Der unendliche Schlamassel um den Brexit zeigt: Die Möglichkeit des Austritts ist ein Irrsinn
Bis zum Lissabon-Vertrag vom Dezember 2007 gab es die Möglichkeit des Austritts nicht. Damals wurde der § 50 beschlossen, dessen Wortlaut im Anhang wiedergegeben ist. Die jetzige Situation, die unendliche Geschichte der Verhandlungen wie auch die erkennbare Aussichtslosigkeit einer vernünftigen Lösung, zeigt: Jene, die diesen Paragrafen formuliert und beschlossen haben, haben rundum versagt. So kann man Recht nicht setzen. Diese Feststellung wird vermutlich viele Leserinnen und Leser wundern. Albrecht Müller.
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Man kann – wie zum Beispiel auch der britische Oppositionsführer Corbyn – meinen, dass die EU in einem miserablen Zustand ist und deshalb im Austritt aus der EU eine Möglichkeit sehen, sich diesem Elend zu entziehen und/oder Druck auf Reformen bei der Europäischen Union auszuüben. – Die kritische Diagnose der EU ist berechtigt und dennoch ist die Auflösung dieser Staatengemeinschaft oder der Austritt aus ihr keine vernünftige Lösung des Problems. Sehr viel vernünftiger wäre die grundlegende Reform der EU. Das ist leicht gesagt, aber schwer zu realisieren. Das ist mir klar. Aber manchmal hat man im politischen Leben nur die Wahl zwischen zwei ziemlich miesen Alternativen. Im konkreten Fall ist das so.
Warum ist die Möglichkeit des Austritts so kritisch zu betrachten? Zwei von mehreren Gründen:
Erstens ist der Austritt schwierig zu vollziehen. Es müssen unendlich viele rechtliche und faktische Beziehungen gelöst werden. Es muss ein Ausgleich zwischen dem Austretenden und den verbleibenden Staaten gefunden werden. Die aktuelle Praxis zeigt, dass dies ein aufwendiger und fast nicht lösbarer Vorgang ist. Diese Schwierigkeiten folgen nicht nur aus der inneren Verfassung Großbritanniens und seiner Parteien. Auch bei anderen Staaten und Völkern würden ähnliche und fast nicht lösbare Schwierigkeiten auftreten.
Zweitens, und das ist die gravierende Überlegung, beschrieben am Fall Brexit: Millionen Menschen in Großbritannien wie auch in anderen Staaten der EU haben sich in 45 Jahren gemeinsamer Zugehörigkeit zur Europäischen Gemeinschaft auf die enge Verflechtung untereinander eingestellt; sie haben ihre privaten Dispositionen darauf abgestellt, sie haben sich als Partner, als Beschäftigte oder als Unternehmer an dieser engen Verflechtung orientiert. Sie haben möglicherweise ihren Wohnort verlegt oder den Unternehmenssitz. Ein Ausstieg nach so langer Zeit weitgehender Zusammengehörigkeit bringt deshalb Millionen von Menschen in Schwierigkeiten. Im konkreten Fall kommt noch der vorübergehend beruhigte Konflikt zwischen Nordirland und der Republik Irland hinzu. Alle diese Schwierigkeiten stehen in keinem Verhältnis zu dem potentiellen Gewinn eines Ausstiegs. Und dass eine sensationell kleine Mehrheit von 51,89 % der Abstimmenden wie im Falle Großbritanniens so in das Leben von Millionen Menschen eingreifen kann und eingreift, ist irre.
Diesen Irrsinn hätten die Planer des Lissabon-Vertrages vorhersehen müssen und deshalb den § 50 nicht formulieren und beschließen dürfen.
Übrigens: Wer nicht glaubt, dass die Möglichkeit eines Austritts irrsinnig ist, der möge sich vorstellen, es würden noch ein oder zwei oder drei andere Austrittskandidaten dazukommen. Dann würden die EU-Institutionen lahmgelegt, jedenfalls so absorbiert, dass anderes Wichtiges unterbleibt. Und auch die Regierungen der einzelnen Staaten und ihre Parlamente würden unentwegt damit beschäftigt werden. Das ist voller Probleme und absorbiert Kapazitäten, und kostet viel Geld.
Ein paar ergänzende Bemerkungen zur aktuellen Situation:
- Was die jetzt verstärkt ins Spiel gebrachte Verschiebung des Austrittsdatums hinter den vorgesehenen 29. März 2019 bringen soll, ist nur schwer zu begreifen. Es kann ja eigentlich keine neuen Konzessionen der verbleibenden EU-Länder an Großbritannien geben. Die Rosinenpickerei ist nach dem bisherigen Abkommensentwurf schon weit gediehen und kann nicht fortgesetzt werden. Die Gefahr besteht allerdings.
Zum ersten neigen die in der EU vorherrschenden konservativen Parteien dazu, ihre Parteifreunde in Großbritannien nicht hängenzulassen. Zum zweiten wird mit hoher Wahrscheinlichkeit von Seiten der NATO und der Atlantiker Druck auf weitere Opfer der EU-Staaten ausgeübt. Da dieser Einfluss sowohl bei den europäischen Institutionen wie auch bei mehreren Staaten Europas erkennbar groß ist, könnte dieser Druck wirksam werden. Das wäre eine weitere fatale Entwicklung.
- Erhofft man sich von der Fristverlängerung die Rückkehr der Vernunft in die politischen Parteien Großbritanniens, vor allem in die konservative Partei? Hat diese Hoffnung irgendeine reale Basis? Eher nein, es sei denn, es gibt neue Konzessionen. Siehe oben.
- Am Montag will die britische Premierministerin ihren Plan B vorstellen. Wir sind gespannt auf die Fortsetzung des Irrsinns.
Anhang
§ 50 Vertrag über die Europäische Union (EU-Vertrag) unterzeichnet in Lissabon am 13. Dezember 2007, in Kraft getreten am 1. Dezember 2009:
„(1) Jeder Mitgliedstaat kann im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen, aus der Union auszutreten.
(2) Ein Mitgliedstaat, der auszutreten beschließt, teilt dem Europäischen Rat seine Absicht mit. Auf der Grundlage der Leitlinien des Europäischen Rates handelt die Union mit diesem Staat ein Abkommen über die Einzelheiten des Austritts aus und schließt das Abkommen, wobei der Rahmen für die künftigen Beziehungen dieses Staates zur Union berücksichtigt wird. Das Abkommen wird nach Artikel 218 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union ausgehandelt. Es wird vom Rat im Namen der Union geschlossen; der Rat beschließt mit qualifizierter Mehrheit nach Zustimmung des Europäischen Parlaments.
(3) Die Verträge finden auf den betroffenen Staat ab dem Tag des Inkrafttretens des Austrittsabkommens oder andernfalls zwei Jahre nach der in Absatz 2 genannten Mitteilung keine Anwendung mehr, es sei denn, der Europäische Rat beschließt im Einvernehmen mit dem betroffenen Mitgliedstaat einstimmig, diese Frist zu verlängern.
(4) Für die Zwecke der Absätze 2 und 3 nimmt das Mitglied des Europäischen Rates und des Rates, das den austretenden Mitgliedstaat vertritt, weder an den diesen Mitgliedstaat betreffenden Beratungen noch an der entsprechenden Beschlussfassung des Europäischen Rates oder des Rates teil. Die qualifizierte Mehrheit bestimmt sich nach Artikel 238 Absatz 3 Buchstabe b des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union.
(5) Ein Staat, der aus der Union ausgetreten ist und erneut Mitglied werden möchte, muss dies nach dem Verfahren des Artikels 49 beantragen.“