, dass, solange die Generäle die Kontrolle über die Truppe besitzen, Maduros Fall kaum zu erwarten ist. Für die entscheidende Frage, in welche Richtung die Streitkräfte sich bewegen, werden die kommenden Tage und Wochen entscheidend sein. Werden sie Maduro weiterhin kritiklos unterstützen oder für von außen gesteuerte Einflüsse empfänglich sein?
Titelbild: ElPitazzoTV